Florian Illies ist ein Freund aus Kindertagen, wir stammen aus derselben osthessischen Kleinstadt. Den Begriff "Generation Golf" hat er zwar nicht erfunden, das war VW selbst. Aber er hat ihn durch sein gleichnamiges Buch berühmt gemacht. Der Bestseller handelt vom Lebensgefühl der Jugend in den 80ern und 90ern. Der Golf hat es entscheidend mitgeprägt. Nun wird er 50, kaum zu glauben. Sind wir nicht erst gestern noch damit in die Disco gefahren?
Video: Vorstellung: VW Golf 8 Facelift
Die Mütter unseres Jahrgangs "golften" alle, jedenfalls gefühlt. Frau Illies hatte einen "Zweier", Typ CL, in Mediumblau-Metallic, dem "Flo", dessen fahrerisches Können sich umgekehrt proportional zu seinem Schreibtalent verhielt, so manche Beule zufügte. Frau K. fuhr Golf; Frau M., die Mutter der hübschen Nicole, tut es noch heute, gerade traf ich sie beim Bäcker. Bei Modellwechseln war sie immer die Erste im Städtchen, die "den neuen" hatte. Petras Mutter brachte ihren irgendwann Ende der 70er mit einer Vollbremsung zum Stehen und riskierte einen Auffahrunfall, nur um meiner mitzuteilen, dass sie soeben das erste graue Haar bei sich entdeckt hatte. Was daran so schlimm war, habe ich bis heute nicht verstanden.
Der Golf: Das Auto der Eltern
Der Golf blieb aber eher das Auto der Eltern. Christians Vater überließ uns seinen goldenen LS, damit wir 1989 nach dem Fall der nahen Grenze eine Spritztour nach Thüringen machen konnten. Als Golf-Fahrer im Freundeskreis ist mir nur Georg in Erinnerung, gegen dessen kolibrigrünen GTI am Pfordter Berg kein Kraut gewachsen war. Keine Ahnung, was mich damals mehr beeindruckt hat: die Angriffslust seiner 112 PS oder der Bass-Boost seiner Kenwood-Soundanlage.
Auch wenn wir selbst lieber betagte Benze Rußsäulen aus ihren Auspuffrohren drücken ließen, räudigen britischen Katzen zu einem achten Leben zu verhelfen suchten oder als ordentliche Hessen hemdsärmelig über den TÜV geschweißte Opel fuhren (Hauptsache, Heckantrieb!): Aus unserer frühen automobilen Sozialisation ist der Golf nicht wegzudenken, der Landstrich zwischen Rhön und Vogelsberg steht da wohl exemplarisch für alle westdeutschen Regionen. Warum, liegt auf der Hand: Der Golf ist von Anfang an der kleinste gemeinsame Nenner – ein Typ, auf den sich alle einigen können, klassenlos und dadurch mit allen Milieus kompatibel. Studenten und Professoren fahren ihn, Arbeiter und Arztfrauen, Dr. Brinkmann in der "Schwarzwaldklinik", Derrick (Folge 62!) und sogar der Papst. Der Wagen, dessen erstes Exemplar am 29. März 1974 in Wolfsburg vom Band rollt, führt seither die deutsche Zulassungsstatistik an, mit nur einer kurzen Unterbrechung durch den 123er-Mercedes 1980.
Braucht der Golf Werbung?
"Braucht dieses Auto eigentlich noch Werbung?" ist somit eine berechtigte, wenn auch in diesem Fall rhetorische Frage, gestellt 1989 von VW selbst in einem Doppelseiten-Inserat. Denn natürlich wird die hohe Popularität des Dauer-Bestsellers auch durch riesige PR-Etats "erkauft", die in den Anfangsjahren an die Düsseldorfer Agentur DDB fließen. Die Kreativen konzipieren originelle Kampagnen, Annoncen von hohem Unterhaltungs- und kaum geringerem Informationswert, in der sich altbundesrepublikanisches Heile-Welt-Flair und die spritzig-farbenfrohe Fröhlichkeit der 70er zu einem Mix verbinden, der heute fast vergessen macht, dass die Stimmung in Wolfsburg damals eher trübe ist.
Vor etwas über 50 Jahren bauen sie am Mittellandkanal noch Käfer, als gäbe es kein Morgen. Die Legende will, dass sogar 1973, kurz vorm Debüt des Nachfolgers, noch ein Drittel des VW-Vorstands Bedenken gegen den wassergekühlten Frontmotor-Nachfolger hegt. Immerhin: Dem neuen Chef in Wolfsburg, Rudolf Leiding, ist es 1971 – viel zu spät – gelungen, die Fesseln der scheinbar ewig währenden Gestrigkeit zu sprengen. Kompaktautos mit praktischer Schrägheck- Karosserie sind 1974 zwar nicht weit verbreitet, aber dennoch schon ein alter Hut. In Frankreich gibt es sie in Form des Simca 1100 bereits seit 1967, bei Glas in Dingolfing als 1004 CL sogar schon ein Jahr länger, allerdings ohne Fortune und heute längst vergessen. Für den Durchbruch in Deutschland sorgt erst der Golf, der eigentlich Blizzard oder Pony heißen sollte.
Ein Italiener in Biedersachsen
Designer Giugiaro, den die VW-Bosse beim Turiner Salon 1969 als Wunschkandidaten für das Styling ihres neuen Hoffnungsträgers ausgeguckt haben, raunt seinen Auftraggebern zu, dass er für Hyundai gerade an einem Coupé namens Pony arbeite.
"Blizzard" ist auch schon vergeben,so heißt nämlich ein Ski aus Österreich. Eher zufällig springt dann schließlich ein Reitpferd in die Bresche: der Hannoveranerhengst "Golf", der dem damaligen VW-Einkäufer Hans-Joachim Zimmermann gehört.
Als Giugiaro 1970 zum "Vorstellungsgespräch" in Wolfsburg erscheint, staunen die braven Biedersachsen angeblich nicht schlecht. Der elegante italienische Signore im Maßanzug belässt es nämlich nicht dabei, mit großer Geste ein paar flotte Federstriche aufs Papier zu zaubern. Stattdessen löchert er die anwesenden Herren mit Fachfragen wie jener nach der Anzahl der vorgesehenen Schweißpunkte am Seitenteil.
Klar, der Käfer-Erbe muss rationell zu produzieren sein, schließlich geht es um Millionen-Stückzahlen. Aber warum so kantig? "Rundliche Karosserieteile konnte man mit damaligen Produktionsmethoden nur herstellen, wenn Zinn verwendet wurde – etwa um die Dächer mit den Seitenwänden zu verbinden oder die Karosserie zu glätten", verriet der heute 85-jährige Designer 2018 in einem Interview. "Doch Zinn wurde verboten, also wurden die Autos eckig." Basta.
Der erste Golf kostet 7.995 Mark
Die Kunden verkraften die kulturschockartige Zäsur vom kugeligen Käfer zum glattflächigen Golf wider Erwarten gut. Sie greifen beherzt zu. Schon 1976 meldet VW die erste Verkaufsmillion, obwohl der Image-Booster GTI, Idee einer konspirativen Feierabendtruppe um Pressechef Anton Konrad, sich da noch gar nicht richtig warmgelaufen hat. Mit 7.995 Mark ist der Golf exakt so teuer wie ein 44-PS-Käfer, nur eben um Lichtjahre moderner. Dennoch ist nicht alles eitel Sonnenschein. Frühe Exemplare, wegen der Zacken im Heckblech "Schwalbenschwänze" genannt, zerfallen im Zeitraffer zu krümeligem Eisenoxid. Das liegt entgegen der gern erzählten Stammtisch-Legende nicht primär an minderwertigem Recyclingblech aus Russland, sondern an unversiegelten Karosseriefalzen. VW reagiert rasch, kauft die Rostlauben buchstäblich von der Straße weg, bessert in der Serie nach und verhindert so den zeitigen Image-Ruin.
Vom langfristigen Lerneffekt profitieren indes erst die Besitzer des 1983 eingeführten Nachfolgers Golf II. Weil Entwicklungschef Ernst Fiala "eine Haltbarkeit, die jeden Kunden überlebt" gefordert hatte, kommt dieser in den Genuss einer sogenannten Flutkonservierung. Noch heute sieht man an vielen Exemplaren das typische Wachs-Rinnsal an der Heckschürze.
Verstehen Sie Auto, Motor und Spaß?
Hieß es in der Werbung anfangs noch: "Auto, Motor und Spaß", versprechen die PR- Texter nun folgerichtig: "Mehr Auto, mehr Motor, mehr Spaß." Die Leistungsskala klettert in der Großserie bis auf 160 PS im GTI G60 mit Spirallader. Allrad kommt hinzu und die drollige, aber erfolglose Geländeversion Country, ab 1985 (zunächst gegen Aufpreis) zudem Katalysatoren. "Mehr" heißt beim Golf II aber vor allem: mehr Vielfalt. Zu C, CL, GL und GLX gesellt sich in den 80ern eine Unzahl von Sondermodellen. Motto: "Nicht jedes Auto, das vom Fließband kommt, ist ein Auto von der Stange."
Mit dem schneeweißen Golf Match greifen die Verkaufsstrategen 1985, im Jahr von Boris Beckers Wimbledon-Sieg, den Tennis-Boom auf. Einen Golf Boris gibt es nie, dafür hat Erzrivale Opel 1988 einen Corsa Steffi (Graf) Special. Anspruchsvolle Käufer lockt ab 1983 der luxuriöse Carat mit Lederlenkrad und Velourspolstern. Mit Golf Memphis, Boston, Pasadena und Manhattan surfen die Niedersachsen auf der Amerika-affinen Zeitgeist-Welle, und beim Fire & Ice darf sich sogar Willy Bogner austoben: Der in changierendem Dark Violett Perleffekt lackierte Golf mit Windrose auf der C-Säule, 15-Zoll-"Estoril"-Rädern, Doppelscheinwerfer-Grill und verbreiterten Radhäusern zählt heute zu den begehrten Sammlerstücken.
Die 80er: Sie sind die Zeit, als das bis jetzt schon über zehn Millionen Mal gebaute Massenauto Golf den Höhepunkt seiner eigenen Individualität zelebriert. Und irgendwann, gegen Ende des Jahrzehnts, hat Florian Illies dann auch das Schlüsselerlebnis, das ihn später zu seinem Buchtitel inspiriert: Er erblickt auf den Straßen unseres Heimatstädtchens ein Golf Cabrio mit Sylt-Aufkleber und Blondine hinterm Steuer. "Diese blonde Frau war die Pionierin der Generation Golf. Ihr dunkelblaues Golf Cabrio wies uns den Weg heraus aus der Tristesse der 80er." Wobei der Golf selbst ja der beste Beweis ist, dass die 80er alles andere als trist waren.
Golf III: Airbags und Ecomatic
Beim Golf wird es in den 90ern jedenfalls braver, auch die Rostanfälligkeit nimmt wieder zu. Dafür gibt es beim "Dreier" erstmals Airbags, einen Kombi-Ableger und einen Sechszylinder in VR-Bauweise, der die Leistung auf 174 PS hievt. Das zarte Pflänzchen "Öko" gedeiht derweil nur zaghaft. Für ein Auto, das dank Schwungnutzautomatik beim Rollen automatisch ausgeht wie der Ecomatic, sind die Kunden 1994 noch nicht reif. Ebenso wenig wie für den schon zu Golf-II-Zeiten erhältlichen batterieelektrischen Citystromer, der es auf 90 Kilometer Reichweite und mit 120 Autos auch kaum auf mehr Verkäufe bringt. Ein Meilenstein sind die neuen Direkteinspritzer-Turbodiesel, die mit strammen Durchzugs- und ultraniedrigen Verbrauchswerten glänzen und sich für viele Jahre als starkes Standbein des VW-Programms etablieren.
Als Florian Illies’ Buch erscheint, ist vom automobilen Namensvorbild bereits seit drei Jahren die vierte Auflage am Markt. Der Golf IV besteht aus verzinkten Blechen, hat zwölf Jahre Garantie gegen Durchrostung, setzt einen neuen Qualitätsmaßstab für die Baureihe. © auto motor und sport
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