Unterfahrschutz entschärft das mörderische Metall von den Stützpfosten der Leitplanken. Für stürzende Motorradfahrer gibt es aber weitere große Risiken.
Am 28. Juni 2019 biegt das Leben von Thomas Kindt einfach rechts ab, Richtung Rollstuhl. Thomas ist ein sehr erfahrener Motorradfahrer, hat diverse Ducatis. Der damals 55-jährige Desmo-Fan fährt an jenem Freitag bloß eine kurze Runde durch seine fränkische Heimat. Eine Woche später sollte es auf dieser Ducati 1198 S zum Sachsenring-GP gehen. Aber es kam alles anders, ganz anders.
Video: Sicherheitskringel auf der Strasse
Vermutlich sorgte Öl-Fleck für Grip-Verlust
"Ich war nicht zu schnell, sondern relaxed im Sporttouring-Modus unterwegs, freute mich noch, wie schön die Stadt Spalt von oben aussieht." Unvermittelt klappt in einer lang gezogenen Rechtskurve das Vorderrad ein, plötzlicher Grip-Verlust. Hinterher hieß es, Tage zuvor habe ein Traktor dort Öl verloren. Hatte die Feuerwehr mit Bindemittel entfernt. Der Gutachter wird später aussagen, Thomas Kindt sei nicht über einen Ölfleck gefahren. Jetzt rutscht er erst mal. "Wie ein Maikäfer auf dem Rücken – Hände nach oben, Füße noch unten." Noch fünf Meter. ",Das ist jetzt aber schlecht für die Hochzeit meiner Tochter am nächsten Tag‘, dachte ich noch bei mir." Dann der Einschlag. Erst die Ducati. "Sie blieb komplett unter der Leitplanke stecken." Dann Thomas. Hart bohrt sich der Stützpfosten in seinen linken Brustkorb, bricht ihm sämtliche Rippen, zerfetzt die Milz. Arme und Beine bleiben heil, doch die Wirbelsäule ist gebrochen.
Vollgepumpt mit Adrenalin
Eine Ärztin sieht den Crash, versorgt Thomas sofort mit Infusionen. Bald kommen die Rettungssanitäter. Nur mit viel Mühe können sie den Menschen vom Metall befreien und auf die Trage legen. "Da ging dann bei mir das Licht aus", erinnert sich Thomas Kindt. "Schmerzen hatte ich bis dahin keine, da bist du so mit Adrenalin vollgepumpt." Mit Krankenwagen und dann Helikopter geht’s ins Klinikum Nürnberg zur lebensrettenden Not-OP. 17 Tage liegt Thomas auf der Intensivstation. Die Diagnose: Paraplegie, vollständige Lähmung beider Beine. Zu lang war sein Rückenmark gequetscht. "Da sind die Nervenbahnen abgestorben." Es folgen vier Monate in einer Spezialklinik für Rückenverletzungen, drei Monate Reha.
Seinen Beruf muss der gelernte IT-Techniker an den Nagel hängen. Nur seinen Lebensmut, den konnte das Stück mörderisches Metall dem Franken nicht nehmen. Er hortet weiter zwei Ducatis, fährt nun Can-Am Spyder mit drei Rädern. "Traumatisiert bin ich nicht." Unfälle wie die von Thomas Kindt haben große Folgen für den Betroffenen, seine Angehörigen, die Allgemeinheit.
Unfalltypenkarten bei den Straßenbauämtern
In den rund 250 Straßenbauämtern in Deutschland verdeutlichen farbige Stecknadeln auf "Unfalltypenkarten" oder spezielle Computerprogramme verschiedene Unfalltypen und -schwere im Zuständigkeitsbereich: Fahr-Unfall, Abbiege-Unfall, Einbiegen-/Kreuzen-Unfall, Überschreiten-Unfall, Unfall durch ruhenden Verkehr, Unfall im Längsverkehr oder sonstiger Unfall.
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Dramatische Folgen wären vermeidbar gewesen
Auch der "Fahr-Unfall" von Thomas Kindt bekam ein Symbol. Schicksal? Zufall? Ein technisches Problem? Die dramatischen Folgen wären auf jeden Fall vermeidbar gewesen. Bei Motorradrennen mit freien Sturzräumen verlaufen selbst spektakuläre Stürze bei hohen Tempi samt langer Rutschpartien meist glimpflich. Anders sieht es im öffentlichen Straßenraum aus. Gestürzte Fahrer können ihre Bewegungsrichtung kaum steuern. Über den Asphalt rutschend, bauen sie nur langsam Geschwindigkeit ab. Entsprechend hoch ist die kinetische Restenergie bei einem Aufprall, wie an Schutzplanken, besser bekannt als Leitplanken.
Wer mit einem Motorrad stürzt, egal ob auf Rollsplit, Öl oder Glätte, weil er von einem Autofahrer "abgeschossen" wird oder das Vorderrad in Schräglage ohne ABS überbremst hat, kann sie auch als Leidplanken erleben: Durch den schlagartigen Abbau der Bewegungsenergie am recht kleinen Bereich des Stützpfostens (Druck ist Kraft pro Fläche!) kann es zu schweren Knochenbrüchen bis hin zum Genickbruch, Quetschungen, Stauchungen oder zum Abriss von Gliedmaßen kommen.
Das "Merkblatt zur Verbesserung der Straßeninfrastruktur für Motorradfahrende 2021" schreibt: "Jeder sechste Verkehrstote in Deutschland war mit Motorrad unterwegs. Drei Viertel verunglücken auf typischen Motorradstrecken: außerorts, in landschaftlich reizvollen Gegenden mit kurvenreichem Streckenverlauf."
Über 1.000 Leitplanken-Schicksale in einem Jahr
2003 starben bei Alleinunfällen motorisierter Zweiräder (inklusive Kleinkrafträdern) innerhalb und außerhalb von Ortschaften 78 Menschen beim Anprall an Schutzplanken. Zudem wurden 541 Personen dabei schwer und 424 leicht verletzt. Also über 1.000 Schicksale in einem Jahr.
Fast seit seiner Gründung 1981 ist das Institut für Zweiradsicherheit (ifz) mit dem Problem der Schutzplankenunfälle motorisierter Zweiräder konfrontiert. 1984, vor 40 Jahren, veröffentlichte es die erste aus Unfallanalysen abgeleitete Studie "Der Körperanprall gegen Schutzplanken beim Verkehrsunfall motorisierter Zweiräder". 1989 wurden die Belange der Zweiradfahrer dann endlich in die "Richtlinien für passive Schutzeinrichtungen an Straßen" übernommen. Bei Neu- bzw. Umbauten von Schutzplanken werden seither Sigma-Pfosten verwendet, nicht mehr scharfkantige Doppel-T-Träger.
Jeder 12. Unfall an Schutzplanken endete tödlich
Eine Verbesserung, aber längst keine Lösung, wie das ifz mehr als 20 Jahre später feststellt. "Im Jahr 2011 endete jeder zwölfte Unfall mit einem motorisierten Zweirad an Schutzplanken tödlich. Jeder dritte Getötete bei Alleinunfällen verstarb bei einem Anprall an Schutzplanken (2011: 74 Getötete). Die Wahrscheinlichkeit, beim Aufprall an einer Schutzplanke tödlich zu verunglücken, ist achtmal größer als beim Unfall ohne Hindernis."
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Wie lässt sich das Thema am Straßenrand entschärfen?
Wie also lässt sich das leidige Thema am Straßenrand entschärfen? Überflüssige Leitplanken abmontieren? Schöne Idee. Doch vor Gräben, Abhängen oder Hindernissen sind sie sinnvoll. Allerdings dienen Leitplanken, die vor Kollisionen bewahren sollen, primär dazu, aufprallende Pkw und Lkw abzuhalten. Daher müssen sie steif und stabil sein. Ein Dilemma fürs Zweirad.
Seit den 80er-Jahren werden an Unfallschwerpunkten Leitplankenpfosten mancherorts mit Anpralldämpfern ummantelt, oft gespendet von Motorrad-Initiativen. Seit 1997 sind sie genormt, doch sie sind wenig witterungsbeständig und schützen nur bedingt: Ihre getestete Wirksamkeit reicht gerade bis 32 km/h. Ihre Aufprallfläche bleibt recht klein, die wirksamen Kräfte sind somit hoch. Gegen die Gefahr des Hängenbleibens an der Planke oder dem ummantelten Pfosten, etwa mit dem behelmten Kopf, wappnet das Styropor nicht; seine Lebensdauer beträgt bestenfalls fünf Jahre. Tödliche Verletzungen sind nicht passé.
Unterfahrschutz "Typ Euskirchen" als Lösung
1998 adaptierte das Rheinische Straßenbauamt Euskirchen mit seinem rührigen Amtsleiter Helmut Nikolaus eine bessere Idee aus Frankreich: Hier in der Voreifel, nah am Nürburgring, rüstete es in gefährlichen Kurvenabschnitten die "Einfache Schutzplanke" (ESP) nachträglich mit einer zusätzlichen unteren Planke aus dünnem Stahlblech aus – und setzte das Projekt mit viel Engagement beim Verkehrsministerium in NRW als "Modellversuch" durch. Der Unterfahrschutz "Typ Euskirchen" war damit in Deutschland angekommen.
Er vereint viele Vorteile: Jeder Abschnitt wird mittels zweier Aufhängelaschen an der bestehenden Leitplanke befestigt, nicht an den Pfosten. Die nötigen Bohrungen sind ohnehin vorhanden, das macht die Montage einfach und schnell; die vor Korrosion schützende Verzinkung bleibt vollständig erhalten. Der Preis: Damals zwölf bis 18 Euro pro Meter – Geld, von dem Menschenleben abhängen können. Ferner federt das komplett elastisch aufgehängte System in ganzer Länge leicht nach hinten und nimmt so Verformungsenergie auf. In Längsrichtung gibt es keine Lücken oder Vorsprünge, ein in spitzem Winkel anprallender Fahrer kann an der unteren Planke entlanggleiten, ohne hängen zu bleiben oder auf die Fahrbahn zurückgeschleudert zu werden. So wird die Bewegungsenergie langsam und schonend abgebaut.
Im Juli 2000 prallte ein Motorradfahrer auf der B 258 bei Schleiden (NRW) im flachen Winkel mit rund 100 km/h gegen eine Schutzplanke mit Unterfahrschutz. Diesen nannte er später "lebensrettend", bedankte sich bei der Straßenbauverwaltung: "Ich weiß gar nicht, wie ich das gutmachen kann." Zwischen Unterfahrschutz und bestehender Leitplanke bzw. Bankett (Boden) soll der Abstand im Idealfall jeweils maximal fünf Zentimeter betragen. Dies verhindert ein mögliches Durchrutschen von Armen oder Beinen samt ruckartigem Zug.
Video: Die Sicherheitstrainings vom MOTORRAD action Team
Euskirchener Unterfahrschutz in ganz Deutschland
Anfang 2003 genehmigte die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) nach langer Prüfung den Euskirchener Unterfahrschutz für prädestinierte Streckenabschnitte in ganz Deutschland. Im gleichen Jahr entstand die Organisation MEHRSi ("mehr Sicherheit für Motorradfahrer"). Ihr Ziel: mehr Unterfahrschutz. Monika Schwill, Geschäftsführerin der gemeinnützigen GmbH (Spenden sind steuerlich abzugsfähig) macht den Unterfahrschutz seither zu ihrer Lebensaufgabe. Sie informiert im Dauereinsatz, inspiziert Problemstrecken, berät Behörden, hält Kontakt zu anderen Institutionen, ist Ansprechpartnerin für Unfallopfer und Angehörige.
Doch es wird nicht einfacher: Das System Euskirchen ist mit den neuen Einfachschutzplanken "Eco-Safe" nicht kompatibel. Hier stehen die Pfosten näher, alle zwei und nicht bis zu vier Meter wie bisher. Ein Anprall ist da sehr wahrscheinlich. Also ließen MEHRSi und die "Gütegemeinschaft Stahlschutzplanken e.V." einen neuen Unterfahrschutz "Eco-Safe MPS" offiziell zertifizieren (Kosten allein dafür: 20.000 Euro) und in die Freigabeliste der BASt aufnehmen. "Das Thema Unterfahrschutz wäre sonst wohl in der Versenkung verschwunden", sagt Kay Blanke vom Hamburger Zubehör-Multi Louis, einem treuen Unterstützer von MEHRSi.
Bundestag gegen flächendeckende Einführung
Problem also entschärft? Leider nicht. "Der Verkehrsgerichtstag hat 2016 wegen der überzeugenden Wirksamkeit der Unterfahrschutzsysteme Programme zu einer umfassenden Installation bei Kurven kleiner als 300 Meter Radius angemahnt," berichtet das ifz. Obwohl die motorradfahrenden SPD-Bundestagsabgeordneten Ute Vogt und Peter Struck (†) die Schirmherrschaft für MEHRSi übernahmen, sprach sich der deutsche Bundestag 2019 gegen einen Antrag der "Linken" auf flächendeckende Einführung von Unterfahrschutz aus, vermutlich aus Kostengründen.
Kristian Schmidt, EU-Koordinator für Straßenverkehrssicherheit, sagt im "Verkehrssicherheitsreport 2024" der Dekra: "Die Infrastruktur ist für rund 30 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle maßgeblich. Während Straßen mit gutem Instandhaltungszustand das Unfallrisiko senken, verringern Fehler verzeihende Straßen den Schweregrad von möglichen Unfällen."
Solch eine "Fehler verzeihende Straße" war Thomas Kindt nicht vergönnt. Nach seinem Unfall hat er mit dem Ducati Desmo Owners Club Mittelfranken, dessen Präsident er ist, 1.000 Euro für MEHRSi "zusammengetrommelt". Als die Planken-Profis den Hintergrund erfuhren, setzten sie sich mit dem Landratsamt Roth in Verbindung und initiierten einen Unterfahrschutz an eben jener Unfallstrecke. Die Kosten von 18.000 Euro inklusive nachgiebiger Kurvenleittafeln aus Kunststoff teilten sich MEHRSi und das Landratsamt Roth. An dieser Stelle wird wohl kein Motorradfahrer mehr schwer verunglücken. © Motorrad-Online
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