Seit 2012 analysiert das Forschungsinstitut CAM den Innovationsfaktor von Automobilherstellern, schwerpunktmäßig mit Blick auf den Bereich der Elektromobilität. Einem jährlichen Bericht lassen sich mittlerweile entsprechend Langzeittrends ebenso wie kurzfristige Entwicklungen ablesen. Den Report für das vergangene Jahr 2023 hat zunächst das Handelsblatt aufgegriffen und ein düsteres Bild für die deutschen Marken gezeichnet. Von einem bröckelnden guten Ruf ist da die Rede. Von China-Dominanz und davon, dass die Wende zur E-Mobilität einen Schlussstrich unter die Königsdisziplin deutscher Ingenieurskunst zieht.

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Die Zahlen, die der Studie als Beleg für die schwächelnde Innovationskraft von Mercedes, VW und Co. entnommen werden, sprechen zunächst eine eindeutige Sprache. Mit einem Indexwert-Zuwachs von 51,8 macht Geely 2023 den mit Abstand größten Sprung auf der Innovationsskala. Der zweite Platz geht ebenfalls nach China, und zwar an SAIC mit einem Plus von 35,4 Punkten. 45 Prozent aller betrachteten Serieninnovationen, so zitiert das Handelsblatt die CAM-Studie weiter, entfallen auf das Reich der Mitte. Deutschland bringt es dagegen gerade mal auf einen Anteil von 20 Prozent. Als Positivbeispiele nennt die Studie Fahrzeuge wie den Zeekr 009 mit seiner neuen CATL-Batterie (Qilin 3.0) und einer Reichweite von bis zu 822 Kilometer. Es zeige sich eine hohe Korrelation zwischen innovationsstarken Elektroautobauern und globaler Absatzentwicklung, denn unter den sechs Marken mit der größten ermittelten Innovationsleistung befänden sich gleichzeitig die fünf absatzstärksten BEV-Anbieter. Neben den genannten Konzernen Geely und SAIC sind das BYD auf Platz 2, Tesla auf Platz 1 und die Volkswagengruppe auf Platz 3.

Schwammige Wertungskategorien

Studien lassen sich gemeinhin aber auf vielfältige Art und Weise auslegen. Man könnte ebenso in den Vordergrund stellen, dass unter den Top 3 sowohl der absatzstärksten als auch der laut CAM-Studie innovationsstärksten Hersteller jeweils nur ein chinesischer Konzern vertreten ist. Nach Dominanz klingt das schon weniger. Spannender ist es allerdings, auf die Methodik der Ergebnisgewinnung zu blicken. Denn was ist überhaupt eine "Innovation"? Das CAM-Institut versteht darunter zur Serienreife gebrachte Produkte, Technologien und Neuerungen, die Einfluss auf Reichweite, Verbrauch, Ladeleistung und/oder "Verbesserung des Kundennutzens" haben.

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Zumindest letzteres dürfte sich nur schwer verallgemeinern lassen. Ein Beispiel: Sicherlich sind digitale Kamera-Außenspiegel, die ihr Bild auf Displays in den Türtafeln übertragen, eine Innovation. Aber verbessert sie den Kundennutzen verglichen mit einem herkömmlichen Spiegel wirklich nachhaltig? Da werden Sie viele Zweifler finden. Der Punkt ist, dass die Studie eine Innovation um ihrer selbst willen in die Bewertung einfließen lässt, nicht aber die Güte der fraglichen Innovation selbst gewichtet. Europäische, besonders deutsche Hersteller geraten durch ihre längeren Entwicklungszyklen schnell ins Hintertreffen.

Ein weiterer Effekt, der auf dem Papier deutliche Auswirkungen zeigt, ist die Tatsache, dass Vor- und Kleinserien, sowie Prototypen durch die Klammer der Serienreife in den CAM-Erhebungen ausgeschlossen werden. Wenn Mercedes also mit dem EQXX einen Weltrekord dank neuartiger Zellchemie mit Silizium-Anode, speziell entwickelten Reifen und ausgefeilter Aerodynamik einfährt, hat das keine Auswirkung auf den von CAM ermittelten Innovationsfaktor. Der GAC Aion Hyper SSR erhält dagegen Punkte für die mit 504 Kilometer zweithöchste Reichweite im Elektro-Sportwagensegment. Apropos: Der Publikation ist nicht zu entnehmen, inwiefern Verbräuche und Reichweiten aus unterschiedlichen Messzyklen miteinander verglichen werden. Sowohl WLTP- als auch EPA- und CLTC-Werte sind im Papier genannt. Eine einheitliche Betrachtung spielt für das Studien-Ergebnis aber deshalb eine Rolle, weil für globale Bestwerte ebenso wie für Segment-Bestwerte mehr Indexpunkte vergeben werden. Wohl dem, dessen Fahrzeug im großzügigsten Messzyklus seinen offiziellen Verbrauchswert ablegen darf.

In unserer Fotoshow oben im Artikel finden Sie indes alle europäischen Autos, deren technische Wurzeln oder deren Produktion in China zu verorten sind.  © auto motor und sport

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