Tagtäglich passieren auf unseren Straßen viele schwere Verkehrsunfälle. Oft werden Unfallsachverständige von Polizei und Staatsanwaltschaft zur Ermittlung hinzugezogen. Sie sammeln Spuren, machen Bilder und erstellen Gutachten, auf deren Basis später auch Urteile gefällt werden. Ein Einblick in ihre tägliche Arbeit.

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Herr Weyde, Unfälle passieren jeden Tag und zu jeder Tageszeit. Klingt, als hätten Sie als Unfallsachverständiger einen echten 24-Stunden-Job?

Dr. Michael Weyde: Grundsätzlich ist es richtig, dass man 24 Stunden und an 365 Tagen im Jahr bereit sein muss. Natürlich kann das einer allein nicht leisten. Deshalb gibt es Bereitschaftsdienste, bei denen die Einsätze unter den Unfallsachverständigen aufgeteilt werden. Aber es gab durchaus schon einige Familienfeiern oder Weihnachtsfeste, an denen ich zu Unfall- bzw. Tatorten fahren musste.

Wie schnell muss man vor Ort sein?

Die Aufklärung von Straßenverkehrsunfällen hat tageshöchste Priorität. Dennoch ist man auf dem Weg zum Unfallort dazu verpflichtet, sich an die Verkehrsregeln zu halten. Der Unfallort bleibt so lange abgesperrt, bis der Sachverständige vor Ort ist.

Wenn man dort nicht ohne weiteres hinkommt, darf man auch Sonder- und Wegerechte nutzen – dafür braucht man aber eine konkrete Anweisung von Staatsanwaltschaft oder Polizei. Manchmal ist man aber sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Straßenbahn schneller an einem Unfallort.

Beauftragt werden Sie immer von Polizei oder Staatsanwaltschaft?

Ja. In Berlin ist es beispielsweise so, dass die Staatsanwaltschaft den Auftrag erteilt, aber die Polizei anruft, wenn ein bestimmter Sachverhalt gegeben ist. Das bedeutet, wenn ein Unfallbeteiligter vor Ort verstirbt oder mit seinem Ableben zu rechnen ist. Auch dann, wenn der Sachschaden sehr hoch ist oder große Umweltschäden vermutet werden – zum Beispiel, wenn ein Gefahrgutlaster umkippt.

Was machen Sie als Erstes, wenn Sie am Unfallort ankommen?

Ich verschaffe mir ein allgemeines und neutrales Bild vom Unfallort, bevor jemand mit mir spricht. Das bedeutet, dass ich in etwas größerer Entfernung herumgehe und alles fotografiere. So bekomme ich ein Gesamtbild, das ähnlich wie ein Puzzle vor mir liegt.

Dann gleiche ich ab, ob die Teile mit dem Lebenssachverhalt, den mir zum Beispiel die Polizei schildert, in Einklang zu bringen sind oder wo womöglich Widersprüche liegen. Dann ist es im Wesentlichen meine Aufgabe, alles so zu sichern und zu dokumentieren, dass es für einen Dritten später einwandfrei nachzuvollziehen ist.

Irgendjemand wird ja später dafür angeklagt, dass er einen Unfall verursacht hat, bei dem unter Umständen jemand verstorben ist. Eine unabhängige Prüfung des Geschehens durch einen Dritten, der nicht am Unfallort war, muss durch das Gutachten lückenlos möglich sein.

Was bedeuten die farbigen Markierungen auf der Straße?

Mit den Markierungen auf der Fahrbahn werden Spuren farblich hervorgehoben, damit man auch bei Dunkelheit und nach dem Entfernen der Fahrzeuge oder Unfallbeteiligte bzw. Opfer am Unfallort die Position von Spuren noch nachvollziehen kann.

Wie lässt sich ein Unfallhergang rekonstruieren?

Mittels der klassischen Unfallrekonstruktion wird eine Rückwärtsrechnung gemacht. Dafür muss man die Endstellung und die Kollisionsstellung kennen. Aus dem Spurenverlauf ergibt sich, wie die Fahrzeuge in der Zeit dazwischen verzögert worden sind. Während der Kollision, die nur wenige Millisekunden dauert, findet der größte Teil des Energieabbaus statt.

Die Energie wird dabei in Deformationsenergie umgewandelt, die man mithilfe von Schäden an Fahrzeugen und Verletzungen der Unfallbeteiligten auswerten kann. Das geschieht anhand von Modellen.

Dank der modernen Unfallrekonstruktion kann man dann noch Daten von den Fahrzeugen auslesen und bekommt so das Fahrverhalten der letzten fünf Sekunden vor der Kollision – zum Beispiel ob jemand gebremst, nochmal Gas gegeben, ob jemand angeschnallt war oder wann der Fahrer reagiert hat.

Wie helfen Crashtests bei der Analyse von Unfällen?

Ein Vergleichsmaß über die Steifigkeit der einzelnen Bauteile an Fahrzeugen ist für die Analyse von Unfällen besonders wichtig. Dafür gibt es Datenbanken für Sachverständige, bei denen Vergleichsversuche durchgeführt worden. Die gibt es für bestimmte Unfallkonstellationen, Fahrzeugtypen und Modellreihen.

Dort kann man Vergleichswerte abrufen und abschätzen. Das funktioniert vor allem dann besonders gut, wenn es viele Aufzeichnungen gibt, bei denen die Kollisionsgeschwindigkeit höher und niedriger lag, weil der Sachverständige dann interpolieren kann zwischen den Variationen, die ihm zur Verfügung stehen.

Welche Beweise sind für die Unfallauswertung wichtig?

Das Wichtigste überhaupt ist die Dokumentation der Endstellung und Endlage der Fahrzeuge. Dann die Dokumentation der Spuren, die den Kollisionsort dokumentieren. Und – was meist recht gut gesichert ist – die Schäden an den Fahrzeugen.

Wie lange dauern Ihre Arbeit am Unfallort und die Arbeit am Gutachten?

Am Unfallort dauert die Aufnahme eines Verkehrsunfalls mindestens eine Stunde. Wenn es viele Spuren und viele Unfallbeteiligte gibt, kann das durchaus auch fünf, sechs oder sieben Stunden dauern. Vor Ort setzen wir auch Drohnen und 3D-Scanner ein, um die Umgebung besser zu erfassen.

Die Arbeit danach dauert unterschiedlich lange. Manch ein Unfall lässt sich innerhalb weniger Stunden rekonstruieren. Ich bin aber auch schon an einem einzigen Fall mehrere Wochen gesessen. Je mehr Spuren es gibt, desto länger dauert es.

Meist kommt man so jedoch zu einem recht guten Ergebnis. Bei großen Ereignissen wie dem Weihnachtsmarkt-Attentat in Berlin zum Beispiel gab es viele Daten. An dem Lebenssachverhalt sollte zum Abschluss des Gutachtens kein Zweifel mehr bestehen.

Wie gehen Sie mental damit um, wenn Sie zu einem Unfallort gerufen werden?

Jeder Sachverständige hat da seine eigene Methode. Ich versuche es mit Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass mir dieser Unfall nicht widerfahren ist und bekomme durch die erlebten Erfahrungen eine ganz andere Sicht auf die Dinge.

Dr. Michael Weyde (*1969) lebt und arbeitet als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Straßenverkehrsunfälle in Berlin. Seit 2015 wurde er auch für das Fachgebiet "Schäden und Bewertung von Kraftfahrzeugen" öffentlich bestellt und vereidigt. Außerdem lehrt er an der HTW Dresden im Fachbereich Fahrzeugtechnik zur "Rechnerischen Unfallrekonstruktion". Als Sachverständiger war er auch an der Analyse des Weihnachtsmarkt-Attentates 2016 in Berlin beteiligt.
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