Vergangene Woche sorgte KKH-Vorstandschef Ingo Kailuweit mit einer Aussage für Wirbel: Er ist der Ansicht, dass die Hälfte aller Arztbesuche in Deutschland überflüssig sei. Es gebe nicht zu wenig Ärzte, sondern zu viele Arztkontakte. Aber was ist dran an seiner Kritik?
Die Deutschen gehen oft zum Arzt – im Schnitt 17-mal pro Jahr. Das ist im weltweiten Vergleich die klare Spitzenposition. Das hat mehrere Gründe - beispielsweise müssen wir oft aus rein organisatorischen Gründen wie einer Krankschreibung zum Arzt.
Aber auch die Zahl der älteren Patienten nimmt immer weiter zu. Laut dem Statistischen Bundesamt wird im Jahr 2035 bereits mehr als jeder dritte Einwohner Deutschlands 70 Jahre und älter sein – und mit dem steigenden Alter steigt auch der Behandlungsbedarf.
Manche Arztbesuche sind tatsächlich unnötig
Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist dennoch empört über die Aussagen des KKH-Vorstandschefs. "Herr Kailuweit begründet seine Aussage nicht. Das ist eine Schlagzeile, die boulevardtauglich ist. Leider hilft sie nicht weiter in der notwendigen Diskussion, die wir führen müssen zum Thema einer Steuerung der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen", so Stahl im Gespräch mit unserer Redaktion.
Denn: Manche Arztbesuche sind tatsächlich nicht nötig. Seit dem Wegfall der Praxisgebühr gehen immer mehr Patienten den direkten Weg zum Facharzt, ohne davor ihren Hausarzt zu konsultieren. Aber nicht jeder braucht wirklich einen Facharzt. Die Hausarztpraxen könnten diese Arztbesuche also besser steuern.
Hier gibt es von der KBV und den Kassenärztlichen Vereinigungen einen Lösungsansatz, das Positionspapier "KBV 2020". "Wir haben in unserem Programm Steuerungselemente vorgesehen, beispielsweise in der Wahl von unterschiedlichen Tarifen zur Krankenversicherung", so Stahl.
Diese unterschiedlichen Tarife sehen Vergünstigungen für diejenigen vor, die zuerst einen bestimmten Arzt – meist den Hausarzt – konsultieren, um mit diesem gemeinsam dann den weiteren Behandlungsweg zu besprechen und abzustimmen.
Freie Arztwahl sorgt für mehr Arztbesuche
Viele Patienten gehen aber auch zur persönlichen Absicherung zu mehreren Ärzten. Beispielsweise dann, wenn es um das Einholen einer zweiten oder dritten Meinung geht. Dass das so einfach geht, hängt mit der freien Arztwahl in Deutschland zusammen.
"Das ist eine wertvolle Eigenschaft, die unser Gesundheitssystem auszeichnet und um die wir weltweit beneidet werden", erklärt Stahl. Oft wissen die Ärzte untereinander aber nicht, dass der Patient bereits wegen derselben Frage in einer anderen Praxis war. Diese Dopplungen fallen nur direkt bei den Krankenkassen auf.
Eine Krankschreibung durch den Arzt muss beim Arbeitgeber spätestens an dem Arbeitstag vorliegen, der auf den dritten Tag der Arbeitsunfähigkeit folgt – so sieht es das Gesetz vor. Auch deshalb gehen wir häufig bereits mit einem grippalen Infekt zum Arzt, anstatt im Bett zu bleiben und diesen einfach auszukurieren.
Wer den gelben Schein nicht rechtzeitig vorlegt, dem drohen Abmahnung und Lohnausfall. Wissenschaftler der Uni Magdeburg haben in einer dreijährigen deutsch-norwegischen Vergleichsstudie zur Inanspruchnahme hausärztlicher Leistungen einen gravierenden Unterschied festgestellt.
Und der liegt bei den Krankschreibungen. In Norwegen ist die Regelung deutlich lockerer – hier können sich Arbeitnehmer für bis zu acht Tage am Stück "selbst krankschreiben".
Um die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenkassen steht es nicht schlecht. Im ersten Quartal 2016 konnten die Krankenkassen laut Bundesgesundheitsministerium einen Überschuss von 406 Millionen Euro erzielen. Hinter der Aussage von Jörg Kailuweit über die Häufigkeit der Arztbesuche steht dennoch sicherlich der Wunsch, noch mehr Geld einzusparen.
Roland Stahl von der KBV kann das in Teilen nachvollziehen: "Auch um die Kosten im Griff zu behalten, müssen wir unbedingt diese Diskussion zur Steuerung der Nutzung medizinischer Leistungen führen. Aber purer Populismus à la KKH ist hier trotzdem fehl am Platz."
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