Viele laufen nicht um Bestzeiten, sondern um das seelische Gleichgewicht und das Selbstwertgefühl zu stärken. Psychologe Alexander Weber im Interview.

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Vor fünfzig Jahren brachte Alexander Weber, 86, die Lauftherapie aus den USA nach Deutschland. In einer richtungsweisenden Umfrage stellte er fest: Viele Laufveranstaltungen basieren auf einem Missverständnis: Die allermeisten laufen gar nicht um Bestzeiten, sondern um Freundschaft, Gesundheit und Glück. Er selbst darf nicht mehr laufen. Dafür singt er jetzt.

RUNNER’S WORLD: Herr Weber, vor mehr als 50 Jahren entdeckten Sie am eigenen Leib, wie sehr Laufen als Antidepressivum wirken kann. Wie kam das?

Alexander Weber: Ich hatte eine junge Familie und war als wissenschaftlicher Assistent bestrebt, eine Karriere als Hochschullehrer aufzubauen. Ich stand nach ein paar sehr anstrengenden Jahren am Rand eines Burn-out mit Schlafproblemen, häufigeren Kopfschmerzen, Versagensängsten. Da nahm ich mir eine kleine Auszeit mit langsamen Dauerläufen an frischer Nordseeluft am ostfriesischen Deich.

Soweit, so banal. Was löste bei Ihnen das Aha-Erlebnis aus?

Ich staunte, wie schnell eine Veränderung eintrat und es mir besser ging. In meinem Lauftagebuch notierte ich: "auffällig eindeutige Stimmungsveränderung" und "gehobenere, angenehmere Grundstimmung im Vergleich zu vorher". Als Psychologe wurde ich neugierig: Bin ich damit alleine, oder geht es anderen Menschen ähnlich? Falls ja, schrieb ich damals, dann "sollte das Konsequenzen haben, die zurzeit noch gar nicht abzuschätzen sind". Mit diesem Eintrag begann mein Forschungsprojekt zur Frage: Warum machen so viele Menschen Dauerlauf, was bewegt sie dazu?

Aber die Motivation beim Joggen schien doch klar zu sein: um abzunehmen und fit für den Beruf zu sein.

Ja, viele Beobachter damals schrieben gegen eine "Trimm-Dich-Ideologie" an und behaupteten, beim Laufen gehe es "um die körperliche Bestform für den Konkurrenzkampf im Berufsalltag". Mein eigenes Erleben war ein ganz anderes. Beim Laufen entspanne ich mich und komme zur Ruhe. Ging es auch anderen so? Ich war damals Dozent an der Uni Paderborn, startete Anfang der 80er mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine empirische Erhebung an Läuferinnen und Läufern, die an Volksläufen in Deutschland teilnahmen. Insgesamt werteten wir über 900 Fragebögen aus. Die Ergebnisse waren total überraschend.

Nämlich?

Was glauben Sie, was bei der Frage nach der Motivation an erster Stelle kam?

Körperliche Fitness, um besser rüberzukommen in Job und Liebe?

Falsch! Der Faktor, "Seelisches Gleichgewicht" erhielt den höchsten Varianzanteil, das meiste Gewicht! Genau das, was ich bei mir selbst einige Jahre zuvor beobachtet hatte. Dass ich das mit dem Befragungsbefund bestätigen konnte, das fand ich phänomenal!

Abnehmen, Fit aussehen, all das spielte kaum eine Rolle in den Selbstaussagen – kann das sein?

Das Aussehen spielte zumindest eine viel kleinere Rolle als seinerzeit gedacht: erst an vierter Stelle, nach "Vitalisierung" und nach "Verbessertes Selbstgefühl". All das deutete ganz klar darauf hin: Viele Jogger betreiben mit ihrem Sport eine Art Selbsttherapie, unter anderem auch gegen depressive Verstimmungen. "Mein Lebensgefühl ist stärker geworden", schrieb ein 43-jähriger Akademiker. "Ich erlebe intensives Pulsieren des Blutes, ein sich weit öffnendes körperliches Gefühl, das ich als angenehm empfinde", schrieb ein anderer.

Gab es weitere Überraschungen?

Ja, damals galten Läufer eher als Eigenbrötler und Einzelkämpfer. In unserer Befragung dagegen gaben viele an, dass sie in Laufgruppen Geselligkeit suchen. Über die Hälfte der Befragten vermerkte, dass sie "lieber mit Partnern" laufen. Nur 37 Prozent gaben an, dass sie gerne alleine laufen. Eine Wiederholung der Untersuchung von vor 50 Jahren ist angedacht. Wir sind gespannt, ob und wie sich die Motivation bei Läuferinnen und Läufern verändert hat.

Machen Sie mit bei unserer neuen Umfrage zur Laufmotivation:

Warum laufen Sie?

Diese Suche nach Gemeinschaft und Geselligkeit erinnert ja schon fast an die Welle an Laufgruppen, die seit ein paar Jahren in Mode sind, von »Run n Rave« über den »Girl Brunch Run« bis zum »Drinking Club with a Running Problem«.

Ja, diese Laufgruppen machen etwas sichtbar, was vor Jahrzehnten vielen Läufern gar nicht so klar war: Wir Läufer wollen uns vor allem wohlfühlen und suchen Gemeinschaft. Fitness und Wettbewerb dagegen spielen eher eine Nebenrolle. Dennoch steht der Wettbewerbsgedanke oft im Zentrum der Aufmerksamkeit, wie in einem Zerrspiegel. Damals redeten Vereine, Veranstalter und Öffentlichkeit uns Läufern ein, dass es in der konkurrenzorientierten Massengesellschaft vor allem darum gehe, sich mit Konkurrenten zu messen. Bei vielen führte das zu außengeleiteten Zielen, weil sie glaubten, dass das angemessen und richtig sei. Erst durch unsere damalige Befragung wurde klar: Viele Jogger streben nach etwas ganz anderem.

Wie ging es weiter?

Wir stellten uns vor: Wenn das Laufen ein so wirksames Antidepressivum ist, dann sollten wir das unter die Leute bringen. Wir gründeten im Jahre 1988 das Deutsche Lauftherapiezentrum (DLZ), das erste seiner Art in Deutschland und Europa. Nach den Grundsätzen: Langsam anfangen, nicht überfordern, auf die Stimme des Körpers hören und so weiter. Im Laufe der folgenden drei Jahrzehnte haben wir über tausend Lauftherapeutinnen und Therapeuten ausgebildet. [Anmerkung der Redaktion: Die Lauftherapeuten-Ausbildung wird nach dem gleichen Konzept in der LAUF-AKADEMIE fortgeführt.]

Sie selbst trainierten damals eher auf Leistung. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja, ich war bei zahlreichen Läufen beim oberen Prozent der Läufer dabei, häufig Gewinner meiner Altersklasse. Das bezog sich aber auf 10-km-Läufe. Und vor ein paar Jahren habe ich auch noch einen 10-km-Lauf in meiner Altersklasse gewonnen, mit einer Zeit unter 50 Minuten. Im Marathon dagegen war ich nie besonders gut, habe versucht, unter drei Stunden zu kommen, aber meine Bestzeit blieb bei 3:01 Stunden, das hat sich für mich nicht so toll gefühlt.

Wie kamen Sie selbst zum Laufen?

Ich hatte früh geheiratet, schon früh zwei kleine Kinder, aber noch nicht den Doktortitel. Ich war Anfang dreißig, hatte lediglich eine wissenschaftliche Assistentenstelle, arbeitete unermüdlich intensiv an meiner Promotion. Die Konkurrenz war hart, auf jede ausgeschriebene Stelle gab viele Bewerbungen. Ich bekam Kopfschmerzen, oft arbeitete ich bis zwei Uhr morgens, danach konnte ich immer noch nicht einschlafen. Ich verfiel oftmals in Grübelei bis hin zur Depression. In dieser Situation riet mir ein befreundeter Arzt: Geh doch mal Laufen, nicht für einen Wettkampf, sondern nur so für dich!

Wie war der Effekt?

Ich lief zweimal die Woche, begann, regelmäßig mein Lauftagebuch zu schreiben. Bald zeigte sich: das langsame Laufen wirkt. Meine Kopfschmerzen wurden weniger, ich konnte besser einschlafen, auch meine negativen Gefühle verflüchtigten sich. Durch meine eigene, private Lauftherapie spürte ich plötzlich die Kraft der Selbstwirksamkeit.

Wie reagierte Ihre akademische Konkurrenz auf Ihre Forschung?

Die Lauftherapie und das ganze Drumherum, das war alles Neuland. Das Joggen war von der Psychologie bisher kaum beachtet und erforscht. Die Kollegen aus der Sportdisziplin waren eher ablehnend, die hatten das Gefühl, dass da ein Fachfremder in ihrem Gebiet wildert.

Aber in den USA gab es doch derlei Forschung schon längst?

Ja, in den USA wurden in den 1970er Jahren erste Studien in Psychologie und Psychotherapie veröffentlicht. Ich konnte mir selbst ein anschauliches Bild von praktischer Lauftherapie bei dem Psychiater John Greist machen. Er behandelte eine Gruppe von Patienten, die an reaktiven Depressionen litten. Die einen behandelte er medikamentös mit Antidepressiva, andere behandelte er nichtmedikamentös mit Lauftherapie. In beiden Gruppen erzielte er vergleichbar gute Ergebnisse. Ähnliche Beobachtungen machten auch die US-Mediziner Thaddeus Kostrubala und George Sheehan bei ihren Patienten. Von diesen Pionieren konnte ich viel lernen.

1974 fand auch der erste Berlin-Marathon statt, mit 286 Teilnehmenden. Fünfzig Jahre später rannten dagegen über 54 000 Menschen mit. Was befeuert diese Lauf-Welle?

Die Joggingwelle kam damals aus den USA herübergeschwappt. Die Amerikaner waren uns um Jahre voraus. Laufen hat viele Vorteile, es ist billig und passt perfekt in eine flexible Wochenplanung hinein. Auch dann, wenn man viel unterwegs ist. Zum Laufen braucht man fast gar nichts, nur Schuhe und etwas Zeit. Man muss sich nicht verabreden, man muss die Wochenenden nicht verplanen wie beim Fußball. Rein äußerlich passt also das Laufen gut in unsere individualisierte Arbeitsgesellschaft.

Das heißt, die Leistungsgesellschaft brachte zwar viele zum Laufen, aber unterwegs kamen vielen von ihnen die sportlichen Ambitionen abhanden zugunsten von Wohlfühlfaktoren?

Ja, anfangs folgte die Joggingwelle teils noch stark dem Leistungsprinzip. Viele Läufer dachten anfänglich, sie müssten auf Bestzeiten hin trainieren. Bis Befragungen wie meine dann ganz klar zeigten: Die meisten Menschen laufen vor allem für ihr seelisches Gleichgewicht. Die Fitness ist ein Nebeneffekt. Sie wollen nicht in erster Linie Bestzeiten erreichen, sondern Niedergeschlagenheit, Ängsten, Stress und Bewegungsmangel entgegenwirken.

Bemerkte das jeder und jede für sich alleine?

Nein, denn das war ja die nächste Überraschung: Die meisten laufen gerne gemeinsam. Genau diese Einsichten, und wie man sie umsetzen kann, das haben wir in unseren Seminaren im Deutschen Lauftherapie-Zentrum in Bad Lippspringe bei Paderborn über 30 Jahre lang versucht zu vermitteln.

Laufen Sie selbst noch?

Nein, bis vor drei Jahren habe ich fast jedes Jahr das Goldene Sportabzeichen gemacht. Dann bekam ich wie aus heiterem Himmel die Diagnose: Hodgkin-Lymphom. Ich war völlig am Boden. Fünf Monate lang musste ich eine Chemotherapie machen, dabei verlor ich acht Kilogramm. Die Ärzte rieten: Lassen Sie die Lauferei mal lieber, um Ihr Immunsystem zu schonen. Seit gut zweieinhalb Jahren bin ich symptomfrei und habe mein altes Gewicht wieder. Ich bin vom Läufer zum Wanderer geworden und gehe fast täglich zwischen vier und acht Kilometer. Und ich singe noch viel, ein anderes Hobby von mir seit meiner Jugend.

Singen als Ersatz fürs Laufen?

Singen und Laufen haben viel gemeinsam. Das richtige Atmen ist bei beiden Disziplinen ganz wichtig, allerdings in unterschiedlicher Richtung: Beim Laufen atmet man lang ein und kurz aus, beim Singen andersherum. Ich singe, wann immer ich kann. Solo singe ich vorzugsweise klassische Klavierlieder. Aber seit 2003 singe ich auch in einem 12-Mann-Ensemble, wir nennen uns "Die Herren Vocalisten". Wir haben auch schon CDs aufgenommen.

Was singen Sie besonders gern?

Die Trainingspläne von RUNNER’S WORLD
Mit einem Trainingsplan von RUNNER’S WORLD erreichen Sie Ihr Laufziel! Für jedes Fitnesslevel vom Laufeinstieg bis zum Marathon.

Ach, eigentlich vieles: Bach, Romantik, Schumann, aber auch Comedian Harmonists, Tangos oder Volkslieder. Und natürlich Schubert, die Winterreise (er beginnt zu singen): "Fremd bin ich einzogen, fremd zieh ich wieder aus….« Das Singen ersetzt vieles, was ich am Laufen geschätzt habe: Es bringt mich mit Freunden zusammen, hält mich gesund und glücklich. Mein Motto: Ich möchte gern möglichst jung sterben – und das so spät wie möglich.

Das Interview führte Hilmar Schmundt. Die Fotos schoss Marcus Vogel bei einem RUNNER’S-WORLD-Shooting im Frühjahr 2012.  © Runner’s World

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