Wie sehr diskriminiert unser Gesundheitssystem bestimmte Gruppen? Dieser Frage widmet sich die Ärztin Sabina Schwachenwalde. In ihrem Buch plädiert sie daher für ein gerechteres Gesundheitssystem. Im Interview erklärt sie, welche Ungerechtigkeiten sie in diesem Zusammenhang meint und welche Gruppen besonders benachteiligt werden.
Sie können das Gesundheitssystem sowohl aus der ärztlichen als auch aus der patientenseitigen Perspektive betrachten. Erklären Sie uns bitte, wie es zu diesen beiden Blickwinkeln gekommen ist.
Sabina Schwachenwalde: Nach meinem Medizinstudium bin ich mitten in der Zeit der Pandemie in mein Berufsleben gestartet und habe für kurze Zeit im Bereich der Gynäkologie und Geburtshilfe ärztlich gearbeitet. Bei der Arbeit im Krankenhaus habe ich mich mit Covid infiziert, woraus sich ein Post-Covid-Syndrom entwickelte. Dadurch hat sich mein Leben stark geändert, für die meisten alltäglichen Dinge reichte plötzlich die Kraft und die Konzentration nicht mehr. Ich war viele Jahre krankgeschrieben und habe eindrücklich erlebt, wie es sich anfühlt, in Kliniken und Praxen plötzlich auf der Seite der Patientinnen und Patienten zu sitzen.
Aus Ihren Erfahrungen und Eindrücken ist Ihr Buch "Ungleich behandelt – Warum unser Gesundheitssystem die meisten Menschen diskriminiert" entstanden. Sie plädieren darin für gerechtere Gesundheit. Worin genau liegen die Ungerechtigkeiten?
Viele Menschen werden im Gesundheitssystem medizinisch und menschlich schlecht behandelt, weil ihre Lebensrealitäten nicht berücksichtigt werden und ihre Körper in unseren festgelegten Normen nicht abgebildet sind. Wer zum Beispiel eine dunkle Haut hat, bei dem werden Hautkrankheiten seltener richtig erkannt. Wer einen Rollstuhl benutzt, hat zu den meisten Praxen keinen Zugang. Wer schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren hat, erlebt manchmal eine Retraumatisierung in der Klinik. Wer in Armut lebt, kann sich die verschriebenen Medikamente vielleicht nicht leisten. Dafür gibt es bisher kaum Bewusstsein in Ausbildung und Klinikalltag.
Die Schieflage des Gesundheitssystems scheint ziemlich ausgeprägt zu sein.
Das ist sie, denn die meisten Menschen erfahren auf die eine oder andere Weise eine Diskriminierung oder Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem, das gilt für die persönliche genauso wie die strukturelle Ebene. So ist es beim Beispiel der Forschung: Die Erkrankungen, die besonders viele Menschen betreffen und besonders viel Leid verursachen, sind leider nicht die, zu denen besonders viel geforscht wird. Stattdessen ist der Großteil unseres medizinischen Wissens auf privilegierte Menschen ausgerichtet, denn meist sind es Menschen mit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht, die entscheiden welche Hypothesen geprüft werden, welche Projekte gefördert und welche Krankheiten in den Mittelpunkt gestellt werden.
Hat diese Schieflage auch zur Folge, dass marginalisierte Menschen, die an einer schweren Krankheit erkranken, möglicherweise schneller sterben als Nicht-marginalisierte?
Ich bin davon überzeugt, dass es da durchaus einen Zusammenhang gibt, auch wenn wir mehr Daten im großen Stil zu solchen Themen brauchen. Wir wissen aber schon jetzt, dass marginalisierte Gruppen mit ihren Beschwerden häufig weniger ernst genommen werden, was zu gefährlichen Krankheitsverläufen führen kann. Eigentlich logisch: Wird zum Beispiel das körperliche Warnsignal Schmerz nicht ernst genommen, wie es häufig bei Menschen, die negativ von Rassismus betroffen sind, passiert, dann können potenziell tödliche Erkrankungen übersehen werden.
Marginalisierte Menschen sind außerdem inner- und außerhalb des Gesundheitssystems häufiger von Gewalt und ihren gesundheitlichen Folgen betroffen. Und wir haben zum Beispiel gesehen, dass während der Corona-Pandemie Menschen mit Migrationserfahrung überproportional häufig an Covid gestorben sind, unter anderem aufgrund ihrer schlechteren Arbeits- und Wohnverhältnisse. Wir wissen auch, dass armutsbetroffene Menschen im Schnitt bis zu acht Jahre früher sterben als sozioökonomisch privilegierte Menschen.
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Wiederholte Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen machen uns aber auch insgesamt anfälliger für alle möglichen Krankheiten, zum Beispiel hängt eine chronische Stressreaktion des Körpers mit dem Entstehungsmechanismus von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammen. Und traumatische Erfahrungen können sogar in gewisser Weise vererbt werden, sodass auch Menschen deren Vorfahren viel Gewalt und Ausgrenzung erfahren haben, anfälliger für Krankheiten zu sein scheinen.
Immer wieder heißt es, dass wir in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hätten. Aber für wen genau haben wir dieses besagte beste System?
Die Medizin ist auf eine Art "Standard-Mensch" ausgerichtet. Dieser ist männlich, weiß, schlank, jung, nicht behindert, nicht queer und nicht arm. Alle anderen Menschen fallen aber mal mehr, mal weniger durchs Raster. Wer sich Zuzahlungen zu Therapien nicht leisten kann, dem nutzen sie wenig. Wer Menschen verschiedener Geschlechter liebt, dessen sexuelle Gesundheit ist nicht in den Leitlinien berücksichtigt. Wer nicht in bestimmte Körpernormen passt, für den passen die gängigen Algorithmen nicht. Wer dunkle Haut hat, bekommt von medizinischen Geräten mit Lichtschrankentechnologie falsche Werte ausgespuckt. Und wer einen weiblichen Hormonstoffwechsel hat, reagiert anders auf Medikamente.
Welche Gruppen werden Ihrer Meinung nach in unserem Gesundheitssystem besonders marginalisiert?
Es ist schwierig und nicht ungefährlich, verschiedene Diskriminierungsformen gegeneinander abzuwägen. Dennoch gibt es Zahlen und Erfahrungsberichte, die auf besonders häufige schlechte Behandlung zum Beispiel von muslimisch gelesenen Menschen, trans und intergeschlechtlichen Menschen und Menschen mit Behinderung hinweisen. Besonders für mehrfach marginalisierte Menschen, die mehrere Merkmale in sich vereinen, kann das Gesundheitssystem ein unangenehmer und teils gefährlicher Ort sein.
Wird das Problem der Diskriminierung Ihrer Meinung nach durch private Krankenversicherungen noch weiter verstärkt?
Die Unterscheidung zwischen privat versicherten, gesetzlich versicherten und Menschen ohne Krankenversicherung im derzeitigen System bewirkt eindeutig eine Ungleichbehandlung dieser verschiedenen Gruppen und fördert Diskriminierung. Dass privat Versicherte schneller Termine in Praxen bekommen und eine Sonderbehandlung in Kliniken erhalten, ist längst kein Geheimnis mehr. Allerdings werden diese Menschen teils auch überbehandelt. Das heißt, es werden zum Beispiel eher unnötige Operationen durchgeführt, weil diese sich gut abrechnen lassen. Bei gesetzlich Versicherten sind die Zeiten und Ressourcen knapper bemessen. Wer oft komplett vergessen wird, sind die Menschen ohne Krankenversicherung.
Haben marginalisierte Gruppen überhaupt eine Chance auf eine Behandlung auf Augenhöhe?
Wir sehen, dass sich etwas tut, dass zum Beispiel Gendermedizin mehr Beachtung findet und vor allem Medizinstudierende und jüngeres medizinisches Personal sich gegen Diskriminierung einsetzen. Es gibt bereits selbstorganisierte Gesundheitszentren, die versuchen, die sozialen Faktoren von Gesundheit zu berücksichtigen und eine Anlaufstelle sind für die, die im sonstigen System nicht gut aufgehoben sind. Um wirklich ein gerechteres Gesundheitssystem für möglichst viele Menschen zu haben, muss aber noch viel passieren. Der erste Schritt wäre sicherlich, überhaupt erst einmal ein Problembewusstsein zu entwickeln und in Ausbildungen und Studiengängen für medizinisches Personal systematisch Räume für Sensibilisierung und Selbstreflexion zu verankern.
Was raten Sie marginalisierten Gruppen, wenn es darum geht, Sichtbarkeit bei medizinischem Fachpersonal zu erzeugen?
Auf die konkrete Behandlungssituation bezogen ist es oft hilfreich, eine vertraute Person mitzubringen, die einem den Rücken stärkt und eine gute Behandlung einfordert, sodass nicht allein die kranke Person dies tun muss. In vielen Kliniken kann man sich auch an Patientenvertretungen wenden, die sich für ihre Rechte einsetzen. Allgemein gesprochen ist es sicher gut, sich mit anderen zusammenzutun und auszutauschen, wie es in Selbsthilfegruppen oder Peer-to-Peer Beratungsstellen möglich ist. Die Realisierung, nicht allein mit einem Erlebnis zu sein, kann manchmal schon viel bewirken, aber natürlich ist das nicht genug. Es gibt viele tolle Organisationen und Einzelpersonen, die sich für ein gerechteres Gesundheitssystem einsetzen.
Dass eine gute medizinische Versorgung nicht für jeden selbstverständlich ist, möchte auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit Gesundheitskiosken ändern. Seit der Gesetzesinitiative 2022 sind mehrere Kioske in Deutschland entstanden, die jedem Menschen niedrigschwellig den Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichen. Zugleich würden Arztpraxen entlastet, weil eine ausführlichere Beratung in den Kiosken vorgesehen ist. Wie stehen Sie zu Gesundheitskiosken?
Die Grundidee eines niedrigschwelligen Zugangs zu einer medizinischen Versorgung für alle finde ich natürlich gut, auch dass diese Kioske auch für Menschen ohne Versicherung oder ohne Deutschkenntnisse Gesundheitsinformationen und Behandlungen anbieten sollen und die soziale Dimension von Gesundheit mitdenken. Ich frage mich aber auch, ob die nötige Finanzierung und das Personal nicht auch besser genutzt wären, um bereits bestehende Projekte zu unterstützen oder auch solche Kioske eher in hausärztlichen Praxen zu integrieren, die die Menschen bereits als Anlaufstelle kennen. Vor allem fehlt mir natürlich die Berücksichtigung und Bekämpfung von rassistischer, sexistischer, ableistischer, queerfeindlicher, fettfeindlicher, klassistischer und sonstiger Diskriminierung als reales und gefährliches Gesundheitsrisiko.
Über die Gesprächspartnerin
- Sabina Schwachenwalde ist Ärztin und Aktivistin. Während ihres Studiums in Berlin, Istanbul und Melbourne forschte sie zu medizinischer Versorgung von Frauen aus eingewanderten Familien und schrieb journalistische Texte. Durch ihre Arbeit in der Geburtshilfe kennt sie das Gesundheitssystem aus ärztlicher Perspektive, seit ihrer eigenen Post-Covid-Erkrankung auch aus der Sicht von Patientinnen und Patienten.
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