Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek will pflegenden Angehörigen einen Lohnersatz zahlen, der aus Steuermitteln finanziert wird. In skandinavischen Ländern wie Schweden und Finnland ist das bereits Realität. Wie es dort funktioniert und warum Experten ein Pflegezeitgeld für lange überfällig halten.
Es ist ein Vorstoß, den manche als Wahlkampfmanöver werten, der aber bei vielen offene Türen einrennen dürfte: Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) will pflegenden Angehörigen einen Lohnersatz zahlen. Der CSU-Politiker brachte die Erstattung von 65 Prozent des Nettoeinkommens ins Spiel. Finanziert werden soll das "Pflegezeitgeld" aus Steuermitteln.
Armutsrisiko durch Pflege
Derzeit erhalten Menschen, die von Angehörigen versorgt werden, das sogenannte Pflegegeld durch die Pflegekasse. Je nach Pflegegrad sind das zwischen 316 und 901 Euro. Sie können die Summe an ihre Angehörigen weitergeben, sind aber nicht dazu verpflichtet. Im Rahmen der Pflegereform, die vor der Sommerpause von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, steigt das Pflegegeld ab dem kommenden Jahr um 5 Prozent.
"Ein Lohnersatz für pflegende Angehörige ist lange überfällig", sagt Edeltraud Hütte-Schmitz von der Interessensvertretung "wir pflegen e.V.". Es sei kaum möglich, mit dem Pflegegeld über die Runden zu kommen, wenn man seinen Lebensunterhalt davon bestreiten müsse. Hütte-Schmitz kennt pflegende Angehörige, die durch den Berufsausstieg in die Armut abgerutscht sind. "Viele können durch die Pflege der Angehörigen ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil man ihn zum Beispiel auch nicht mehr im Homeoffice ausüben kann. Manche müssen dann von Bürgergeld leben", sagt sie. Beim Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege hinke Deutschland dem Bereich Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung um etwa 30 Jahre hinterher.
Über 80 Prozent werden zu Hause gepflegt
"Laut Pflegestatistik werden von den 4,98 Millionen Pflegebedürftigen 4,17 Millionen Menschen zu Hause versorgt – das sind 84 Prozent", erinnert die Expertin. Die Pflegeinfrastruktur, die den Menschen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zur Verfügung stehe, sei katastrophal.
Für die 4,17 Millionen Pflegebedürftigen stünden nur 96.000 Tagespflegeplätze in ganz Deutschland zur Verfügung. "Das ist ein Versorgungsgrad von 2,3 Prozent. Wenn wir das in Bezug auf die Kinderbetreuung hätten, wären die Straßen vermutlich voll", sagt Hütte-Schmitz.
Es müsse möglich sein, eine pflegebedingte Auszeit aus dem Beruf zu nehmen, ohne dabei erhebliche finanzielle Einbußen zu erleiden. Expertinnen und Experten warnen schon länger davor, dass demografische Entwicklung und Fachkräftemangel die Pflege überfordern – und immer mehr auf den Schultern der Angehörigen abladen.
Vorbild Elterngeld
Auch Michael Beier, Geschäftsführer vom Online-Hilfe-Portal "Pflege durch Angehörige" begrüßt den Vorschlag des CSU-Ministers. Bei den Angehörigen komme am Ende oft nur wenig Geld an. "Wenn es sich um eine Kombipflege handelt, ein Pflegedienst also teilweise unterstützt, wird das Pflegegeld gekürzt. Es kann darauf hinauslaufen, dass gar kein Pflegegeld mehr da ist, welches man nutzen kann", sagt er.
Außerdem würden vom Pflegegeld weitere Kosten bezahlt, die durch die Pflege entstünden – etwa Medikamente oder Zuzahlungen bei bestimmten Anwendungen.
"Wenn Eltern ihre Kinder großziehen – sie in gewisser Weise pflegen – bekommen sie staatliche Unterstützung wie das Elterngeld. Wenn sich das Verhältnis umkehrt und Kinder ihre Eltern pflegen, bekommen sie nichts Vergleichbares", sagt Beier. Er hält das Elterngeld deshalb für eine gute Orientierung bei einem möglichen Pflegezeitgeld.
Die Pflege Angehöriger ist für viele ein 24/7-Job
"Bei den hohen Pflegegraden kann man nicht sagen, man geht halbtags arbeiten und sorgt ein bisschen für die Rente vor. Es ist ein 24/7-Job. Man muss vielleicht schauen, dass jemand regelmäßig trinkt, Tabletten einnimmt und ihm bei der Körperhygiene helfen. Da kann man nicht sagen, ich gehe vier Stunden arbeiten", erinnert er.
Es seien in erster Linie Frauen, die in solchen Situationen ihren Job aufgeben würden. "Besonders von Armut bedroht sind auch Alleinstehende, die teilweise ihre Miete nicht mehr alleine stemmen können."
Auch Hütte-Schmitz hält eine Orientierung an dem, was pflegende Angehörige zuvor verdient haben, für sinnvoll. "Wenn Menschen aus dem Erwerbsleben aussteigen, haben sie schließlich bestimmte laufende Kosten, die sie decken müssen", sagt sie.
Lohn für Pflegende: Andere Länder machen es vor
Anders als bei der Kindererziehung sei bei der Pflege von Angehörigen allerdings in den wenigsten Fällen absehbar, wie lange die Pflegebedürftigkeit bestehe. "Meist geht es um mehr als drei Jahre. Es wäre aber ein erster Schritt, über einen Zeitraum von drei Jahren zu sprechen", sagt die Expertin.
Einer Untersuchung des Sozialverbands VdK zufolge betreuen 37 Prozent der Pflegenden ihre Angehörigen schon länger als fünf Jahre, 23 Prozent pflegen mindestens 40 Stunden in der Woche. "Pflegesituationen erfordern oft Flexibilität, daran müsste sich ein Modell für Pflegezeitgeld anpassen", sagt Hütte-Schmitz.
Lohnersatz für pflegende Angehörige gibt es in skandinavischen Ländern (PDF zum Herunterladen) bereits. Teilweise erfolgt die Tätigkeit im Auftrag der Kommune, damit pflegende Angehörige mit in die Sozialsysteme einzahlen.
Schweden: Angestellt bei der Kommune
So ist es beispielsweise in Schweden: Hier kann eine Person, die Angehörige häuslich pflegt, für eine unbegrenzte Zeit durch die Kommune für die Pflege angestellt werden. Der Lohn ist dabei vergleichbar mit einem Beschäftigungsverhältnis im kommunalen ambulanten Pflegedienst. Besonders im ländlichen Raum ist dieses Modell verbreitet.
Auch Dänemark und Estland sind mit einem vergleichbaren Modell (PDF zum Herunterladen) erfolgreich: Bei einer Anstellung durch die Kommune erhält die pflegende Person in Dänemark monatlich etwa 2.200 Euro. Dort kann die Pflegevergütung höchstens für sechs Monate, mit einer Verlängerung von drei Monaten, bezogen werden.
Pflegekarenzgeld in Österreich
In Finnland kann der pflegende Angehörige sogar für eine unbegrenzte Zeit durch die Kommune für die Pflege angestellt werden. Außerdem ist zusätzlich eine Teilzeiterwerbstätigkeit neben der Pflege möglich. Ohne Erwerbstätigkeit beträgt der Mindestsatz knapp 775 Euro im Monat. Durch das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis besteht auch hier Versicherungsschutz und es werden Renten- und Urlaubsansprüche aufgebaut.
In Österreich gibt es ein sogenanntes Pflegekarenzgeld. Die Lohnersatzleistung beträgt 55 Prozent des täglichen Nettoeinkommens. Auch in Belgien gibt es Lohnersatz: Bei einer vollständigen Freistellung für den medizinischen Beistand eines Angehörigen werden pauschal knapp 800 Euro pro Monat vom Arbeitsamt ausgezahlt.
Kosten könnten aus dem Ruder laufen
"Angehörige sollten eine Wahlfreiheit haben, ob sie ihren Beruf weiter ausüben möchten oder nicht", wünscht sich die Expertin auch für Deutschland. Dafür müsste die Pflegeinfrastruktur hierzulande deutlich ausgebaut werden. Hütte-Schmitz fordert daher einen Rechtsanspruch für Tages- und Kurzzeitpflege – samt einklagbarem Schadensersatz für Verdienstausfall. Bei Kitaplätzen gibt es eine solche Regelung bereits.
"Insgesamt wäre ein Pflegezeitgeld eine Form der Wertschätzung und eine dringend notwendige soziale Absicherung für pflegende Angehörige – dem größten Pflegedienst Deutschlands", sagt auch Beier. Die Hürden für Antragstellung und die Bewährung dürften aus seiner Sicht nicht zu hoch sein. Fraglich bleibt letzten Ende auch, ob das Vorhaben finanzierbar ist. Beier sagt: "Ich hoffe, dass der Staat sich trotz der hohen Kosten für den Schritt entscheidet."
Verwendete Quellen:
- Sozialverband Deutschland: Pflege "In diese Studie ist Geld, Zeit und viel Herzblut geflossen"
- Iegus Institut: Wie wird Pflege in anderen europäischen Ländern organisiert – was kann Deutschland daraus lernen (PDF zum Herunterladen)
- Beobachtungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen in Europa: Freistellungen und finanzielle Leistungen zur häuslichen Pflege in europäischen Mitgliedstaaten (PDF zum Herunterladen)
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