Ein Topfavorit siegt, die Stimmung ist überragend, die Strecke anspruchsvoll: die MTB-Rennen bei Olympia sind passé. Doch neben erwartbaren Ereignissen ist auch viel Überraschendes passiert. Unsere Szenekenner Lukas und Lukas haben sechs Dinge gesammelt, die Olympia gezeigt hat.
Auf den Tag X vorbereiten und dann abliefern – das ist die Kunst für die Fahrer*innen, wenn es um das alle vier Jahre stattfindende Rennen geht.
Nur drei Dutzend dürfen bei dem Wettbewerb starten und ihr Können unter Beweis stellen, vielleicht zwei Hand voll haben Medaillen-Ambitionen. Der Mythos Olympia hat bei den Mountainbiker*innen aus aller Welt wieder voll zugeschlagen, wir waren "vor der Glotze” natürlich mit dabei und haben die beiden Rennen für euch analysiert.
Es folgen sechs Learnings unserer XC-Racer Luki und Itte!
Frenchies sind einfach anders
Französische Fans sind der Inbegriff von Stimmung und Race-Vibe. Mic Drop! Wer etwas dagegen sagt, hat weder die letzten beiden Weltcup-Rennen in Les Gets (FRA) noch die Olympia-Rennen in Paris geschaut.
Es ist überragend zu sehen, wie sehr der Sport in unserem Nachbarland gefeiert wird. Als 2023 Benoit Coulanges überraschend den Heim-World-Cup gewinnt, dreht die Menge durch. Die Bilder, die an diesem Tag entstanden, zaubern DH-Fans noch heute ein fettes Lächeln ins Gesicht. So auch dieses Jahr, als Amaury Pierron vor einem Monat erneut die "Trikolore” ganz oben auf dem Ergebnis-Tableau platziert. Stimmung hoch zwei gibt’s nicht nur im Downhill-Sport: Ihm gleich machte es nämlich seine Landsfrau Pauline Ferrand-Prévot. Die an der Côte d’Azur lebende Französin gewann das Damen-XCO-Rennen mit riesigem Vorsprung, die "Crowd” hat sie dafür mächtig abgefeiert.
Als der Brite Thomas Pidcock nach einem umstrittenen Überholmanöver kurz vorm Ziel (s. Punkt 3) Victor Koretzky (FRA) überholte, muss er mit Buh-Rufen leben – auch das gehört zum Sport. Manche mögen es als unsportliche Geste der Zuschauenden abstempeln, doch Emotionen gehören zum Sport dazu. Der 29-jährige Koretzky, sonst im Trikot von Specialized Factory Racing unterwegs, musste sich mit Silber zufriedengeben, wurde dennoch vollends abgefeiert von den französischen Fans.
Mechanische Bikes sind schnell
Elektronische Schaltungen und Fahrwerke sind das Maß aller Dinge? Das stimmt im olympischen Kontext nur bedingt: Vier der sechs Medaillenträgerinnen waren auf einer mechanischen Shimano XTR unterwegs. Nur Haley Batten und Victory Koretzky (Specialized Racing) setzten auf eine Sram XX SL Transmission, die elektronisch die Gänge wechselt.
Anders beim Fahrwerk: Olympiasieger Thomas Pidcock setzte auf das elektronisch geregelte SR-Suntour-Fahrwerk. Auch die Silbermedaille im Damenrennen ging an ein solches "Wunderfahrwerk”, das Rock Shox Flight Attendant System bzw. Haley Batten. Spannend: Victor Koretzky setzte indes auf einen mechanischen Lockout an seiner Rock-Shox-SID, entschied sich also bewusst gegen das elektronische Flight Attendant seines Sponsors. Beide Specialized Athleten waren auf dem Epic World Cup mit spannendem Hinterbaukonzept unterwegs.
Komplett "manuell” waren die zwei Bronzeplatzierten unterwegs: Jenny Risveds und Alan Hatherly aktivierten im großen Rennen in Paris ihre Fox-Dropperpost mit einem Seilzug, ebenso das Fox-Fahrwerk (Fox 34 SC und Float SL bei der Schwedin, Lefty Carbon und Fox Float SL beim Südafrikaner). Ebenso wurde bei beiden mit der Shimano XTR mechanisch geschaltet. Die Radwahl fiel bei Rissveds aufs Ibis Exie, Haterly setzte auf das Cannondale Scalpel.
Im Zweikampf ist (fast) alles erlaubt
Juli 2022. Lenzerheide/Schweiz. Nino Schurter vs. Mathias Flückiger. Ein Tag, der vielen XCO-Fans in Erinnerung bleibt: Die beiden Schweizer Racer stürzen wenige Hundert Meter vor dem Ziel bei einem Überholvorgang von Flückiger spektakulär ineinander. In der Live-Übertragung war das erst kaum zu sehen, plötzlich kommt der Italiener Luca Braidot jedoch als Erster aus dem Zauberwald und gewinnt im Zielsprint vor Alan Hatherly (RSA) seinen ersten Weltcup. Flückiger wird Dritter, Nino durch Flückigers Aktion nur Vierter und schrie im Ziel unter anderem "Du bist nicht normal”, zeigte sich sauer und erbost und auch das Gros der Szene sah "Math” verantwortlich für den unnötigen Crash. Stress zwischen den Eidgenossen statt Schweizer Doppelsieg. Disqualifiziert oder geahndet wurde Flückiger nicht.
Ähnliches, wenn auch nicht ganz so radikal, ging es in der Schlussrunde des olympischen XCO-Rennens der Herren zu. Der Franzose Victor Koretzky liegt vorne, an seinem Hinterrad lauert Titelverteidiger Tom Pidcock und wartet förmlich auf einen Fehler des Führenden, um vorbeizufahren. Wie Flückiger vor zwei Jahren nutzt Pidcock wenige Sekunden vor der Zielgeraden eine andere Linie als Koretzky und zieht "vorbei” bzw. fährt ihm seitlich "in die Karre”. Victor Koretzky landet beinahe im nächsten Baum, kommt aus dem Tritt und muss ausklicken. Er verliert wichtige Meter – und die anvisierte Goldmedaille. Auch Pidcock bleibt unbestraft. Die Radsport-Bubble diskutiert erneut fleißig über die Kontroverse, diesmal aber zumeist zugunsten des "Angeklagten”. Ein User schreibt auf Instagram: "Überholmanöver von Pidcock etwas grenzwertig, aber auch unglaublich clever platziert”.
Klar ist also – egal ob im Weltcup oder bei Olympia: Man muss im Cross-Country Zweikampf an den Tag legen, auch knappe Lücken nutzen und Taktik voll ausnutzen, wenn man gewinnen möchte.
Eine weitere kuriose Situation ereignete sich übrigens im Damenrennen. Das niederländische Team um die Viertplatzierte Puck Pieterse legt Einspruch ein, weil Haley Batten durch die "Boxengasse” fuhr, ohne eine Flasche anzunehmen, was einen Regelverstoß bedeutet, kommt damit aber nicht durch. Batten muss lediglich 500 CHF Strafe zahlen und bekommt wohlverdient ihre Silbermedaille umgehangen. Wir sind uns ohnehin sicher: Hätte man die unmittelbar "Betroffene” und weiterhin Drittplatzierte Jenny Rissveds gefragt, hätte sie nicht gewollt, wegen eines solchen Fauxpas einen Platz nach vorne zu rutschen.
Reifenwahl ist Medaillen-entscheidend
Bei all den Hightech-Parts, die an den Rennmaschinen der Fahrerinnen und Fahrern zum Einsatz kamen, ist es fast schon bizarr, dass ein eher "einfaches" Bauteil teils über Medaillen-Platzierungen entschied: der Reifen!
Dass Thomas Pidcock trotz Reifendefekt am Vorderrad noch zu Victor Koretzky aufschließen konnte und eine über 30 Sekunden große Lücke schloss, geht in die Geschichtsbücher ein. Ebenso Sport-Geschichte in Sachen Fairplay schrieb Jenny Rissveds (SWE), die im Livestream hörbar den Mechanikern des US-Teams zurief, dass Haley Batten einen Platten habe und so einen schnelleren Pitstop und Silber für Batten möglich machte. Das ist Sportsgeist!
Es folgt die inoffizielle "Defektstatistik” der Olympischen MTB-Rennen 2024 in Paris (Auswertung via TV-Bilder und Argusaugen, alle Angaben ohne Gewähr):
- Maxxis: Hinterreifen-Defekt bei Puck Pieterse (NED, Team Fenix-Deceuninck, Maxxis Aspen Maxx Speed Team Spec 29 x 2,4”)
- Continental: Vorderrad-Defekt bei Thomas Pidcock (UK, Team Ineos-Grenadiers, Conti Race King 29 x 2,2”)
- Specialized: Haley Batten, vermutlich Hinterreifen-Defekt (USA, Specialized Factory Racing, Specialized Captain Control 29 x 2,5”)
Wir lieben die Emotionen des Frauensports
Kein Moment der Olympischen Spiele ist bisher wohl so herzerwärmend, wie die Siegerehrung der Cross-Country-Damen. Die 32-jährige Französin Pauline Ferrand-Prévot gewinnt vor Heimpublikum das vielleicht wichtigste Rennen ihres Lebens. Das Publikum feiert und "verabschiedet" sie gebührend. Denn es soll ihre letzte MTB-Rennsaison gewesen sein, künftig will sie bei der Tour de France Femmes angreifen.
Wie schon bei der Zielankunft überwältigen sie ihre Gefühle, sie weint hemmungslos, ehrlich und herzergreifend. Die schwedische Bronzemedaillen-Gewinnerin Jenny Rissveds, Olympiasiegerin von Rio umarmt Pauline, steht ihr zur Seite, gibt ihr Halt – ein wunderbares Bild für alle Sportfans. Rissveds macht das nicht irgendwie, sondern auf eine unfassbar sympathische Art, sie unterstützt Pauline, ist unmittelbar bei ihr, ohne ihr aber dabei die Show zu stehlen. Die Crowd ruft immer wieder "Merci, Pauline!". Einfach schön zu sehen, dass die sonst weniger emotionale "PFP" ihren Emotionen vollends freien Lauf ließ.
Solche Emotionen sind – leider – in den meisten Männer-Rennen nicht zu sehen. Herren-XCO-Sieger Tom Pidcock freut sich zwar sichtlich über seine zweite olympische Goldmedaille, aber dieses wunderbar anzusehende Ausmaß an Freude ist dann doch eher eine Seltenheit. Die Siegerehrung auf dem Colline d’Élancourt ist natürlich nur eines von vielen Beispielen des Sportsgeists der Frauen. Die unzähligen Umarmungen im Ziel, die gegenseitige Unterstützung und Momente wie Jennys "Platten-Hinweis" gegenüber Bronze-Gewinnerin Batten sind der Beweis für Fairplay und Sportsgeist. Dass 2024 zum ersten Mal gleich viele Frauen wie Männer bei Olympia starten, war nicht nur längst überfällig, sondern hat die Sportwelt gebraucht. Jungs, ihr könnt euch gerne eine Scheibe abschneiden!
Die Emotionen der Olympioniken im Radsport in Paris 2024 | bike-x.de
Innovative Materialien for the win
Der Cross-Country-Sport ist für den Radsport das, was die Formel 1 für den Motorsport ist. Logisch, dass teils auch innovative Hightech-Materialen verwendet werden: So sind die Laufräder des mit zwei Silbermedaillen dekorierten Specialized-Racing-Teams, der Roval Control SL Team, aus Carbon gefertigt.
Das Ineos-Grenadiers-Team, welches mit Ferrand-Prévot und Pidcock beide Goldmedaillen absahnte, setzt bei der Speichentechnologie gar auf Berd-Spokes, die aus Textil gefertigt sind. Die Vectran-Speichen werden nur auf Zug belastet und wiegen einen Bruchteil einer normalen Aluminiumspeiche – ergo sind Laufradgewichte um 1000 Gramm möglich.
Auch abseits der Laufräder gibt es viele Beispiele für Hightech-Technik, die den Racerinnen und Racern extra Vortrieb beschert: Funk-Fahrwerke, individuelle Carbon-Cockpits, der Lenkkraftassistent K.I.S. (Canyon) oder spezielle Dropperposts (BMC Fourstroke).
Go for Gold! Der Medallienspiegel der Rad-Disziplinen bei Olympia:
© Bike-X
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.