Alfonsina Strada ist die einzige Frau, die jemals am Giro d’Italia der Männer teilnahm. ROADBIKE erinnert an eine leidenschaftliche Radsportlerin, die vielen Widerständen trotzte.
Giro d’Italia, 1924, 8. Etappe, L’Aquila–Perugia. 296 Kilometer durch den Apennin. Es regnet in Strömen, eiskalt weht der Wind. Die Straßen sind voller Schlamm, Schlaglöcher verwandeln sich in tiefe Pfützen. Nur die Hälfte der vor vielen Tagen in Mailand Gestarteten ist noch im Rennen, alle sind völlig erschöpft. Das Feld zieht sich weit auseinander. Auch Alfonsina Strada, Radrennfahrerin seit über 20 Jahren und einzige Frau im Rennen, kämpft gegen die Strecke. Und gegen die Naturgewalten. Dann stürzt sie. Heftig.
Benommen bleibt sie im Matsch liegen. Viele Stürze und Rückschläge sind es gewesen in den letzten Tagen, ihr geschundener Körper rebelliert, das mehrfach genähte Knie schmerzt. Endlich rappelt Alfonsina sich wieder auf – und erstarrt: Ihr Lenker ist gebrochen und kein Ort, keine Werkstatt in Sichtweite. Alfonsina blickt zum Himmel, Regen prasselt ihr ins Gesicht. Sie schreit und weint. Aus. Vorbei. Der Giro d’Italia scheint beendet – und damit ihr Traum, als erste Frau die große Rundfahrt durch ihr Heimatland zu bestreiten und nach zwölf Etappen und über 3600 Kilometern das Ziel in Mailand zu erreichen.
Die Faulgrube
1891 kommt Alfonsina bei Bologna zur Welt. Der Vater ist Tagelöhner, die Mutter Amme. Neben den zehn eigenen Kindern nimmt die Familie elf Waisenkinder auf – die Provinzverwaltung zahlt dafür Beihilfe, die Familie ist auf das zusätzliche Einkommen dringend angewiesen. Mangelernährung, beengte Wohnverhältnisse, Schmutz – nicht alle Kinder erreichen das Erwachsenenalter.
Die Familie lebt in Fossamarcia, 15 Kilometer außerhalb von Bologna. Der Ortsname heißt übersetzt Faulgrube, und der Name ist Programm. Das Geschlechterverhältnis ist im strenggläubigen Italien Anfang des 20. Jahrhunderts klar geregelt: "Frauen sind dazu da, zu gehorchen, sich ums Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und sich Hörner aufsetzen zu lassen." So formuliert es einmal ein Bruder von Alfonsina. Widerspruch? Fehlanzeige.
Nach zwei Jahren in der Schule muss Alfonsina zum Lebensunterhalt der Familie beitragen – sie wird Schneiderin. Eines Tages, Alfonsina ist gerade zehn Jahre alt, bringt der Vater ein Fahrrad mit nach Hause, um damit auch in weiter entfernten Orten Arbeit annehmen zu können. Der klapprige Drahtesel fasziniert Alfonsina. Eines Nachts schleicht sie sich hinaus, klettert mithilfe eines großen Steins auf den Sattel, stößt sich ab – und liegt nach wenigen Metern mit dröhnendem Schädel am Boden. Doch Alfonsina probiert es erneut, lernt, die Balance zu halten – und fährt los, über den nahe gelegenen Fluss in den Nachbarort und darüber hinaus, selbst Bologna scheint auf einmal greifbar nah. Nie hätte sie gedacht, aus eigener Kraft aus Fossamarcia, der Faulgrube, entkommen zu können.
Die Irre
Beinahe jede Nacht ist Alfonsina mit dem Fahrrad ihres Vaters unterwegs. Als man ihr auf die Schliche kommt, setzt es Kopfnüsse. Doch Alfonsina handelt aus, mit dem Fahrrad die Märkte der Umgebung nach Kunden für ihre Schneiderarbeiten abklappern zu dürfen. Sie darf nun an den Sonntagen das Fahrrad nutzen, lernt die Gegend auch bei Tageslicht kennen. Immer wieder führen ihre Touren zur Montagnola, der Radrennstrecke von Bologna, wo sie bei den Rennen zuschaut und sich die Bewegungen der Fahrer abguckt.
Mit dreizehn Jahren findet sie eine feste Stelle bei einer Schneiderei unweit der Rennstrecke. Sie darf nun täglich mit dem Rad zur Arbeit fahren. Ihren Lohn spart sie und kauft sich ihr erstes eigenes Rennrad – ein Bianchi. In jeder Mittagspause fährt sie zur Montagnola, trainiert bald selbst auf der Strecke. Die meisten Männer ignorieren sie, andere lachen sie aus oder schimpfen. Doch einer gibt Alfonsina Tipps, ermuntert sie. Auf der Bahn wird sie besser, auf den Straßen der Region liefert sie sich Duelle mit den dort trainierenden Männern – und hängt sie nicht selten ab. Bei ihrem ersten offiziellen Rennen besiegt Alfonsina die gesamte männliche Konkurrenz. Ihr Gewinn: ein lebendes Schwein.
Alfonsinas Stärke, Ambitionen und Erfolge vertragen sich jedoch schlecht mit dem Selbstwertgefühl ihrer männlichen Konkurrenten: "Schlampe", "Hündin", "Irre" ruft man ihr nach. Ablehnung erfährt Alfonsina auch bei ihren Geschlechtsgenossinnen: Keine ihrer Kolleginnen in der Schneiderei kann nachvollziehen, warum Alfonsina in jeder Pause zur Radrennstrecke fährt. Die kurzen Hosen und das enge Trikot, von Alfonsina während der Arbeit unter ihrem Kleid versteckt, lösen Empörung aus. Unschicklich! Schamlos! Alfonsina wird vorgeworfen, durch ihr Verhalten auch die anderen Frauen in Verruf zu bringen. Über die Familie wird schlecht geredet, der Vater findet kaum noch Arbeit, auch der Pfarrer ergeht sich in wüsten Beschimpfungen. Alfonsina wird geraten, zu heiraten und wegzuziehen.
Doch der Verehrer, den Alfonsina schließlich findet, ist leidenschaftlicher Radsportanhänger. Zur Hochzeit schenkt er seiner Braut ein nagelneues Rennrad, ihre Ambitionen unterstützt er energisch.
Die Königin der Tretkurbel
In den folgenden Jahren entwickelt sich Alfonsina zu einer erfolgreichen Rennfahrerin: Sie wohnt in Turin, damals auch Sitz des italienischen Radsportverbands, wo zahlreiche Rennen stattfinden. Alfonsina gewinnt oft – gegen Männer und Frauen. Binnen kurzer Zeit wird sie bekannt – und polarisiert Publikum und Presse: Viele lehnen sie kategorisch ab, andere fühlen sich von ihr inspiriert.
Es ist eine goldene Zeit des italienischen Radsports: Große Rennen entstehen wie die Lombardeirundfahrt 1905, Mailand–Sanremo 1907 und der Giro d’Italia 1909. Im selben Jahr wird Alfonsina mit einer Delegation italienischer Radsportler nach Russland zu einem Wettkampf eingeladen, Zarin Alexandra heftet ihr in St. Petersburg einen Orden ans Trikot. 1911 verbessert Alfonsina den Stundenweltrekord der Frauen auf 37,192 Kilometer – 26 Jahre bleibt ihre Leistung unübertroffen.
Der Erste Weltkrieg beendet Alfonsinas sportlichen Aufstieg. Olympische Spiele, internationale Wettkämpfe – alles fällt dem Konflikt zum Opfer. In Italien finden zwar noch einige Radrennen statt, um das Volk und die Soldaten von Hunger und Angst abzulenken, aber nicht mehr für Frauen. Als die Lombardeirundfahrt 1917 in Ermangelung von Teilnehmern offen ausgeschrieben wird, überzeugt Alfonsina die Veranstalter, sie starten zu lassen – es stünde schließlich nirgendwo, dass Frauen die Teilnahme untersagt sei. In einer Dreiergruppe erreicht sie das Ziel als 32. und damit Letzte des Rennens, anderthalb Stunden nach dem Sieger. Aber: Von 54 Gestarteten haben 22 Männer das Rennen aufgegeben. Auch 1918 nimmt sie teil, wird 21. von 22, die es ins Ziel schaffen. Mit ihren Auftritten festigt sie ihren Ruf – als Irre, aber auch als "Königin der Tretkurbel", wie manche Zeitungen sie ehrfurchtsvoll nennen.
Auch nach Kriegsende bleiben Radrennen Männern vorbehalten. Erst 1924 bietet sich Alfonsina wieder eine Chance: Ein Streit zwischen dem Veranstalter des Giro d’Italia und den Spitzenfahrern eskaliert, das Rennen wird auch für Amateure ausgeschrieben, droht jedoch ohne große Namen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Teilnahme Alfonsinas ist so eine willkommene Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Sie erhält die Startnummer 72.
Der Besenstiel
Alfonsinas Giro ist eine Achterbahn der Gefühle. Vor dem Start sind sich Presse, Tifosi und Konkurrenten einig, dass ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Schon am ersten Tag stürzt sie schwer, die Blessuren begleiten sie lange. Aber sie beißt sich durch, verdient sich den Respekt des Publikums – und den ihrer Konkurrenten: 89 Teilnehmer sind neben ihr in Mailand gestartet, jeden Tag geben Fahrer auf, Alfonsina jedoch schafft immer das Zeitlimit und lässt im Tagesklassement so manchen männlichen Starter hinter sich. Nach der Etappe nach Rom überreicht ihr ein berittener Bote des Königs einen Blumenstrauß und 5000 Lire, in Neapel wird sie von einer begeisterten Menge auf Händen getragen.
Doch am nächsten Tag muss sie bei einem Zugtransfer in der Holzklasse sitzen – im Frauen-Wagon – statt beim Giro-Tross. Bei der sechsten und siebten Etappe schwinden ihre Kräfte, sie wird jeweils Etappenletzte. Und dann noch der Sturz im Regen, der gebrochene Lenker: Alfonsina sitzt verzweifelt am Straßenrand, alles scheint verloren. Doch plötzlich steht eine alte Frau neben ihr. Sie spricht in unverständlichem Dialekt, bringt Alfonsina aber wieder auf die Beine. Die zeigt auf den gebrochenen Lenker, woraufhin die alte Frau von einem nahe gelegenen Bauernhof einen Besenstiel holt. Den bricht sie in zwei Hälften, bindet ihn mit einer dicken Schnur an Gabelkrone und Rahmen fest, Alfonsina montiert die Bremsen – und weiter geht die Fahrt.
Im Etappenziel in Perugia hat Alfonsina fast vier Stunden auf den Sieger verloren und ist aus dem Zeitlimit gefallen. Doch ähnlich wie schon Tage zuvor bei einigen männlichen Teilnehmern bietet der Veranstalter ihr an, außer Konkurrenz weiterzufahren. Wenige Tage später wird Alfonsina in Mailand von einer begeisterten Menschenmenge im Ziel des Giro d’Italia 1924 empfangen – als erste und bis heute einzige Frau, die jemals die Italienrundfahrt der Männer absolviert hat.
Ihre Leistung macht sie weltberühmt. Echte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau wird Alfonsina aber bis zu ihrem Tod 1959 nicht erleben. Heute ist der Giro d’Italia Women eines der wichtigsten Etappenrennen im Frauenradsport – nicht zuletzt ein Verdienst von Pionierinnen wie Alfonsina Strada. Von einer medialen Berichterstattung und Preisgeldern wie bei den Männern kann allerdings auch heute noch nicht die Rede sein. © Bike-X
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