Kennen Sie Kitcars? Ja genau, die Kisten, die auf Ferrari F40 und Lamborghini Countach machen, unter der exotischen GfK-Haut aber die Unterwäsche eines Pontiac Fiero oder Toyota MR2 tragen. Der weltgrößte Hersteller von Elektroautos baut nun ebenfalls so etwas, zumindest etwas Ähnliches. Denn mit dem BYD Seal launchte man im vergangenen Jahr eine durchaus innovative Elektrolimousine mit 800-Volt-Technik, strukturell tragendem Batteriepaket (Cell-to-Chassis) und großer Reichweite. Will man aber Stückzahlen in Europa verkaufen, braucht es, na klar, ein SUV.
Auftritt BYD Seal U (U für Utility), ein 4,79 Meter SUV, der ganz im Kitcar-Stil nicht das ist, was es vorgibt zu sein. Denn unter der Haut im BYD-typischen Look, steckt eine Mischplattform, die auch andere Antriebe beherbergen kann, und eben nicht die Technik des Seal. Dementsprechend ist der Akku kein strukturell tragendes Teil des Chassis und die Betriebsspannung liegt je nach Batterievariante bei maximal 422 oder 512 Volt, je nachdem wie viele der großen Einzelzellen der Blade-Batterie mit Lithium-Eisenphosphat-Kathode in Reihe geschaltet werden. Der Motor liegt an der Vorder- statt der Hinterachse. Allradantrieb ist derzeit nicht vorgesehen.
Geräumige aber wenig clevere Karosserie
Innen empfängt eine etwas eigenständigere Fahrgastzelle, als man ob des geteilten Namens erwarten würde. Zunächst mal gefällt die saubere Machart mit präzise vernähtem, weichen Kunstleder und den vielen unterschäumten Kunststoff-Oberflächen im laut BYD vollständig verganem Cockpit. Einzig an der Armlehne zeigt der Testwagen eine seltsame Lederverfärbung an der Kante. Die Integralsitze sind nicht sonderlich seitenhaltstark, aber bequem gepolstert, könnten aber eine höhere Kopfstütze vertragen. Größeren Fahrern drückt die Kopfstütze spürbar in den Nacken. Wie in allen BYD lässt sich der 15,6 Zoll oder 12,8 Zoll große Monitor – die Größe hängt von der Ausstattungslinie ab – auf Knopfdruck drehen. Was das bringt? Gute Frage, nächste Frage. Zum Beispiel, warum das System bisher noch keine Shortcuts hatte? Hat es nun aber, was ab und zu die verworrenen Wege ins Fahrzeugmenü spart. Nervige Assistenzfunktionen lassen sich aber weiterhin nur im Menü deaktivieren. Ansonsten gefällt das sehr schnell reagierende System mit einer halbwegs verständlichen Menüführung, mit guter Auflösung, einer brauchbaren Sprachsteuerung und gerne gesehenen Apps wie Spotify. Apple CarPlay und Android Auto laufen kabellos. Besonders kreativ ist das System nicht, bietet in etwa keine Spaßfunktionen oder Spiele wie in einem Tesla.
Viel mehr wünscht man sich Feinschliff. Etwa für das Navigationssystem, das bei jedem Fahrzeugneustart die davor eingestellte Route vergisst, und welches wie bei fast allen chinesischen Autos keine Laderoutenplanung beherrscht, sondern bestenfalls eine lose Auswahl von Ladestationen in der Nähe anzeigt und diese in mehrere Leistungskategorien unterteilt, wobei alles über 50 kW nach BYD-Standard einer "Super-Schnellladung" entspricht. Ein paar Funktionen lagern immerhin noch auf physischen Tasten, was die Bedienung etwas weniger ablenkungsintensiv macht. Hinter dem Lenkrad blickt man auf ein digitales Tachodisplay, das sich wie auch das Zentraldisplay individualisieren lässt. Nur wirklich übersichtlich ist es mit seinen verschieden großen Schriften nicht. Alternativ projiziert der Seal U seine Geschwindigkeit aber auch via Head-up-Display in die Frontscheibe. Nur gegen den leicht plastikartigen Geruch im Innenraum kann auch das Filtersystem, das Partikel bis zu einer Größe von 2,5 Mikrometern filtern soll, nichts ausrichten. Eine Reihe weiter hinten bleibt viel Luft an Knien und Kopf trotz serienmäßigem Glasdach. Die Rückbank bietet viel Sitzkomfort oder zusätzlichen Platz, denn umgeklappt wächst das Kofferraumvolumen von 552 auf 1.440 Liter. Klingt erstmal viel, könnte angesichts der stattlichen Abmessungen des Seal U aber noch etwas mehr sein. Zwar bildet die Rückbank einen ebenen Ladeboden, aber es fehlt an praktischen Lösungen im Kofferraum. Netze, Zusatzfächer, ein 12-Volt-Anschluss? Fehlanzeige. Immerhin nimmt ein kleines Unterflurfach die Kabel auf, denn trotz der sehr flach bauenden Antriebseinheit unter der Fronthaube, wurde der üppige Freiraum darüber nicht für einen Frunk genutzt. Dafür gibt es eine Anhängerkupplung, an die bis zu 1300 Kilogramm angedockt werden dürfen.
Ozean-Ästhetik passend zum Fahrgefühl
Gestartet wird der Seal U traditionell über einen verglasten Startknopf in der Mittelkonsole. Drückt man den gläsernen Wählhebel in Richtung D geht’s auch schon… los? Ah jetzt, der Seal U nimmt Fahrbefehle sehr verzögert an, was etwas Gewöhnung braucht. Je nachdem ob die 71,8 oder der 87 KWh-Batterie verbaut ist, wiegt der frontgetriebene SUV 2020 bzw. 2.147 kg. Und schon auf den ersten Metern merkt man, dass der von BYD angekündigte Komfortfokus des Wagens kein leeres Versprechen ist. Zart spricht die Federung auf Bodenwellen und Gullideckel an, Fahrwerks- und Windgeräusche dämmt er gut weg. Doch sobald die erste gröbere Unebenheit oder etwas höheres Tempo ins Spiel kommt, sucht BYD nicht nur mit der sogenannten "Ocean-Aesthetics"-Designlinie den Bezug zum Nautischen. Dann schwappt der große SUV, geführt von seiner ziemlich unpräzisen, gefühllosen Lenkung, von Kurve zu Kurve, von Welle zu Welle und braucht immer ein paar Sekunden, um sich auszuschaukeln.
Komfortabel? Nicht so wirklich. Immerhin bleiben Passagiere von zusätzlicher, unermesslicher Beschleunigungswucht verschont. Beide Varianten verfügen über den gleichen Permanentmagnet-Synchronmotor und leisten 160 kW, nach alter Währung 218 PS. Das reicht für 9,3 bis 9,6 Sekunden für den Standardsprint – für ein ausgewiesenes Familienauto völlig ausreichend. Nicht ganz ausreichend ist jedoch die Traktion, die sich mit den 310 bzw. 330 Newtonmetern am Kurvenausgang schon auf trockener Straße zum Teil schwertut. Nicht selten pfeift das kurveninnere Vorderrad. Auch das liegt am stark verzögerten Ansprechverhalten, das die Dosierung des Drehmoments erschwert. Die Rekuperation fällt eher schwach aus und lässt sich nur in zwei Stufen verstellen. Eine Option auf One-Pedal-Drive besteht nicht. Möchte man das Gepiepe von Tempolimitwarner und Spurhalteassistenz deaktivieren, muss man etwas im Fahrzeugmenü wühlen, Gewohnheit hilft. Aber auch ohne Warntöne rupft die Spurhalteassistenz zwar später als bei früheren Modellen, aber immer noch mit der gleichen unangenehmen Ruppigkeit in der Lenkung herum. Ergo braucht es bei einer Fehlauslösung, etwa in einer Baustelle, eine feste Hand am Steuer. Ebenfalls merkwürdig: bei aktiviertem Antrieb, brummt die Wärmepumpe im Motorraum wie ein kleiner Rasenmäher.
Zeitintensive Langstrecken
Dafür sollte der Seal U gemäß dem Mantra der überlegenen chinesischen Batterietechnologie zumindest in den Themen Reichweite und Laden abliefern. Nicht ganz: Zwar setzt BYD bei allen Modellen auf LFP-Batterien und verbaut die großen Zellen platzsparend hintereinander, nur weder beim Platzangebot noch auf der Straße kommt davon allzu viel an. Nach WLTP sind mit der 71,8-kWh-Batterie 420 und mit der 87 kWh-Batterie 500 Kilometer drin. Nicht schlecht, die Segmentkonkurrenz namens Tesla Model Y oder VW ID.4 holt aus weniger Batteriekapazität jedoch 533 bis 550 Kilometer Reichweite. Die Verbräuche nach WLTP liegen mit 19,9 bzw. 20,5 kWh für die beiden Versionen tendenziell hoch. Ob sich der Reichweitenvorteil von Tesla und VW in der Realität bestätigt, wird der erste Test des Seal U zeigen. Wie sparsam er auf der Straße ist, lässt sich auch nicht so leicht ermitteln, schließlich gibt es keinen richtigen, zurücksetzbaren Bordcomputer, sondern nur kumulierte Verbräuche über die letzten 50 Kilometer oder einen Gesamtverbrauch. Eine zurücksetzbare Grafik im Fahrzeugmenü verspricht in etwa 18 bis 19 Kilowattstunden je 100 Kilometer auf der Fahrt durchs enge portugiesische Hinterland.
Generell ist man als Elektromobilist informationsseitig im Blindflug unterwegs. Neben der fehlenden Laderoutenplanung zeigt der Seal U keinen projizierten State of Charge für die Ankunft an und weist seine Reichweite im Tachodisplay nur mit WLTP-Kilometern aus, die mit der Realität ja bekanntlich nur wenig zu tun haben. Ebenfalls wenig hilfreich ist der mäßige cw-Wert von 0,32 (VW ID.4: 0,28; Tesla Model Y: 0,23), der die Reichweite auf der Autobahn einschränken dürfte. Immerhin gibt es eine Wärmepumpe serienmäßig, die jedoch auch nicht über die mäßige Ladegeschwindigkeit hinwegtröstet. Mit maximal 115 kW bei der kleinen und 140 kW bei der großen Batterie liegen die maximalen Ladeleistungen nicht übermäßig hoch. Die Ladezeit von 10 bis 80 Prozent beträgt laut BYD 42, respektive 43 Minuten für die große Batterie. An Wallboxen und AC-Säulen wird dreiphasig mit 11 kW geladen, kleinere Geräte kann der Seal U mit einer Vehicle-to-Load-Funktion selbstständig betreiben.
Nicht so gut, aber günstig?
Zwar liefert der BYD keine technischen oder fahrdynamischen Highlights, trotzdem muss man mit ihm rechnen. Warum? Mit 41.990 Euro für die Variante Comfort mit 71,8-kWh-Batterie bietet er seine 4,79 Meter zum Kampfpreis an. Die Serienausstattung ist umfangreich: Vollständige Fahrassistenz, Teillederausstattung, Glasdach, Wärmepumpe, 19-Zoll-Alus, das komplette Infotainment, Elektrisch verstellbare, heizbare und belüftete Sitze und eine 360-Grad-Kamera sind bereits an Bord. Die Linie Design kommt mit größerer 87-kWh-Batterie und bietet für 44.990 Euro noch zusätzlich einen Regensensor, den Luftreiniger, einen größeren Touchscreen, ein Infinity-Soundsystem, Head-up-Display und zwei induktive Ladeschalen. Zudem bietet der chinesische Hersteller sechs Jahre oder 150.000 Kilometer Garantie, auf die Batterie sogar acht Jahre und 200.000 Kilometer, jedoch nur bis zu einem Rest-SOC von 70 Prozent. Interessant: Auch wenn sich BYD zunächst als reiner E-Hersteller in Deutschland positionieren wollte, bringen die Chinesen den Seal U noch 2024 als Plug-in-Hybrid-Variante. © auto motor und sport
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