Bisher gab es zwischen Auto- und Tech-Konzernen eine rote Linie, die nicht überschritten wurde: das Display des Cockpits. Diese Grenze will Apple mit dem neuen Carplay-System einreißen. Wir zeigen, wie es aussieht und funktioniert.
Es hat keine vier Minuten gedauert und die ganze Auto-Infotainment-Welt stand Kopf. Als Apple am Montag (6.6.2022) bei der hauseigenen Entwicklerkonferenz WWDC22 Emily Clark Schubert anmoderierte, dürfte den meisten Experten klar gewesen sein, was kommt: News zum Thema Apple Carplay. Denn Clark Schubert ist seit über zehn Jahren Teil des "Car Experience Teams" bei Apple und damit einer der größten und weithin unbeachteten Erfolge von Apple in den letzten Jahren: Apple Carplay. Während weder die Smartphones noch die Computer mit dem Apfel-Logo je eine marktdominierende Stellung einnehmen können werden, tut Apples Smartphone-Integration im Auto dies bereits.
Laut Clark Schubert würden 79 Prozent der US-Neuwagenkäufer nur zugreifen, wenn das Fahrzeug auch Apple Carplay unterstützt. In 98 Prozent der Neuwagen wäre die Smartphone-Integration fürs iPhone sogar schon verfügbar.
Nicht mehr nur auf der Mittelkonsole
Neu – und vor allem brisant – war diese Nachricht für die Branche nicht. Viel mehr die Neuerungen von Carplay, die Clark Schubert in ihrem Vortrag vorgestellt und damit sicher geglaubte Grenzen zwischen Auto- und Smartphone-Hersteller dem Erdboden gleichgemacht hatte. Darin untermauerte sie eindrucksvoll, dass sich Apple künftig nicht mehr nur mit den kleinen und großen Bildschirmen in der Mittelkonsole abgeben will. Man habe Größeres vor und will das In-Car-Entertainment neu erfinden, so Clark Schubert damals.
Während sie von den Vorzügen, der Flexibilität und den Individualisierungsmöglichkeiten der Neuauflage von Apple Carplay schwärmte, flogen die ersten Cockpit-Screens ins Bild, die sich Apple überlegt hatte. Denn der Tech-Riese will künftig nicht über das Design von Navi-, Podcast- und Streaming-Apps im Auto entscheiden, sondern das ganze Infotainment übernehmen – und damit jedes Display im Auto. Und das ganz unabhängig davon, ob es sich um mehrere kleine Monitore oder einen großen Bildschirm handelt oder wie diese geformt sind. Die Antriebstechnik des jeweiligen Autos ist ebenfalls egal; die Anzeigen lassen sich darauf anpassen.
Apple und Autobauer definieren Design gemeinsam
Bei der 2024er-Auflage der WWDC zeigte Apple, wie das Ganze final aussehen und welche Funktionalitäten Carplay künftig bieten wird. Wobei der Tech-Gigant betont, dass die Optik stets in enger Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Autohersteller definiert wird. Hier hat Apple umgedacht, denn ursprünglich sah es so aus, dass die für die Markenidentität so entscheidenden Designs der Autohersteller von der fluffig-bunten Apple-Welt überdeckt werden. Eine Konstante gibt es allerdings: Apples Schriftart "SF Family", die jedoch in Größe, Breite, Dicke etc. stufenlos angepasst werden kann. Jede Anzeige ist eine modulare Komponente, die autark funktioniert und in Größe, Positionierung oder Hintergrund-Design anpassbar ist.
Die neue Generation baut auf den aktuellen Carplay-Funktionen auf. Einer ihrer größten Vorteile soll der schnelle Start sein: Das System fährt bereits dann hoch, wenn das iPhone noch gar nicht verbunden ist, was künftig ausschließlich kabellos funktioniert. Das Wichtigste: Indem das neue Carplay-User-Interface auf die jeweiligen Autosysteme zugreift, stellen alle Screens die wichtigen und fahrzeugspezifischen Informationen dar, die bislang dem Autohersteller vorbehalten waren. Etwa Geschwindigkeit, Drehzahl, Tankfüllstand, Kühlwassertemperatur, Laufleistung, Ganganzeige, Assistenzsysteme und allerlei andere Dinge. All das konnte fremde Software bislang nur darstellen, wenn sie an der OBD-2-Buchse lauschte und den CAN-BUS abhörte. Die Apps der Autohersteller lassen sich künftig ebenso über Apple Carplay darstellen.
Hersteller öffnen ihre Systeme – auch Mercedes?
Apple verspricht einen zurückhaltenden und sicheren Umgang mit Daten; diese sollen in vielen Fällen nicht einmal das Auto verlassen. Wie der Tech-Konzern an diese Daten kommen will, ist bisher nicht bekannt. Allerdings sind 14 große Hersteller mit im Boot. Darunter die amerikanischen Marken Ford und Lincoln, die Japaner von Honda und Nissan mit ihren Nobeltöchtern Acura und Infiniti sowie aus Europa Volvo samt Polestar, Jaguar und Land Rover sowie Renault. Laut Apple habe man sich auch mit drei deutschen Premium-Marken verpartnert: Audi, Porsche und Mercedes-Benz.
Gerade die letztgenannten Schwaben sehen aber noch Klärungsbedarf. "Wir werden sehen, was wir mit ihnen machen. Wir werden das diskutieren müssen", sagte Ola Källenius kurz nach der WWDC22-Präsentation im Gespräch mit dem US-Magazin "The Verge". Dem Konzernchef ging es dabei nicht vorrangig, wie man vermuten könnte, um das Thema Datenhoheit, sondern um das Kundenerlebnis. "Wir sind sehr darauf bedacht, ein ganzheitliches Mercedes-Luxuserlebnis zu bieten." Das Ökosystem eines Plattform-Unternehmens, wie Apple Carplay eins ist, könne das nicht leisten. Källenius bezweifelt, dass ein solches System je alle Funktionen eines Fahrzeugs abdecken könnte: "Jeder Autohersteller hat schließlich seine eigene Schnittstelle für all diese verschiedenen Funktionen, bis hin zum Massagesitz oder was auch immer es sein mag." Der Mercedes-Boss betont aber auch die guten Beziehungen zu Apple und deutet an, dass die Stuttgarter ihre Beziehung zu den Kaliforniern ausbauen werden.
Ex-VW-Chef Diess: "Nicht zum Blechbieger degradieren lassen!"
Neben Porsche und Audi nannte Apple auch VW unter den Partnern. Ex-Volkswagen-Chef Diess hatte den Plänen von Apple damals aber eine recht eindeutige Absage erteilt. Man wolle sich nicht zum Blechbieger degradieren lassen, erklärte er auf einer Betriebsversammlung. Für VW gebe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Software-Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, oder sich von Apple und Google die Kunden abnehmen zu lassen. "Das dürfen wir aber nicht zulassen!", so Diess damals vor versammelter Mannschaft. "Alle gleich, alle Apple, alle Kundendaten gehen an Apple, wenn wir es nicht packen", versuchte er die Mitarbeiter zu motivieren. "Ich will nicht 'Hey Siri' sagen, um eine Info in meinem Volkswagen zu erhalten. Wir müssen die Kundenhoheit erhalten", so Diess weiter.
Nach dem Ausscheiden von Diess als Konzernchef bei Volkswagen scheint sich das Blatt zwischen dem VW-Konzern und Apple aber gewendet zu haben. Denn schon Mitte 2023 verkündete Konzern-Tochter Porsche, Apple künftig tiefer ins Fahrzeug blicken zu lassen. Komfortfunktionen wie Klima- und Heizungssteuerung sollen via Apple Carplay gesteuert werden können. Aston Martin hat ebenfalls bereits bekannt gegeben, die Displays seiner Autos künftig von Apple bespielen zu lassen.
Apple will Komfortfunktionen steuern
Künftig auch im Instrumenten-Display eines Autos präsent zu sein, bleibt aber nicht die einzige Neuerung bei Apple Carplay. Es sollen auch Widgets eingeführt werden, mit denen sich die unterschiedlich großen Display-Formate in den Fahrzeugen ideal mit den gewünschten Infotainment-Inhalten füllen lassen. Diese Screens reichen von den ganz großen und futuristischen, die von A-Säule zu A-Säule reichen, bis zu den großen und kleinen, teils zweigeteilten Displays wie dem Mercedes Hyperscreen oder den Display-Bedieneinheiten, wie sie etwa im Audi A8 zu finden sind.
Das ist besonders wichtig, denn Apple will es bei der reinen Anzeige von Fahrzeugfunktionen und -informationen nicht belassen. Stattdessen soll Apple Carplay – und damit auch das verbundene Smartphone – ebenfalls deren Steuerung übernehmen. Eines der Beispiele, das Clark Schubert 2022 anführte, war die Klimaanlage. Wer sich genauer mit der Idee befasst, merkt schnell, dass Apple mittelfristig alle Funktionen kapern wollen wird, die nicht sicherheitsrelevant sind und deshalb heute schon beispielsweise per Sprachsteuerung der Autohersteller kommandiert werden können. Das könnte etwa die von Källenius angeführten Massagesitze, aber auch die Ambientebeleuchtung oder die Lautstärke der Soundanlage betreffen.
Widgets sorgen für Anpassungsfähigkeit
Möglich machen soll die Individualisierung der Anzeigen die Einführung von weiteren sogenannten Widgets, wie sie iPhone-Nutzer schon von ihrem Smartphone kennen. Seit dem iOS-14-Update, das im September 2020 vorgestellt wurde, können einzelne Apps Vorschau-Ansichten oder abgespeckte App-Inhalte auf dem Startbildschirm des Smartphones anzeigen, ohne dass die App dafür geöffnet werden muss. Eine Funktion, die Android-Smartphone-Nutzern übrigens schon deutlich länger zur Verfügung steht.
Schon in einem der letzten größeren Apple-Carplay-Updates, das 2019 zusammen mit dem Smartphone-Betriebssystem iOS13 ausgerollt wurde, zeichneten sich mit der Einführung der Dashbord-Ansicht erste Tendenzen zum Thema Widgets ab. Schon damals wurden bei Apple Carplay nicht mehr nur die App-Icons auf den Autobildschirmen angezeigt, sondern es konnten auch Navi-, Mediaplayer- und Kalender-Inhalte parallel dargestellt und teilweise direkt bedient werden. Neue Widgets, die Clark Schubert präsentierte, waren unter anderem Wetter-Ansichten, erweiterte Kalenderfunktionen, eine Smarthome-Steuerung oder etwa die Anzeige von mehreren Zeitzonen. Dabei sollen sich all diese Inhalte frei auf den Screens positionieren lassen.
Porsche nutzt auch Android
Der genaue Start des neuen Apple Carplay ist noch nicht bekannt. Aston Martin gab aber bekannt, dass die neuste Infotainment-Generation, die beispielsweise mit dem DB12 Coupé und dem DB12 Volante an den Start geht, kompatibel ist. Von Porsche aus gibt es noch weniger Informationen zum Thema Timing. Anders als zuvor spekuliert nutzt der neue elektrische Macan das System noch nicht. Dessen Infotainment basiert ausgerechnet auf Android Automotive OS und damit auf der Technik des großen Apple-Konkurrenten Google beziehungsweise von dessen Mutterkonzern Alphabet. © auto motor und sport
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