Am 6. Juni 1983 widmete der "Spiegel" seine Titelgeschichte einer "Epidemie, die erst beginnt". Die Rede ist von Aids, einer damals noch rätselhaften Krankheit, die eben die ersten Todesopfer in der Bundesrepublik gefordert hatte. In den letzten 30 Jahren haben sich die Auffassung und der Wissensstand zu Aids radikal verändert - ein Rückblick.
So umfassend der Leitartikel im Juni 1983 gewesen war, so wenige Informationen beinhaltete er doch bei genauerer Betrachtung. Die Welt war ratlos angesichts der ominösen Krankheit. Sogar die Experten waren mit ihrem Latein am Ende. Wer oder was führte zum "Acquired Immune Deficiency Syndrome", an dem seit den ersten Meldungen im Frühjahr 1981 immer mehr Menschen qualvoll starben? Weder der Erreger noch Therapien waren bekannt. "Wir tappen völlig im Dunkeln", zitierte das Magazin die "Centers for Disease Control" (CDC) in Atlanta. Das Seuchenzentrum greife in seiner Hilflosigkeit "nach jedem Strohhalm", hieß es. In den wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Aids waren nicht viel mehr als Vermutungen zu lesen. Sicher war damals nur, dass es sich um eine Infektionskrankheit handeln musste.
Was führt zu Aids?
Die Vermutungen gingen aber schon in die richtige Richtung. So spekulierte man, dass ein Virus hinter der Krankheit steckt. In dem "Spiegel"-Artikel wird von einem Verdacht gesprochen, dass das so genannte T-Zellen-Leukämie-Virus (HTLV) eine Rolle spiele. Das stellte sich zwar als falsch heraus, kurze Zeit später isolierte jedoch der Franzose Luc Montagnier den richtigen Verantwortlichen: Das HI-Virus (Human Immunodeficiency Virus). Im April 1984 gab der Amerikaner Roberto Gallo die Entdeckung der Öffentlichkeit bekannt.
Im Jahr 1983 war es noch schwierig, eine klare Diagnose zu stellen, da der Erreger ja noch unbekannt war. Heute verschafft ein HIV-Test spätestens nach drei Monaten Klarheit, ob man sich infiziert hat. Die Testverfahren suchen nach HIV-Antikörpern im Blut.
Vor dreißig Jahren hatten Mediziner aber immerhin festgestellt, dass die Zahl der so genannten Helferzellen bei HIV-Infizierten immer mehr abnimmt. Diese Zellen aktivieren vereinfacht dargestellt das Immunsystem. Hat der Körper nicht mehr genug dieser Zellen, können sich Keime ungehindert vermehren, welche die "Körperpolizei" normalerweise unschädlich machen würde.
Schon damals erkannte man, dass es in der Anfangsphase der Infektion zu Krankheitszeichen wie unerklärlichem Fieber, Lymphknotenschwellungen, Durchfällen, Hautausschlägen und hartnäckigem Husten kommt. Ebenfalls war bekannt, dass viele HIV-Infizierte nach einer symptomfreien Zeit in der letzten Phase Krankheiten wie Lungenentzündungen oder Krebs entwickeln, häufig eine Krebsart namens Kaposi-Sarkom.
Während im Juni 1983 in den USA schon mehr als 1.500 Fälle diagnostiziert worden waren, gab es zur gleichen Zeit in Deutschland erst 100 infizierte Menschen, von denen sechs in den Wochen vor dem Artikel gestorben waren. Im Vergleich mit den heute weltweit rund 34 Millionen HIV-infizierten Menschen (Schätzung des UN-Projekts UNAIDS von 2012, 78.000 davon laut Robert-Koch-Institut in Deutschland) und 1,7 Millionen Todesfällen, ist die Anzahl der Fälle von damals extrem gering gewesen. Dennoch scheinen die Menschen bereits erkannt zu haben, dass es sich hier um eine große neue Gefahr handelte. "Aids ist eine Zeitbombe", sagte Johanna L'age-Stehr, zu dieser Zeit Wissenschaftliche Direktorin des Bundesgesundheitsamts, dem "Spiegel". Die Verunsicherung war angesichts der wenigen Erkenntnisse über die Krankheit gewaltig. Genauso groß waren die Vorurteile und verqueren Ansichten, die sich wie ein Buschfeuer verbreiteten.
Diskriminierung von Homosexuellen
Bezeichnungen wie "Homosexuellen-Seuche", "Schwulenkrebs", "eine neue Peitsche, die der Herr für die Homosexuellen bereit hält", zeigen: Weil die Krankheit zunächst vor allem bei Schwulen auftrat, griff Homophobie in beängstigendem Ausmaß um sich. In Kanada rief eine erzkonservative Elterngruppe namens "Positive Parents" gar zum kompletten Boykott aller Restaurants auf, in denen Homosexuelle auch nur bedienten.
Dazu machte sich in den Homosexuellen-Communitys eine lähmende Angst und Ratlosigkeit breit. Viele Homo-Bars und –Badehäuser in den USA wurden geschlossen. Noch lange hielten sich in diesem Zusammenhang die Vorurteile gegen Homosexuelle – auch in der heutigen Zeit sind sie nicht ganz verschwunden.
Während sich der Großteil der Gesellschaft zunächst in Sicherheit wiegte, kamen bereits im Herbst 1981 erste Zweifel auf: Sind eventuell doch auch Heterosexuelle betroffen? In New York waren zu dieser Zeit ein halbes Duzend heterosexuelle Männer und Frauen an Aids erkrankt: Sie hatten sich Drogen in die Venen gespritzt. Außerdem waren mehrere heterosexuelle US-Einwanderer aus Haiti an der Krankheit gestorben.
Man vermutete bereits, dass die Keime sich im Körper des Infizierten vermehren, ohne dass er zunächst etwas davon merkt. Außerdem ahnte man schon, dass HIV-positive Menschen schon in dieser Phase Gesunde über Körperflüssigkeiten wie Blut, Sperma und Speichel infizieren können. Als Ansteckungsgefahr erkannt waren also bereits: ungeschützter Geschlechtsverkehr, bei Drogenabhängigen das Verwenden von benutztem Spritzbesteck, der Empfang von verseuchten Blutkonserven. Details waren aber noch unbekannt. So weiß man heute, dass es viele Situationen gibt, in denen keine Ansteckungsgefahr besteht. Dazu gehören Küssen, Berührungen wie Händeschütteln, Anhusten oder Annießen, Benutzen von denselben Gegenständen wie Gläsern und Tellern, Toiletten, Bettwäsche.
Diagnose HIV-positiv: Was tun?
Vor dreißig Jahren gab es keine Behandlungsmethoden. Der Krankheitsverlauf konnte also nicht verzögert werden. Heute lässt sich die symptomfreie Zeit verlängern, sodass HIV-Infizierte oft über Jahre und Jahrzehnte ein relativ normales Leben führen können. Die Lebenserwartung ist heutzutage fast die Gleiche wie bei HIV-Negativen - jedoch nur, wenn Infizierte dauerhaft Medikamente einnehmen, die gegen die Vermehrung des HI-Virus ankämpfen. Dank einer solchen antiretroviralen Therapie kann sich das Immunsystem erholen.
Bei einer gut funktionierenden Therapie wird die Zahl der Viren sogar unter die Nachweisgrenze vermindert. Wenn das mindestens ein halbes Jahr dauerhaft der Fall war, ist eine HIV-Übertragung nahezu ausgeschlossen. Paare können dann sogar nach gemeinsamer Entscheidung auf Kondome verzichten.
Trotz intensiver Forschung ist es jedoch auch nach über dreißig Jahren nach Auftreten des ersten Aids-Falls nicht gelungen, ein Mittel zu finden, mit dem sich die Krankheit komplett heilen ließe. Vor kurzem sorgte zwar ein Fall für Aufsehen, in dem ein Baby offenbar geheilt werden konnte. Wahrscheinlich handelt es sich dabei aber um einen Einzelfall. Die Hoffnung jedoch bleibt, dass sich dieser Traum von Millionen Menschen in der Zukunft erfüllt. Die nächsten dreißig Jahre werden es zeigen.
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