Die Krater wirken bedrohlich. Angeblich bis zu 50 Zentimeter tief, dafür fällt der Übergang von der Fahrbahn weich aus, eine harte Abbruchkante gibt es nicht. Gut so, denn dann käme die Fahrwerksabstimmung des Polestar 4 definitiv an ihre Grenzen. So allerdings pariert der 4,84 Meter lange Viertürer mit den rahmenlosen Seitenscheiben die zerbeulte Teststrecke ziemlich lässig, federt bei Tempo 80 beflissen an, geht nicht auf Block, stabilisiert sich nach dem Ausfedern rasch. Auch kurze, herbe Anregungen bringen den Polestar nicht aus dem Tritt. Er spricht zuverlässig an, verarbeitet die Unebenheiten ziemlich lässig – und bei montierten 22-Zoll-Rädern mit 265/40er-Bereifung.
Sicher, der Radstand von drei Metern (die neue Mercedes E-Klasse liegt hier vier cm drunter) hilft dabei, doch der gebotene Federungskomfort lässt durchaus auf eine penible Abstimmung der Ein-Ventil-Adaptiv-Dämpfer schließen. Kein Vergleich mit der eigentlich immer irgendwie überstraffen Auslegung des Polestar 2 mit Performance-Paket. Beim 400 kW starken 4er zählen die großen Räder sowie eine Vierkolben-Bremsanlage von Brembo mit größeren Scheiben (392 statt 364 mm vorn und 364 statt 350 mm hinten) zu eben jenem Paket, die in adaptiven Dämpfer mit drei Kennlinien dagegen zur Grundausstattung. Für das 200 kW starke Basismodell mit einem statt zwei permanent erregten Synchronmotoren stehen diese wiederum nicht zur Wahl, doch auch dessen Abstimmung weiß auf den Marterstrecken des Volvo-Testgeländes Hällered zu gefallen.
Basis auf hohem Niveau
Auffälligster Unterschied: Eine etwas weniger souveräne Aufbaukontrolle beim Ausfedern des mit 255/45-21er Bereifung ausgerüsteten Vorserien-Fahrzeugs. Was also war das Entwicklungsziel? Einen komfortablen Kilometerfresser zu kreieren? Immerhin soll der 100 kWh-Akku Reichweiten zwischen 580 und 610 km ermöglichen, die Ladezeit von 10 auf 80 Prozent gibt Polestar mit 30 Minuten bei einer maximalen Ladeleistung von 200 kW an. Doch heute wird vor allem Entladen, denn der 4er tritt mit dem Anspruch an, neben viel Platz und Komfort eine hohe Fahrdynamik bieten zu wollen. Die Längsdynamik stellt angesichts der Antriebsleistung sicher niemand in Frage, trotz eines Gewichts jenseits von 2,3 Tonnen. Bereits die Basis schiebt tapfer an, das Topmodell gewaltig. Aber die Querdynamik – wie soll das gehen?
Bemerkenswert gut, zumindest auf dem für die Testfahrten freigegebenen Handlingkurs mit überwiegend langen Kurvenradien, die allerdings die eine oder andere Bodenwelle bereithalten. Der 4er lenkt sehr motiviert ein, springt dabei jedoch nicht aus dem Lenkungsgraben, zeigt stattdessen einen homogenen Lenkwinkelaufbau mit präzisen Fahrzeugreaktionen. Zudem stimmt der Geradeauslauf, in keiner der drei anwählbaren Kennlinien der Lenkung lässt sich der Polestar aus der Ruhe bringen. Gleiches gilt bei schnellen Richtungswechseln da musst du schon mutwillig überziehen, um die Allradvariante dazu zu bringen, über alle vier Rädern zum Kurvenaußenrand schieben zu lassen.
Leben im Heck
Und der Hecktriebler gibt dann den Drift-Experten? Nein, da ist natürlich die Regelelektronik vor, die im Vollschutz mit angenehmer Vehemenz eingreift, im Sport-Modus die Regelschwelle deutlich nach oben verschiebt. Dann kann’s durchaus mal ein bisschen quer dahingehen, beim Allradler braucht es da einen guten Schuss Lastwechsel. Aber hey, das alles war so nicht zu erwarten. Auch, dass die Lenkung dem Fahrer bei solchen extremen Manövern mit ordentlicher, wenngleich nicht perfekter Rückmeldung die Hand reicht, nicht. Das Lenkgefühl wirkt lediglich immer ein klein wenig gummiert, der Kraftaufwand im Standard-Modus womöglich eine Idee zu hoch, doch das fällt unter das Kapitel Geschmacksache. Der straffe Modus jedenfalls wirkt diesbezüglich übertrieben, das gilt auch für die entsprechende Dämpferkennline. Am besten einfach alles auf Standard lassen und gut ist’s. Beim Hecktriebler (ja, Heckmotor und Hinterradantrieb!) entfällt das Dämpfer-Thema ohnehin, doch mit ihm kommt ebenfalls keine Langeweile auf.
Ungeachtet der etwas ausgeprägteren Karosseriebewegungen lässt er sich präzise durch die Kurven treiben, kündigt seinen Grenzbereich brav durch zartes Untersteuern an. In beiden Varianten sitzt du angenehm integriert hinterm Lenkrad, kuckst nicht leicht von oben auf die Instrumententafel, was bei viertürigen Coupés – egal, ob SUV oder nicht – gerne mal vorkommt. Offenbar liefert die Sustainable Experience Architecture (kurz: SEA) des Geely-Konzerns eine gute Basis. Laut den Schweden ermöglicht sie einen Fahrzeugschwerpunkt, der 25 Millimeter unterhalb des längst ausverkauften Plug-in-Hybrid-Coupés Polestar 1 liegt. Ebenfalls hilfreich für den Fahrer: Er bekommt die wichtigsten Informationen direkt ins Blickfeld (10,2-Zoll-Display) serviert, zusätzlich auf Head-up-Display.
Rücksicht nehmen, bitte sehr!
Einzig der Rückspiegel erfordert etwas Gewöhnung, denn aufgrund der fehlenden Heckscheibe siehst du entweder nur die Fondpassagiere, gar nichts oder ein durchaus kontrastreiches Kamerabild. Auf dem zentralen Monitor mit 15,4 Zoll Bilddiagonale in der Mitte des Instrumententrägers können dann weitere Einstellungen vorgenommen werden, was aufgrund der markentypisch klaren Schrift keine Herausforderung darstellt. Man ist Stolz, mit lediglich vier Schriftgrößen auszukommen, wo andere angeblich 10 oder mehr verwenden. Zudem sei die jeweils nächstgrößere einfach doppelt so groß. Bedrohlich groß, so wie die Krater auf der Komfort-Teststrecke hier in Hällered, wirkt allerdings keine. © auto motor und sport
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