Die Freunde treffen sich, doch Sie haben keine Lust, mitzukommen? Beim Familienessen lachen alle vernügt, aber Sie empfinden keine Freude? Das könnten erste Anzeichen für Anhedonie sein. Ab wann Freudlosigkeit problematisch wird, erklärt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Hannes Horter im Interview.

Ein Interview


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Herr Horter, was versteht man unter Anhedonie?

Hannes Horter: Anhedonie ist der Zustand einer Unlust und Freudlosigkeit. Dabei empfindet man bei eigentlich angenehmen Aktivitäten oder auch bei dem Gedanken an diese Aktivitäten keine Freude mehr.

Ist Anhedonie somit eine eigene Krankheit oder ein Symptom verschiedener Krankheiten?

Es ist tatsächlich ein Symptom von verschiedenen Krankheiten, aber auch verschiedenen anderen Zuständen. Als Beispiel: Wenn gerade ein enger Angehöriger verstorben ist und man eine schwierige Zeit durchmacht, ist eine Trauer-Reaktion mit Freudlosigkeit erst einmal nicht krankhaft. Wenn sich so etwas verselbstständigt und über das erwartete Maß hinausgeht, müssen wir aber an dahinter liegende Erkrankungen denken. Anhedonie kann also sowohl bei verschiedenen Krankheiten vorkommen, aber auch zu normalen Emotionszuständen dazugehören.

Ab wann sollten sich Betroffene, die kaum noch Freude empfinden, Hilfe suchen?

Da muss man erst einmal schauen: Wie lange besteht dieser Zustand schon? Ist das mal ein Moment oder hält es länger an? Wenn dieser Zustand häufig eintritt oder sehr viel Lebenszeit beeinträchtigt, dann sollte man sich Hilfe und Unterstützung holen. Das zweite ist die Erklärbarkeit: Wenn Anhedonie nur in wirklich dramatischen Lebenslagen auftritt und man diese Lebenslage übersteht und wieder normal am Leben teilhaben kann, ist das anders zu bewerten, als wenn dieses Gefühl ohne ersichtlichen Grund aus heiterem Himmel und immer wieder eintritt.

Geht Anhedonie deshalb auch mit einer Depression einher?

Anhedonie ist ein typisches Symptom einer Depression, sogar eines der drei Haupt-Symptome. Bei vielen Depressionen und allen schweren Depressionen tritt dieses Symptom auf. Aber Anhedonie an sich kann auch ohne Depression auftreten.

Wie entsteht dieser Dauerzustand der Freudlosigkeit?

Da gibt es verschiedene Erklärungen. Auf jeden Fall sollte man sich deshalb professionelle Hilfe suchen, um herauszufinden, wo die Anhedonie herkommt. Verschiedene psychische oder auch physische Erkrankungen können zu einer Anhedonie führen. Neben einer Depression etwa auch Schizophrenie. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung kann Anhedonie ein Symptom sein, aber auch bei manchen Persönlichkeitsstörungen, körperlichen Erkrankungen, Hormon-Störungen, Schilddrüsen-Funktionsstörungen oder schweren Mangelzuständen.

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Sie sagen, Betroffene sollten sich Hilfe holen. Wenn man die Anhedonie noch früh bemerkt, könnte man sich auch selbst aus diesem Tief herausziehen?

Das ist schwierig pauschal zu beantworten. Wenn die Anhedonie zusammen mit einer Lebenskrise eintritt und keine schweren psychischen Erkrankungen im Raum stehen, ist die Frage: Welche Fähigkeiten, diese Krise zu überstehen, habe ich selbst? Kann ich auf andere Menschen zugehen und mir Unterstützung holen? Dann könnte man erst einmal mit Freunden sprechen oder Mitarbeitern bei Beratungsstellen, die einem helfen, diese Lebensphase zu überstehen. Aber gerade dann, wenn man nicht weiß, woher diese Freudlosigkeit kommt, kann man sich nicht selbst diagnostizieren.

Wechseln wir einmal die Perspektive: Wie sollte ich reagieren, wenn mir auffällt, dass jemand in meinem engeren Umkreis ständig freudlos ist?

Meistens ist es so, dass die Menschen zu viel Scheu haben, auf andere zuzugehen. Dabei wäre der erste Schritt, die Sorge offen anzusprechen, am besten in einem Vier-Augen-Gespräch. Wichtig ist, zu signalisieren, dass man ein offenes Ohr hat und die Person unterstützen möchte. Manchmal lässt sich damit schon etwas anstoßen, sodass die Person merkt, sie ist nicht allein.

Wie könnte es weitergehen?

Wenn die Person sich einem anvertraut und man feststellt, etwas angestoßen zu haben, das einen vielleicht überfordert, wäre der nächste Schritt zu sagen: "Such dir doch mal professionelle Hilfe. Oder hast du jemanden, mit dem du sonst noch darüber reden kannst?"

Wie würde professionelle Hilfe dann aussehen?

So vielfältig wie die Ursachen der Anhedonie selbst, können natürlich auch die Herangehensweisen sein. Ist die Anhedonie an eine Lebenssituation gebunden, könnte man sich Hilfe bei einer Beratungsstelle suchen, bei der Ausstiegsmöglichkeiten aus der Krisensituation aufgezeigt werden. Wenn jemand gerade ein schweres Trauma erlebt hat, muss er unter Umständen eine psychotherapeutische Akutbehandlung für eine vielleicht drohende posttraumatische Belastungsstörung erhalten. Wenn die Person Anhedonie im Rahmen einer Depression hat, wird es sicherlich auf die klassische Psychotherapie hinauslaufen oder eine psychiatrische Behandlung, zum Beispiel mit Antidepressiva.

Können Sie Beispiele nennen, anhand derer sich zeigt, dass eine Person unter Anhedonie leidet?

Ohne die Person nach dem inneren Erleben zu fragen, ist es nicht immer möglich. Man kann sicherlich Vermutungen anstellen. Wenn die Person vielleicht an gemeinsamen Aktivitäten teilnimmt und dabei teilnahmslos wirkt, man ihr keine Freude ansieht, könnte das ein Indiz sein. Sicherlich gibt es dafür aber auch andere Gründe.

Wenn jemand des Öfteren absagt und lieber allein daheim ist, wäre das ein Anzeichen?

Das würde ich als Warnzeichen einordnen. Es kann auf jeden Fall ein Anzeichen dafür sein, dass jemand Unterstützung braucht.

Wie viele Menschen erleben Anhedonie im Laufe ihres Lebens?

Fast 20 Prozent der Menschen haben im Laufe ihres Lebens mindestens einmal eine behandlungsbedürftige depressive Episode. Anhedonie kann dabei als Symptom auftreten. Da Anhedonie aber auch ohne Depression auftreten kann, wird diese viel häufiger vorkommen.

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Gibt es Präventionsmaßnahmen, durch die sich Freudlosigkeit verhindern lässt?

Wichtig ist sicherlich, in Kontakt zu seinen Mitmenschen zu bleiben. Ich empfehle auch, den Kontakt zu einer Person zu halten – auch wenn man den Eindruck hat, das möchte sie gerade nicht. Denn wenn die Isolation weiter zunimmt, geht das schnell in eine Art Spirale über, die immer tiefer hineinführt. Man sollte deshalb versuchen, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Etwa, indem man diese Personen motiviert, an gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen. Allein das Machen von positiven Dingen kann schon hilfreich sein.

Manchmal will man allerdings einfach lieber auf dem Sofa liegen. Ist es okay, mal zu sagen: "Ich habe jetzt nicht die Energie, mich mit Freunden zu treffen. Heute bleibe ich mal auf der Couch"?

Man sollte in erster Linie auf sich und seinen Körper hören. Mal Zuhause zu bleiben ist absolut legitim. Nur: Wenn man merkt, dass das zu einem Muster wird, sollte man sich das genauer ansehen. Manchmal liegt das auch an einer Überlastung im Job oder einer anderen Überforderung.

Über den Experten: Hannes Horter ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Promotion. Er ist Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Behandlung von Depression, Burnout, Psychosen, Angstkrankheiten und Persönlichkeitsstörungen.
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