Rund jeder zehnte Deutsche ist laut Schätzungen von Diabetes Typ-2 betroffen, Tendenz steigend. Doch wer sein Leben gezielt umkrempelt, kann die Erkrankung wieder loswerden. Ein Experte erklärt, wie sich die sogenannte Remission erreichen lässt.

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8,5 Millionen Menschen in Deutschland sind an Diabetes erkrankt, davon rund 90 Prozent an Typ-2, dem sogenannten "Altersdiabetes". Jedes Jahr kommen rund 500.000 neue Patientinnen und Patienten hinzu - und darunter längst nicht mehr nur ältere Menschen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in Österreich und der Schweiz beobachten.

Die Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft sind hoch: Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen sowie eine Schädigung von Augen, Nerven und Nieren. Schon heute kostet das die Sozialkassen pro Jahr Milliarden.

Expertinnen und Experten sind sich einig: Der Grund für die rasche Zunahme von Typ-2-Diabetes in der Bevölkerung liegt in unserem Lebensstil. Übergewicht und Bewegungsmangel gelten als Hauptauslöser der Volkskrankheit. Während Typ-1-Diabetes vor allem auf genetische Veranlagung zurückzuführen ist, ist Typ-2 also vermeidbar - und sogar heilbar.

Ist Diabetes Typ-2 heilbar?

Herr Mai, Rund jeder zehnte Erwachsene in Deutschland ist von Diabetes betroffen, die allermeisten von Typ-2. An diese Gruppe richten sich zahlreiche Ratgeber-Bücher und versprechen, dass Diabetes Typ-2 heilbar ist. Stimmt das?

Knut Mai: Prinzipiell kann eine diabetische Stoffwechsellage deutlich modifiziert werden. In den frühen Phasen von Typ-2-Diabetes oder seiner Vorstufe, dem sogenannten Prädiabetes, kann eine deutliche Verzögerung der Entwicklung hin zum Diabetes bewirkt werden. Bei einem großen Teil dieser Patientinnen und Patienten kann der Diabetes tatsächlich sogar ganz verschwinden.

Wie kann das gelingen?

Das gelingt vor allem durch eine Gewichtsreduktion. Studien legen nahe, dass bei einer Gewichtsabnahme von 15 Prozent bei über der Hälfte der Patientinnen und Patienten der Diabetes verschwindet. Je mehr man abnimmt, desto besser. Wahrscheinlich ist dies aber insbesondere dann der Fall, wenn die Person nicht länger als sechs Jahre an Typ 2 Diabetes erkrankt ist und bisher kein Insulin benötigt. Patientinnen und Patienten, die Insulin brauchen, haben oft schon ein fortgeschritteneres Stadium des Typ-2-Diabetes. Dann ist die Chance auf eine Umkehr nicht mehr so hoch. Allerdings ist ein großes Problem bei Typ-2-Diabetes, dass wir es oft erst spät erkennen und daher die Dauer des Diabetes nicht sicher einschätzen können.

Warum hat das Gewicht einen so enormen Effekt bei Diabetes?

Das hängt mit der Verteilung des Körperfettes vor allem in der Leber zusammen. Fett, das sich in der Leber ablagert, kann ein Auslöser von Typ-2-Diabetes sein. Übergewichtige haben oft viel Leberfett – aber manchmal auch normal- und leicht übergewichtige Patientinnen und Patienten. Jeder Mensch hat eine individuelle Schwelle, ab der Fett außerhalb des üblichen Fettgewebes gespeichert wird. Das ist momentan die Annahme. Ist diese Schwelle überschritten, reichert sich das Fett unter anderem in der Leber an. Wenn wir das reduzieren, verbessert sich sehr schnell der Glukosestoffwechsel. So profitierten auch Typ-2-Diabetikerinnen und Diabetiker mit nur leichtem Übergewicht davon, rund 15 Prozent Gewicht zu verlieren. Das Problem ist allerdings, dass diese Gewichtsreduktion häufig nicht ein Leben lang anhält. Studien zeigen, dass viele nach zwei Jahren wieder deutlich zunehmen. Das minimiert die Diabetes-Remission, also das Verschwinden des Diabetes, auf unter zehn Prozent.

Diabetes Typ-1 und Typ-2

  • Diabetes Typ-1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört werden. Die Zellen können damit kein Insulin mehr produzieren, weshalb die Patientinnen und Patienten auf künstliches Insulin angewiesen sind.
  • Bei Diabetes Typ-2 wird zwar Insulin produziert, doch die Körperzellen entwickeln eine zunehmende Insulinresistenz. Weil sie immer schwächer auf Insulin reagieren, muss mehr Insulin gebildet werden – was die Bauchspeicheldrüse langfristig nicht bewältigen kann.
  • Auf der Seite des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung können Sie in einem Online-Fragebogen Ihr individuelles Diabetes-Risiko testen.

Richtige Ernährung beugt Jo-Jo-Effekt vor

Das heißt, nach erfolgreicher Gewichtsabnahme gewinnt wieder der "innere Schweinehund" die Oberhand?

Das dachten wir früher. Heute wissen wir allerdings, dass ein komplexes neuroendokrines System dahintersteckt - also ein Zusammenspiel aus Hormonen und Nervensystem. Zellen im Gehirn setzen Botenstoffe frei, die beeinflussen, ob wir Hunger oder Sättigung empfinden. Dabei reagieren diese Zellen auf Signale aus anderen Organen, wie aus dem Fettgewebe, dem Darm und der Leber. Natürlich lässt sich das Gefühl von Sättigung und Hunger zum Teil willentlich beeinflussen, aber es ist eine mächtige innere Stellschraube für unser Appetitverhalten. Nachdem wir abgenommen haben, stellt der Körper auf Energiesparen um. Das war sinnvoll, als wir noch Jäger und Sammler waren. Heute macht uns das zu schaffen. Dass diese Menschen wieder zunehmen, ist also nicht nur eine Einstellungssache. Es ist ein organisches Problem.

Man ist dem Jo-Jo-Effekt schutzlos ausgeliefert?

Ganz so ist es natürlich nicht. Durch eine Ernährungsumstellung können Sie dieses System modifizieren. Bei bestimmten Lebensmitteln oder Lebensmittelzusammensetzungen tritt ein stärkerer Sättigungseffekt auf. Sehr energiedichte Mahlzeiten, die sehr viele Kohlenhydrate enthalten, haben häufig ein geringeres Volumen und dehnen die Magenwand nicht so stark aus. Unser neuroendokrines System schaltet nicht so schnell auf Sättigung um, obwohl wir viele Kalorien aufgenommen haben. Ballaststoffreiche Lebensmittel haben mehr Volumen und bleiben länger im Magen – das macht satt. Das ist ein Weg, den wir nutzen können, um diesem zugrundeliegenden System nicht komplett ausgeliefert zu sein. Das System wirkt aber bei manchen Patientinnen und Patienten stärker als bei anderen. Warum das so ist, verstehen wir noch nicht genau.

Welche Ernährung ist empfehlenswert?

Kohlenhydrate sollten wirklich moderat konsumiert werden, und wenn, dann mit einem hohen Anteil von Ballaststoffen. Pflanzliche Produkte sind generell sehr zu empfehlen, da sie einen hohen Ballaststoffanteil haben. Auch der Proteingehalt ist wichtig. Bei Proteinen denkt man sofort an Fleisch, aber auch hier sind pflanzliche Quellen wie Hülsenfrüchte zu bevorzugen. In tierischen Produkten stecken gesättigte Fettsäuren, die eher schlecht für uns sind. Pflanzliche Lebensmittel enthalten hingegen ungesättigte Fettsäuren, die sich sehr günstig auf die Diabetesentwicklung auswirken. Sie können vor Diabetes schützen und das Fortschreiten der Krankheit deutlich verlangsamen. Ein mögliches Erklärungsmodell ist, dass sich eine Fettleber bei einer Ernährung mit ungesättigten Fettsäuren weniger stark ausprägt. Sie müssen nicht gleich zum Vegetarier werden, aber pflanzliche Produkte sollten ein wesentliches Element sein.

Gibt es Nahrungsmittel, die bei Diabetes Typ-2 tabu sind?

Ein komplettes Verbot führt selten zum Erfolg. Es gibt natürlich Lebensmittel, die bei Diabetes ungünstig sind - aber hier ist vor allem die Dosis entscheidend. Sie dürfen auch mal einen Latte Macchiato trinken oder ein Eis essen - das bedeutet ja auch Lebensqualität. Aber wenn Sie das jeden Tag machen, bekommen Sie ein Problem mit Ihrer Kalorienbilanz. Übergewicht entsteht nicht über Nacht, sondern oft, weil wir Jahr für Jahr zwei, drei Kilo zunehmen. Und nach zehn Jahren sind es dann 20 oder 30 Kilo.

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Ausreichend Bewegung reicht nicht aus

Es heißt, Bewegung wirke bei Diabetes besser als eine Pille. Kann man Diabetes durch mehr Bewegung auch ohne Ernährungsumstellung in den Griff bekommen?

Sich bei Diabetes nur auf Bewegung zu fokussieren und die Ernährung gar nicht anzupassen, reicht nicht aus. Auch da greifen Regulationsmechanismen: Der Körper versucht, nicht abzunehmen. Verbrauchen wir mehr Energie durch Bewegung, erhöht der Körper die Energiezufuhr – oft ohne, dass die Patientinnen und Patienten das gleich merken. Eine Gewichtsabnahme allein durch Sport ist also kaum möglich. Mit einer Ernährungsumstellung nehmen wir zwar ab, ideal ist aber die Kombination mit Bewegung: Wir nehmen nicht nur effektiver ab, sondern verlieren auch weniger Muskelmasse. Unsere Muskeln verbrennen einen wesentlichen Anteil der aufgenommenen Energie und des Zuckers. Bei Diabetespatientinnen und -patienten ist die Aufnahme von Zucker in die Muskelzellen gestört. Durch Bewegung kann dies aber verbessert werden. Oft sinkt der Blutzuckerspiegel nach dem Sport deutlich. Diesen Effekt können Diabetikerinnen und Diabetiker für sich nutzen. Nehmen wir hingegen ohne Bewegung ab, verlieren wir oft mehr Muskelmasse. Es wird also noch weniger Zucker und Energie verbrannt, was die Situation bei Diabetes eigentlich noch verschlimmert.

Ist Krafttraining und Muskelaufbau also besser als Joggen oder Radfahren?

Ideal ist wahrscheinlich eine Mischung aus Kraft- und Ausdauertraining. Nicht zuletzt deshalb, weil es eine gewisse Abwechslung bietet. Wenn jemand kein Krafttraining mag, ist es eher der falsche Ansatz zu sagen, "Du musst aber". Die Bewegungsart muss zur Patientin oder zum Patienten passen. Um den Muskelabbau beim Abnehmen zu verhindern, braucht es aber schon ein bisschen mehr, als gelegentlich spazieren zu gehen. Drei Mal in der Woche sportliche Betätigung, in einer Mischung aus Ausdauer- und Krafttraining, ist ein guter Ansatz. Die Daten zeigen, dass bei sechs Trainingseinheiten pro Woche Sie fast keinen Muskelschwund mehr haben. Für viele adipöse Patientinnen und Patienten ist das aber nicht realistisch. Deshalb ist unsere Herangehensweise: Jede Art der Bewegung ist positiv. Ähnliches gilt im Grunde auch für die Ernährung.

Inwiefern?

Natürlich gibt es Ernährungsmodelle, die wir für besonders sinnvoll halten. Aber was nützt der perfekte Ernährungsplan, wenn die Patientin oder der Patient nicht damit zurechtkommt? Man muss ein Modell finden, das passt und funktioniert. Manche schaffen es, ihre Ernährung von Grund auf umzustellen, andere kommen besser mit intermittierendem Fasten zurecht. Das heißt, sie haben ein bestimmtes Zeitfenster, in dem sie essen und ihre Nahrung frei gestalten dürfen. In der übrigen Zeit essen sie dafür nicht. Wieder andere achten an vier Tagen pro Woche strikt darauf, was und wie viel sie essen, und an den übrigen drei Tagen dafür nicht. Es gibt da ganz viele individuelle Konzepte.

Abnehmen durch "Wunder- Spritze"?

Jüngst sorgte eine Wunder-Spritze für Furore, mit der sich ganz leicht zehn bis 15 Kilo abnehmen lassen. Ist das eine Alternative zu einer echten Lebensumstellung?

Es stimmt zwar, dass diese Spritzen so effektiv sind. Das Problem ist jedoch, dass diese Medikamente nicht zu einer dauerhaften Gewichtsreduktion führen, die nach Beendigung der Therapie anhält. Studien zeigen, dass Personen in kürzester Zeit wieder ihr Ausgangsgewicht erreichen, sobald sie die Spritze absetzen. Das funktioniert also nicht als Kur. Wenn ich meine Ernährung nicht umstelle, dann muss ich das Medikament dauerhaft spritzen - und für viele Patientinnen und Patienten bedeutet das 30 oder 40 Jahre. Wir wissen heute aber noch nichts über die Langzeiteffekte dieser Medikamente. Tatsächlich sind diese Spritzen auch nur in Kombination mit einer Ernährungsumstellung und vermehrter körperlicher Aktivität zugelassen. Die Ernährungsumstellung bleibt also ein essentielles Element in der Behandlung von Übergewicht und Diabetes.

Sie haben zu Beginn erwähnt, dass die Heilung von Typ-2-Diabetes besonders dann gelingt, wenn die Erkrankung nicht länger als sechs Jahre vorliegt. Oftmals wird Diabetes aber erst sehr spät erkannt. Gibt es Frühwarnzeichen?

Diabetes muss eine ganze Weile bestehen, damit es zu körperlichen Beschwerden im Rahmen von Spätschäden kommt. In den ersten Jahren treten Spätfolgen wie Nierenschädigung, Augenschädigung, Herz-Kreislauf-Ereignisse oder Nervenschädigungen nur sehr selten auf. Nervenschädigungen können sich zum Beispiel in einem Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Füßen äußern. Aber das sind keine Frühsymptome, sondern bereits erste Anzeichen der Spätfolgen. Wenn ich also auf diese Symptome warte, verliere ich viel Zeit in der Behandlung. Mit Online-Fragebögen, die in großen Studien entwickelt wurden, kann man sein individuelles Diabetesrisiko testen. Habe ich ein hohes Risiko, sollte ich mit meiner Ärztin oder meinem Arzt sprechen. Der Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c reflektiert sehr gut den Durchschnittswert des Blutzuckers in den letzten zwei bis drei Monaten. Ist eine Person im Grenzbereich, kann schon eine Prädiabetes vorliegen. Dann sollte man sie einem Zuckerbelastungstest unterziehen. Je früher wir Diabetes erkennen, desto besser stehen die Chancen auf eine Remission und erfolgreiche Therapie durch Lebensstilveränderungen.

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Über den Gesprächspartner:

  • Univ.-Prof. Dr. med. Knut Mai ist Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin und kommissarischer Klinikdirektor an der Medizinischen Klinik für Endokrinologie, Diabetes und Stoffwechselmedizin der Charité Berlin.

Verwendete Quellen:

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