Es ist ein Horrorszenario: Man ist nach einem Verkehrsunfall im Auto gefangen, während dieses zu brennen beginnt. Von innen gibt es keine Chance, die Türen zu öffnen, und obwohl schnell Erstretter am Unfallort sind, gelingt es auch ihnen nicht, die Opfer aus dem Auto zu bergen. Genau so soll es bei mehreren tödlichen Unfällen mit Tesla-Modellen in Europa und den USA geschehen sein. Darunter ein Crash mit besonders tragischem Ausgang, der im August 2022 auf einer brandenburgischen Landstraße passierte und zwei von drei Insassen das Leben kostete.
Video: Tesla Model 3 Facelift MJ2024 Fahrbericht
Aktuell muss sich der damalige Fahrer, der als Einziger den Unfall überlebte, wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung vor dem Potsdamer Amtsgericht verantworten. Die seinerzeit gerade mal 17 und 18 Jahre alten Teenager waren in einem Tesla Model S unterwegs. Der Crash, die fehlgeschlagene Rettung und die aktuell stattfindende Gerichtsverhandlung sind nicht nur die Anlässe, die Verantwortung des Unfallfahrers zu hinterfragen, sondern ebenso, um über die eigenwilligen Türöffner der Tesla-Modelle zu diskutieren. Der Vorwurf: Das Elektroauto wurde auch deshalb zur Todesfalle, weil es über fehlkonstruierte Türgriffe verfügte.
Eigenwillige Türgriff-Konstruktionen
Die Türgriffe eines Teslas funktionieren anders als jene der meisten anderen Autos. Wie alle weiteren in Deutschland erhältlichen Tesla-Baureihen auch verfügt das Model S über bündig in der Karosserie versenkte Türgriffe. Sobald sich eine Person mit Zugangsberechtigung (klassische Autoschlüssel hat Tesla weitgehend ausrangiert) nähert, fahren sie automatisch heraus, sodass sich die Tür öffnen lässt. Etwas hemdsärmeliger funktionieren die Türöffner in den kleineren Teslas. Beispiel Model 3: Drückt man den Türgriff auf einer Seite, klappt die andere Seite heraus. Wird nun daran gezogen, öffnet sich die Tür (siehe Video und Fotoshow über dem Artikel).
Das wirkt wie ein mechanischer Vorgang, doch wie beispielsweise das Handbuch des Model 3 bestätigt, werden die Türen grundsätzlich elektrisch betätigt. Im Alltag hat das keinerlei Auswirkungen. Problematisch kann es jedoch dann werden, wenn die Technik nicht wie gewünscht funktioniert. Zitat Bedienungsanleitung zur Handhabung der Tür, wenn man im Auto sitzt und aussteigen möchte: "Im unwahrscheinlichen Fall, dass (das; d. Red.) Model 3 keinen Niederspannung-Strom hat, können Sie die Türen nicht mit der Taste oben am Türgriff öffnen."
Die Formulierung nennt bereits zwei Eigenheiten der Türtechnik. "Oben am Türgriff" heißt: Der Standard-Türöffner befindet sich nicht dort, wo ihn die meisten Leute vermuten. Statt direkt in der Türinnenverkleidung sitzt er an der Spitze des Haltegriffs, weshalb ihn die meisten Tesla-Neulinge für den elektrischen Fensterheber halten. Zumal es sich hier nicht um einen echten Türgriff, sondern um eine unscheinbare Taste handelt. Die zweite Besonderheit hat mit der elektrischen Betätigung zu tun. Ist der eigentliche innere Türöffner nicht nutzbar, was im Notfall schnell passieren kann, müssen die Insassen wissen, wo sich die mechanische Alternative befindet. Nämlich vor dem Tastenfeld der tatsächlichen Fensterheber, wobei ein Griff nach oben gezogen werden muss.
Beim Model 3 Facelift nachgebessert
Wie das genau funktioniert, erfährt nur, wer sich tief ins Online-Handbuch vorarbeitet. Im Kapitel "Bei einem Notfall" wird das im Unterpunkt "Öffnen der Türen ohne Strom" erklärt. Zudem steht hier eine beunruhigende Anmerkung: "Nur die Vordertüren sind mit einer manuellen Türentriegelung ausgestattet." Und tatsächlich: Beim Vor-Facelift-Model-3 sind die hinteren Fensterheber lediglich von einem Dekorelement umgeben, der Ziehgriff der vorderen Türen fehlt hier. Im Zuge des Facelifts (siehe Video nach dem ersten Absatz) hat Tesla diese Funktion integriert, wenn auch reichlich kompliziert. Um die hinteren Türen mechanisch zu öffnen, muss eine Abdeckung in der Türablage entfernt und daraufhin ein mechanischer Entriegelungszug nach vorn gezogen werden.
Noch komplizierter funktioniert die Entriegelung der Fondtüren von innen in einem Model S der verunfallten Generation. Dem "Handelsblatt" zufolge liegt der entsprechende Entriegelungszug unterhalb der Rücksitze unter einem Teppich versteckt. Beim Model X sei der Mechanismus gar unter den Lautsprechergittern der hinteren Türen untergebracht. Zwar soll es gar nicht nötig sein, die Türen mechanisch zu öffnen, da sich die beim Model S ebenfalls elektrisch betätigten Türen bei einem Unfall samt ausgelöstem Airbag automatisch entriegeln und die Türgriffe ausfahren. Dass dies je nach Art des Unfalls potenziell nicht möglich sein kann, räumt allerdings sogar Tesla ein. Denn selbst dann lassen sich die Türen ausschließlich elektrisch und nicht mechanisch öffnen. Ist die Spannung unterbrochen, bleiben sie zu. Letzter Ausweg laut Tesla-Handbuch: das "Einschlagen der Fensterscheibe usw."
Im Zuge des Gerichtsverfahrens in Brandenburg wurden Experten der Sachverständigenorganisation Dekra mit einem Gutachten beauftragt, bei dem speziell die Türgriffe im Fokus standen. Zwar konnten die Prüfer laut "Handelsblatt" aufgrund "des brandbedingten Zerstörungsgrades" des Autos nicht mehr nachvollziehen, warum die Türgriffe des Model S trotz Airbag-Auslösung nicht automatisch ausfuhren. Mit Blick auf den Mechanismus sei jedoch "von einer Fehlfunktion zu sprechen"; die Sachverständigen schreiben gar von einem "Versagen dieser Sicherungsfunktion". Hätten die Türen korrekt funktioniert, hätte den Gutachtern zufolge "eine Bergung der beiden auf der Rücksitzbank verbliebenen Insassen erfolgen können". Und die beiden Teenager hätten womöglich überlebt.
KBA will "Anpassung der Vorgaben"
Bleibt die Frage: Wie können Tesla-Fahrzeuge trotz der potenziell gefährlichen Türöffner-Konstruktionen überhaupt zugelassen werden? Genau das möchte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) nun herausfinden. Laut "Handelsblatt" habe die Flensburger Behörde Kontakt zu ihrem niederländischen Pendant aufgenommen, das die Typgenehmigungen der Tesla-Modelle für den europäischen Markt erteilte. Zudem setze sich das KBA bei anderen Genehmigungsbehörden und der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (UNECE) für eine Anpassung der Vorgaben ein. Im Klartext: Tesla und andere Autohersteller sollen mit entsprechenden Zulassungsvorschriften dazu gebracht werden, möglichst sichere Türöffner in ihre Autos einzubauen, die sich auch im Notfall einfach und intuitiv betätigen lassen.
Ob es hier je eine Änderung geben oder – falls ja – wann diese umgesetzt wird, steht aktuell in den Sternen. Die bürokratischen Mühlen mahlen auf EU-Ebene bekanntlich recht langsam. Bis dahin müssen sich Autokäuferinnen und -käufer auf objektive Kriterien wie Crashtest-Ergebnisse verlassen. Hier gibt es in Bezug auf Tesla übrigens nichts zu beanstanden: Alle Modelle der Amerikaner wurden vom Konsortium Euro-NCAP mit der Höchstwertung von fünf Sternen beurteilt. In diese Bewertung fließen auch die Türöffnungskräfte nach den verschiedenen getesteten Crash-Szenarien ein.
Keine Beanstandung im Euro-NCAP-Crashtest
Die Tesla-Modelle zeigten nach ihren Crashtests offenbar keine negativen Auffälligkeiten. "Alle Türen müssen nach einem Aufprall automatisch entriegelt werden, und alle eingezogenen Griffe sollten sich nach dem Test in einem Zustand befinden, in dem sie sich öffnen lassen", sagt Richard Schram, der Technische Direktor von Euro-NCAP. Doch auch er schränkt ein: "Wir erkennen an, dass dies bei realen Unfällen möglicherweise nicht in 100 Prozent der Fälle funktioniert." Doch abhängig von den konkreten Schäden nach einem Unfall könne dies ebenso ein Problem für mechanische Türöffner sein. Schram stellt aber auch klar: "Wenn wir ein eindeutiges Problem in Bezug auf Türöffner sehen, wird Euro-NCAP seine Anforderungen aktualisieren, um das Problem zu entschärfen."
Video: Erster Check: Tesla Cybertruck
Tesla hat trotz mehrfacher Aufforderung bisher keine Stellung zu diesem Thema bezogen und keine unserer Fragen beantwortet. Der Autohersteller treibt seine eigenwillige Haltung in Sachen Türöffner übrigens mit dem neuen Cybertruck auf die Spitze. Statt herkömmlicher oder zumindest versenkter Türgriffe an gewohnter Stelle verfügt der futuristische Elektro-Pick-up auf Fensterhöhe über kleine Knöpfe an der B-Säule, welche die Türen öffnen. Das ist einer der Gründe, warum viele Experten den Cybertruck für nicht zulassungsfähig in Europa halten. Noch schwerer wiege jedoch, dass die Karosserie laut Tesla "ein ultrahartes Außenskelett aus Edelstahl" trage. Dieses biete potenziell nicht nur große Nachteile beim Fußgängerschutz, sondern nehme wahrscheinlich auch nicht genügend Energie auf. Weil sich die Karosserie nicht verformen könne, wirken bei einem Aufprall mutmaßlich enorme Kräfte auf die Insassen. © auto motor und sport
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