Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) führt einen Wortschatz der Zehnerjahre – also jener Begriffe, die seit 2010 Einlass in unseren Sprachgebrauch gefunden haben. 625 Einträge gibt es inzwischen auf der Stichwortliste, neben "Bingewatching", "ghosten" und "Foodporn" befindet sich darauf auch das Wort "Reichweitenangst". Es beschreibt ein wenig martialisch, aber durchaus treffend, die "Befürchtung, mit einem E-Auto stehenzubleiben, weil die Batterie leer ist". Im Winter wird die Reichweitenangst bei manchen Elektromobilisten und -mobilistinnen zur Reichweitenpanik, schließlich liest und hört man immer wieder, dass der Aktionsradius von E-Mobilen bei Minusgraden arg schrumpft.
Video: Im Video: ADAC Test Elektroauto Heizung im Winter
Dass diese Befürchtung einen wahren Kern hat, zeigt sich wiederholt in Tests und Datenauswertungen. Eine solche hatte im vergangenen Winter das US-Unternehmen Recurrent bei etwa 10.000 E-Autos aus 18 unterschiedlichen Baureihen vorgenommen und nun die Ergebnisse veröffentlicht. Das auf den Handel von gebrauchten Stromern sowie die automatische Analyse von deren Batteriezuständen spezialisierte US-Start-up kommt dabei zu einem beunruhigenden, aber nicht unerwarteten Ergebnis: Im Schnitt büßen die untersuchten Modelle bei Kälte fast ein Drittel ihrer Reichweite ein. Sie kommen bei Minusgraden nur noch auf 70,3 Prozent ihrer Batteriekapazität im Vergleich zu idealen äußeren Bedingungen.
Audi E-Tron vorn, VW ID.4 hinten
Obendrein zeigen sich große Unterschiede je nach betrachtetem Modell. Fast schon vorbildhaft verhält sich der Audi E-Tron der Modelljahre 2021/22. Sobald die Temperaturen sinken, verliert der seit seinem letzten Facelift als Q8 E-Tron bekannte Elektro-SUV nur 16 Prozent seiner Reichweite. Ebenfalls ordentlich dabei: Der 2019er Nissan Leaf (in der Grafik fälschlicherweise als 2015er-Modell bezeichnet) mit einem Verlust von 23 Prozent sowie die Tesla-Baureihen Model 3, X und Y, die jeweils 24 Prozent ihrer Akkukapazität verlieren.
Am anderen Ende des Recurrent-Rankings befindet sich ebenfalls ein Modell aus dem Volkswagen-Konzern: Die US-Version des 2021er VW ID.4 verliert der Auswertung zufolge 46 Prozent ihrer Reichweite, also fast die Hälfte. Kaum besser macht es der Chevrolet Bolt mit 42 Prozent, während sich das E-Auto-Trio Hyundai Kona, Ford Mustang Mach-E und Nissan Leaf (hier ist tatsächlich das Modelljahr 2015 gemeint) bei Minusgraden ebenfalls nicht mit Reichweiten-Ruhm bekleckert.
2019 betrug der Verlust 41 Prozent
Die aktuelle Recurrent-Statistik zeigt immerhin einen Fortschritt im Vergleich zu früheren Jahren auf, wenn auch einen vergleichsweise kleinen. Rückblende in den Winter 2018/19. Damals hatte der amerikanische Automobilclub AAA, quasi der US-ADAC, fünf Elektroautos bei unterschiedlichen Wetterverhältnissen getestet: BMW i3s, Chevrolet Bolt, Nissan Leaf, Tesla Model S 75D und VW e-Golf. Einmal bei 75 Grad Fahrenheit (23,9 Grad Celsius) und einmal bei 20 beziehungsweise minus sechs Grad. Mit dem Ergebnis, dass Elektroautos im Schnitt 41 Prozent ihrer Reichweite verloren, sobald die Außentemperaturen in den Minusbereich fielen. Heißt: Ein E-Mobil, das bei sommerlichen Verhältnissen 100 Kilometer weit kam, schaffte bei minus sechs Grad nur noch 59 Kilometer.
Im Gegensatz zur Recurrent-Auswertung, die auf Daten aus dem Alltag der E-Autos basiert, nutzte der AAA für seinen Test seinerzeit eine Kältekammer, die mit einem Rollenprüfstand und Datenaufzeichnung ausgerüstet war. Darin wurden die oben genannten Bedingungen simuliert: Die E-Autos absolvierten das Testprogramm bei 23,9 und –6 Grad Celsius; einmal mit laufender Klimaanlage, einmal ohne.
Ursachen, Tipps und Tricks
Eine wichtige Erkenntnis des AAA-Tests: Die Klimaanlage hat einen riesigen Effekt auf den Reichweitenverlust im Winter. Zuvor erwähnte 41 Prozent treten nämlich auf, wenn die Temperaturregelung für den Innenraum genutzt wird. Ist dies nicht der Fall, beträgt der Verlust nur zwölf Prozent. Grund dafür: Während Autos mit Verbrennungsmotor im Winter vor allem die Abwärme des Motors nutzen, um Innenraum, Scheiben, Sitze und Lenkrad zu heizen, kommt im E-Auto die dafür benötigte Energie ausschließlich aus der Antriebsbatterie. Außerdem muss gegebenenfalls die Batterie selbst beheizt werden, denn das Minus an Akkukapazität hat auch Ursachen, die im Energiespeicher selbst liegen. Bei kalten Temperaturen funktionieren die chemischen und physikalischen Reaktionen, welche den Strom für die E-Motoren freisetzen, nämlich nur eingeschränkt.
Recurrent gibt ebenfalls Tipps, wie die Fahrerinnen und Fahrer die Reichweite ihres Elektroautos im Winter bestmöglich schützen können. "Wenn möglich, sollten Sie Ihr Elektroauto mit einer maximalen Ladung von 70 oder 80 Prozent mit dem Ladepunkt verbunden lassen." Auf diese Weise könne das Auto Energie aus der Steckdose beziehen, um warm zu bleiben, anstatt dafür Energie aus der Batterie zu nutzen. Andernfalls könne es passieren, dass die Batteriekapazität vor der nächsten Fahrt geringer ist als erwartet. Da es zudem mehr Energie koste, ein kaltes Auto aufzuwärmen, als ein warmes Auto auf Wohlfühltemperatur zu halten, sollte der Innenraum bereits während des Ladevorgangs geheizt werden. Generell sollte das Fahrzeug im Winter öfter als sonst mit Strom betankt werden, um den Reichweitenverlust bei Kälte in Grenzen zu halten. © auto motor und sport
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