Die Diagnose ALS ist ein Todesurteil. Therapie? Gibt es keine. Obwohl die schreckliche Krankheit auf dem Vormarsch ist, ist sie so gut wie nicht erforscht. Ein Team aus deutschen Wissenschaftlern will dies ändern – mit ersten interessanten Ergebnissen. Dahinter steckt eine bewegende Geschichte.
Es ist ein lauer, sonniger Frühlingsmorgen in Ismaning. Tür an Tür reihen sich hier die Einfamilienhäuser – umzäunt von Bäumen und Sträuchern, die gerade ausgetrieben haben. Die Vögel zwitschern, Pollen fliegen, es duftet nach Blumen. In diesem kleinbürgerlichen Idyll scheint die Welt noch perfekt. Scheint.
In einem der Vorstadthäuser wohnt Karl-Heinz Zacher mit seiner Familie und Hund Rupert. Als sich die Eingangstür öffnet, springt die englische Bulldogge freudig mit wedelndem Schwanz entgegen.
Dahinter der 48-Jährige, der die rechte Hand zur Begrüßung reicht, auf seinem Unterarm ein tätowiertes Porträt. Es ist das Bild seiner verstorbenen Ehefrau Nina Zacher. Sie starb im Mai 2016 an den Folgen der Amyotrophe Lateralsklerose – kurz ALS genannt.
Amyotrophe Lateralsklerose
Amyotrophe Lateralsklerose betrifft das zentrale und periphere Nervensystem. Es handelt sich um eine sogenannte Motoneuronerkrankung. Motoneuronen steuern und kontrollieren die Muskelbewegungen. Wenn diese Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark geschädigt sind, spricht man von ALS.
Bei ALS-Patienten verlieren diese Zellen nach und nach ihre Funktion. Infolge dessen erhalten die Muskeln keine Signale mehr, was zu einer fortschreitenden Muskellähmung führt. Betroffene leiden zunehmend an Muskelzuckungen, -lähmungen und -schwund. Die meisten ALS-Patienten sterben innerhalb von zwei bis fünf Jahren nach der Diagnose.
ALS-Diagnose nur im Verlauf diagnostizierbar
Im Haus der Familie ist Nina Zacher sehr präsent, so als wäre sie nur kurz zum Einkaufen gegangen. An der Wohnzimmerwand hängt ein selbst gebasteltes Herz mit Familienbildern und dem Schriftzug "Mama".
Man hat das Gefühl, sie könnte jeden Augenblick zur Tür hereinspazieren, sich an den langen Esstisch setzen, einen Kaffee in der Hand und Hund Rupert zu den Füßen.
Die verspielte Bulldogge wurde erst nach ihrem Tod Familienmitglied. "Nina hatte ihn sich gewünscht", sagt Karl-Heinz Zacher, der mittlerweile am Esstisch Platz genommen hat. Der Gastronom und studierte Physiker spricht ruhig und reflektiert über den harten Weg, den seine Familie seit 2012 gegangen ist.
Im Skiurlaub bemerkte Nina Zacher die ersten Symptome. Als die schlimmer wurden, folgte eine Odyssee bei verschiedenen Ärzten. Untersuchung um Untersuchung ließ die Mutter von vier Kindern über sich ergehen. Auch eine schwere Operation nahm sie in Kauf. Doch erst 22 Monate später erhielt sie die endgültige Diagnose.
Das Problem: ALS lässt sich bisher nur im Verlauf diagnostizieren. "Die Ärzte sind ohnmächtig. Sie haben vielleicht eine Vermutung, aber sie haben keinen Biomarker an der Hand. Es gibt einige Erkrankungen, deren Symptome der ALS ähneln. Deshalb ist die Diagnose so schwierig", erklärt Karl-Heinz Zacher. Die Ärzte gehen also nach einem Ausschlussverfahren vor. Wird nichts gefunden, bleibt am Ende nur ALS stehen.
Steigende ALS-Zahlen
Als Nina ahnte, was die Ursache ihrer Lähmungserscheinungen sein könnte, begann sie, sich intensiv mit der unheilbaren Krankheit auseinanderzusetzen. Zusammen mit ihrem Mann hat sie recherchiert und mit Experten gesprochen. "Das, was wir erfahren haben, war desaströs", sagt der 48-Jährige und schüttelt den Kopf.
Die aktuellen Zahlen sind erschreckend. In Deutschland leben aktuell 6.000 bis 8.000 Menschen mit ALS. Jährlich kommen etwa 2.000 Neuerkrankungen hinzu. Aufgrund der kurzen Überlebenszeit sterben auch etwa 2.000 pro Jahr.
Neuerdings spreche man von einem sogenannten Life-Risk von 1 zu 400, sagt Zacher. Das bedeutet: Von den derzeit rund 82,5 Millionen in Deutschland lebenden Menschen (Stand 2016) werden bis ihrem Lebensende rund 200.000 an ALS erkranken oder sterben. Und: "Die Erkrankung ist brutal auf dem Vormarsch" – mit einem weiteren Anstieg sei zu rechnen.
Für Nina und Karl-Heinz-Zacher war es unverständlich, weshalb ALS so wenig erforscht ist und es kein Mittel, keine Therapie gegen eine Krankheit gibt, die seit mehr als 100 Jahren bekannt ist.
"Es ist eine Farce: Wir fliegen zum Mond (...), wir telefonieren digital in Echtzeit über zehntausend Kilometer, und wir sind nicht in der Lage, so eine Krankheit zu erforschen und irgendwo im Ansatz therapierbar zu machen", sagte Nina Zacher einmal als Talkgast bei Markus Lanz.
Dies trieb die Zachers um. Im Mai 2015 gründeten sie mit Professor Christian Schreiber und Dr. Heiko Ott die Initiative faceALS. Sie motivierten deutsche Forscher, sich anzuschließen und mit einem neuen Ansatz der Krankheit ALS auf den Grund zu gehen.
Stiftung faceALS will Gesicht der Krankheit identifizieren
"Ab Oktober 2016 habe ich mich dann intensiv mit der Gründung der Stiftung beschäftigt. Ich war der Meinung, dass wir etwas bewegen können", erklärt der 48-Jährige.
2017 ging aus der Initiative schließlich die gemeinnützige Stiftung hervor. Heute verfügt sie über eigene Labore und wissenschaftliche Mitarbeiter. Kopf des Ganzen ist Dr. Walter Schubert – ein vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler.
"Wir arbeiten eng mit der Uni Ulm zusammen, die über die größte ALS-Ambulanz in Europa verfügt. Außerdem mit der TUM München, LUM München und der Charité in Berlin", sagt Zacher. Schirmherrin ist Barbara Stamm, Präsidentin des Bayerischen Landtags.
Die Wissenschaftler der Stiftung arbeiten daran, die Krankheit zu entschlüsseln. Denn noch fehle das Grundverständnis für ALS völlig. "Wir wissen einfach nichts über diese Erkrankung. Wir kennen die Auswirkungen, aber wir haben keinen Plan davon, wie sie entsteht." Deswegen gibt es bis heute keine Therapie. "Das ist das Tragische an der Erkrankung. Die Diagnose ist tatsächlich ein Todesurteil."
Nur das Genom zu entschlüsseln, um ALS irgendwann einmal zu heilen, sei der falsche Ansatz, glaubt Zacher. Denn: "Die Krankheit entsteht immer an der Zelloberfläche. Die Zelle macht die Krankheit und nur in seltenen Fällen ist es die DNA. Die genetische Präposition liegt bei zwei bis fünf Prozent."
ALS sieht Zacher als eine multifaktorielle Erkrankung. "Das bedeutet, dass viele Einflüsse wie Ernährung, UV-Belastung, virale oder retrovirale Komponenten sowie Umweltbelastungen wie Neurotoxine in Pflanzenschutzmitteln ursächlich sind." Irgendwann seien die Einflüsse auf den Körper zu viel. "Das Immunsystem switched, die Krankheit entsteht." Das sei ähnlich wie bei Krebs, meint Zacher.
Hoffen auf Methode zur Diagnose-Stellung
Der Stiftungs-Gründer hegt die große Hoffnung, mit der Arbeit von faceALS bald eine Methode für die Diagnose zu entwickeln. "Wir hoffen, dass wir die Daten aus den Vorexperimenten validieren können und dass wir dann kausale Zusammenhänge erkennen können, um daraus eine Therapie abzuleiten", erklärt Zacher. "Wir planen eine Plattform, auf der Patienten ihre Symptome selbst erfassen – quasi in Echtzeit. Wir haben noch so viele Ideen", sagt Zacher hoffnungsvoll.
Und die Arbeit der Stiftung lieferte bereits interessante Erkenntnisse. So gelang es den Forschern, bestimmte Zellen zu identifizieren, denen offenbar eine besondere Rolle bei der Erkrankung zukommt. Details aber könne er noch nicht nennen.
"Mit der Forschungstätigkeit der Stiftung können wir im Grunde nicht scheitern. Bei einer Erkrankung, bei der es noch keine Therapie gibt, kann niemand scheitern", blickt Zacher optimistisch auf seine Stiftung.
Dabei sei er früher eher der pessimistische Teil gewesen, sagt er. Dass aus dem heute 48-Jährigen ein Optimist geworden ist, hat er seiner verstorbenen Frau zu verdanken. Sie habe die Dinge immer direkt angesprochen. Extrovertiert, sehr offen und positiv sei seine Frau gewesen – auch wenn sie den Tod direkt vor Augen hatte. "Das Leben ist schön, auch wenn man selbiges verliert", erzählt Zacher mit ruhigen Worten.
In der Hoffnungslosigkeit Hoffnung finden
Tief beeindruckt hat ihn ihr Umgang mit den vier gemeinsamen Kindern. "Sie hat die Kinder mitgenommen, ihnen eine wahnsinnige Stärke gegeben. Ihr Weitblick und ihre philosophische Seite haben mich schwer beeindruckt. Meine Frau war zu einer bemerkenswerten intellektuellen Leistung fähig, die andere Menschen berührt hat", schwärmt Zacher.
Das gibt ihm die nötige Kraft, neben Beruf und Familie für die Stiftung zu arbeiten.
In der Hoffnungslosigkeit Hoffnung finden – für Karl-Heinz Zacher ist das mittlerweile zur Lebensaufgabe geworden.
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