- Gegen COVID-19 impfen lassen oder nicht? Die einen wollen es lieber heute als morgen, andere halten es für riskant, so mancher will noch abwarten.
- Wir haben einen Impfspezialisten mit gängigen Mythen und Bedenken konfrontiert.
Die größte Impfaktion der Menschheitsgeschichte hat begonnen. "Begleitet von einer Flut von Informationen und Gerüchten, vor allem in den sozialen Medien, die kaum noch zu überblicken ist", sorgt sich Herwig Kollaritsch, Facharzt für Tropenmedizin und Facharzt f. Hygiene und Mikrobiologie an der Medizinuniversität Wien.
Kollaritsch ist seit 40 Jahren im Impfwesen tätig. Er führte selbst mehrere Dutzend klinischer Impfstudien durch. Noch im Sommer hätte er keine konkrete Einschätzung zu einer COVID-19-Impfung abgegeben. Inzwischen ist er klarer Befürworter und begründet das in seinem rasant erschienenem Buch "Pro & Contra Corona-Impfung. Tipps für die persönliche Impfentscheidung". Im Gespräch mit unserer Redaktion äußert er sich zu häufigen Bedenken und Mythen:
Einwand: "Normalerweise dauert es zehn bis 20 Jahre, einen Impfstoff herzustellen. Das ging im Fall des COVID-19-Impfstoffs viel zu schnell"
Das sagt Experte Kollaritsch: "Die Arzneimittelsicherheit steht an allererster Stelle. Besteht auch nur der leiseste Verdacht eines nicht genau kalkulierbaren Risikos, wird nicht zugelassen. Man wusste, wie viele Menschen in dieser großen Ausnahmesituation geimpft werden müssen, daher wurden sogar ganz besonders scharfe Sorgfaltskriterien angelegt. Sehr klug fand ich das Vorgehen der EU: Im Unterschied zu Großbritannien oder den USA gab es keine Notfallzulassung, wodurch noch einmal strenger geprüft wurde.
Warum Impfstoffentwicklungen bisher immer viel länger dauerten: Sie sind wahnsinnig teuer. Die Firmen gehen Zug um Zug vor, das kostet Zeit. Vor jedem weiteren Schritt beobachten sie die bisherigen Ergebnisse, prüfen, ob Probleme auftauchen, die immer auch ein kommerzielles Risiko für die Firma bedeuten. Erst dann machen sie weiter, um nicht viele Millionen Euro investiert zu haben in etwas, das am Ende nicht funktioniert.
Wir hatten mit Corona einen Sonderfall: Zum einen hatten die Firmen für RNA-Impfungen ihre wohldurchdachten Konzepte schon in den Schubladen. Vor allem aber erhielten sie diesmal massive Unterstützungen von Seiten der Staaten, so dass ihnen kaufmännisch der Rücken freigehalten wurde. Sie konnten ihre gesamte Manpower hineinstecken, Phasen überlappend durchführen und Wege verkürzen: Zum Beispiel wurde von Anfang an ganz intensiv mit den Behörden zusammengearbeitet - die ebenfalls ein forsches Arbeitstempo an den Tag legten. Sie hatten stets denselben Informationsstand wie die Firma, was ein sehr langwieriges Zusammenschreiben und Einreichen bei der Behörde am Ende ersparte, das sonst schon ein Jahr dauert. Kurz: Prozesse, die auch in der Vergangenheit schon beschleunigungsfähig waren, hat man jetzt tatsächlich beschleunigt.
Entscheidend dabei: Die Zahl der Probanden in Phase drei zählte zu den drei höchsten der Impfgeschichte. Bei Pfizer/Biontech waren es sage und schreibe 43.998 Teilnehmer. Der Beobachtungszeitraum war genauso lang wie bei anderen Einreichungen, teilweise sogar länger. Wenn Impfgegner nun argumentieren, die Angaben der Pharmafirmen könnten gefälscht sein, muss man dem entgegenhalten: Die Firmen hätten Schadenersatzprozesse zu erwarten, die sie ruinieren würden."
Einwand: "RNA-Impfstoffe kamen noch nie breitenwirksam zum Einsatz. Das muss einen Grund haben und scheint riskant"
Das sagt der Experte: "RNA-Impfstoffe sind kein neues, großes Mirakel. Es gab bereits zahlreiche Studien im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen, in denen Wirkungen und Nebenwirkungen gründlich geprüft wurden. Warum zuvor nie einer das Zulassungsverfahren durchlief, hatte kaufmännische Gründe. Die erforderlichen Studien sind enorm aufwändig und teuer.
Wichtig zu wissen: Bei der RNA-Impfung geschieht dasselbe wie bei anderen Impfungen. Das Immunsystem wird durch ein Antigen dazu angeregt, Antikörper zu produzieren. Der Unterschied: Bei einer normalen Impfung wird das Antigen dem Körper zugeführt - die RNA-Impfung sorgt dafür, dass der Körper das Antigen selbst produziert. Man wusste schon lange, dass das funktioniert. Nur nicht, wie man die RNA verpacken kann, denn normalerweise wird Fremd-RNA im Organismus sofort attackiert und abgebaut. Deswegen hat man sie einkapseln müssen in biologische Nanopartikel. Sobald man diesen Kunstgriff hatte, war klar: Jetzt kann man Impfstoffe machen, und sie kommen dorthin, wo man sie haben will.
Eine RNA-Impfungen hat große Vorteile. Wir wissen genau, dass sie nicht die Krankheit hervorrufen kann, vor der sie schützen soll. Das wiederum wäre hingegen bei einer Lebend-Impfung möglich, die sich im Körper außerplanmäßig vermehrt. Vor allem aber aktiviert der RNA-Impfstoff die angeborene Immunabwehr besser als herkömmliche Impfstoffe. Der Schutz ist verblüffend gut. Wir reden bei den zugelassenen Impfstoffen von einer Wirksamkeit von etwa 90 Prozent und mehr. Zum Vergleich: Bei der Grippeschutzimpfung liegt man bei einer Größenordnung von 50 Prozent absolutem Schutz, je nach Saison. Der relative Schutz, also der Schutz vor Verläufen mit Komplikationen, ist immer etwas höher.
Niemand hat anfangs damit gerechnet, dass diese Impfstoffe so gut schützen, aber das ist wahrscheinlich der Technik geschuldet. Was die Reaktion des Immunsystems angeht, sind diese mRNA-Impfstoffe ganz besonders hochwertig."
Einwand: "In den sozialen Medien kursiert die Theorie, eine mRNA-Impfung führe zu Genveränderungen"
Das sagt der Experte: "Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass bei der Impfung etwas ins Genom eingebaut wird! RNA und DNA haben eine unterschiedliche chemische Struktur. Um RNA in DNA umschreiben zu können, bräuchte es ein spezifisches Enzym, das der Mensch nicht hat. Die mRNA wandert auch gar nicht in die Zellkerne, in denen das Erbgut in Form von DNA lagert - sondern nur ins Zellplasma."
Einwand: "Corona-Impfstoffe können angeblich bei Frauen zu Unfruchtbarkeit führen"
Das sagt der Experte: "Auch das ist Unsinn. Wer so etwas verbreitet, stützt sich auf eine angebliche Ähnlichkeit zwischen Syncytin-1 - einem körpereigenen Protein, das wichtig für die Bildung der Plazenta ist - und dem COVID-19-Spike-Protein. Mit ihm kann das Coronavirus an menschliche Zellen andocken. Die abstruse Theorie: Durch die Impfung entstehe nicht nur eine Abwehr gegen das Spike-Protein, sondern auch gegen Syncytin-1, was eine Bildung der Plazenta verhindern würde. Selbst wenn es eine besondere Ähnlichkeit zwischen den beiden Proteinen gäbe, wäre die Schlussfolgerung aus der Luft gegriffen - aber es gibt sie nicht."
Einwand: "Womöglich sind die Nebenwirkungen noch gar nicht alle absehbar. Das bereitet mir Sorge"
Das sagt der Experte: "Wenn Sie sich impfen lassen, werden Sie sich wohl ein bis zwei Tage müde fühlen und vielleicht Kopfschmerzen haben. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei etwa 90 Prozent. Es ist wichtig, die Bevölkerung über solche Impfreaktionen aufzuklären und zu akzeptieren: Es ist nicht ganz ohne Folgen für den Organismus, es tut sich etwas! Das Immunsystem wird nicht geschwächt, sondern angekurbelt. Dass das spürbar ist - von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark - zeigt: Die RNA-Impfstoffe sprechen unser Immunsystem sehr gut an.
Diese Reaktion unseres Körpers ist ein völlig normaler Vorgang. Sie kann kurzfristig unser Wohlbefinden beeinträchtigen, nicht aber unsere Gesundheit!
Unterscheiden von solchen Impfreaktionen müssen wir unerwünschte Nebenwirkungen, die man nicht haben will und die mit dem natürlichen Vorgang der Immunabwehr auch nicht erklärbar sind. Bei der COVID-19-Impfung hat man aktuell keine Hinweise, dass derartige, schwere Nebenwirkungen auftreten. Sie würden üblicherweise spätestens nach zwei Monaten erscheinen, eher innerhalb weniger Tage.
Möglich, aber extrem selten sind Nebenwirkungen, die erst nach Jahren bekannt werden - im Falle der Gelbfieberimpfung gab es die Erstbeschreibung einer seltenen Nebenwirkung erst nach 63 Jahren. Sie war also so selten, dass man erst nach vielen Jahren überhaupt auf sie aufmerksam wurde. Derartiges kann auch bei der COVID-Impfung niemand ausschließen. Statistisch würden sie aber sicher nicht ins Gewicht fallen. Es wurden nun schon 25 Millionen Menschen gegen COVID-19 geimpft. Äußerst unwahrscheinlich, dass jetzt noch etwas auftritt, womit wir überhaupt nicht rechnen.
Wenn Sie nun über Ihre Impfentscheidung nachdenken, ist das Entscheidende: Was wiegt schwerer, die geschilderten Folgen einer Impfung oder der Nutzen, den Sie aus der Impfung ziehen? Die Impfung läuft unter kontrollierten, nicht krankheitsauslösenden Bedingungen. Eine tatsächliche Erkrankung nimmt einen nicht planbaren Verlauf, der Ausgang und die Langzeitfolgen sind ungewiss."
Einwand: "Statt auf Impfung könnte man doch auf natürliche Herdenimmunität setzen"
Das sagt der Experte: "Schweden hat uns gezeigt, dass das ins Auge geht. Es kostet Menschen das Leben, und die Schweden haben keine Herdenimmunität. Man müsste sehr große Teile der Bevölkerung durchimmunisieren lassen. Stellen Sie sich vor, wie vielen Menschen das das Leben kosten würde.
Von 1.000 Infizierten (nicht zu verwechseln mit Erkrankten) sterben etwa ein bis 1,5 Menschen. Würden wir dem Virus freien Lauf lassen und die Bevölkerung durchinfizieren, wären das auf die Bevölkerung hochgerechnet EU-weit knapp 670.000 Menschen, die sterben. Und dann wissen wir noch nicht einmal, wie lange die Immunität gegen COVID-19 überhaupt anhält. Die sogenannte Herdenimmunität auf natürlichem Weg ist also keine Option. Es wäre unethisch, das Virus würde uns weiter begleiten und unsere Gesundheit und unser ganzes Leben weiter einschränken."
Einwand: "Auch wenn ich an der Reihe bin: Ich möchte mit der COVID-19-Impfung sicherheitshalber noch abwarten"
Das sagt der Experte: "Wir können wie gesagt nie ganz ausschließen, dass nach Jahren bei einer einzelnen Person noch eine Nebenwirkung auftreten wird. Wer aber aus diesem Grund nun auf die Impfung verzichtet, dürfte auch keine andere Impfung und kein Medikament in Anspruch nehmen. Auch wenn Sie sagen, Sie möchten noch drei Jahre warten: Das Virus ist mit seinem Bedrohungspotenzial da. Sie können Glück haben - aber auch das Pech, sich zu infizieren.
Nehmen wir das Beispiel Auto: Der Sicherheitsgurt birgt das Risiko, sich bei einem Unfall das Schlüsselbein zu brechen. Trotzdem würde kein Mensch auf die Idee kommen, sich deshalb nicht anzuschnallen und ein viel größeres Risiko in Kauf zu nehmen, womöglich sogar einen tödlichen Unfall. Das fiktive Risiko einer späten Nebenwirkung steht in gar keinem Verhältnis zu einer schweren COVID-Erkrankung. Wer sich impfen lässt, für den ist dieser Spuk zumindest vorbei."
Verwendete Quellen:
- Interview mit dem Impfspezialisten Prof. Dr. Herwig Kollaritsch aus Wien
- Herwig Kollaritsch: "Pro & Contra Corona-Impfung. Tipps für die persönliche Impfentscheidung", edition a (2020)
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