"Ich denke also bin ich" - ist das so? Oder wissen wir dank unserer Intuition sogar mehr als wir denken? Die Linzer Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Regina Obermayr-Breitfuß beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema "Intuition" und gibt einen Einblick in die Psyche des Menschen und die Frage, welche Kraft tief in uns drin steckt.
Frau Dr. Obermayr, Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren mit dem Thema "Intuition". Was macht denn für Sie die Bedeutung und das Wesen von Intuition aus?
Regina Obermayr: Ich würde Intuition als geistige Kraft oder inneres Wissen beschreiben - als ein Wissen, das einfach da ist. Man könnte auch sagen, ein Voraus-Wissen, ein "geistiger Tastsinn", mit dem man sich völlig über eine Sache im Klaren ist. Stellen Sie sich vor, Sie wachen am Morgen auf und wissen: Ja, genau - so ist es. Dann spüren Sie Ihre Intuition - wie ein "Aha-Erlebnis".
Hat das etwas mit Hellsichtigkeit oder Instinkt zu tun?
Nein, ganz im Gegenteil: Hellsichtigkeit ist eher mit Gefühl verbunden. Man muss auch klar unterscheiden zwischen Intuition, Instinkt und Unterbewusstsein - das sind völlig verschiedene Dinge. Intuition entspringt aus einem sogenannten "Überbewusstsein". Dieser Begriff ist unter anderem von Georg Kühlewind, einem ungarischen Bewusstseinsforscher, Pädagogen und Physikprofessor an der Universität in Budapest geprägt worden, der dazu einige Werke veröffentlicht hat.
Wozu ist Intuition gut?
Mit Intuition oder etwa dem Überbewusstsein gelingt es, das Wesentliche der Dinge schlagartig zu erfassen und auch aus sehr komplexen Themen blitzartig die wichtigsten Inhalte zu filtern. Stellen Sie sich einen Notarzt vor, der blitzschnell Entscheidungen von großer Tragweite treffen muss, um Leben zu schützen. Das ist etwas absolut Reales und hat nichts zu tun mit Esoterik.
Also wissen wir mehr als wir denken?
Ganz genau. Mit professioneller Intuition, dem Inneren, dem "Ich" oder "Intuitions-Ich", das mit feineren Sinnen und mit Tiefblick ausgestattet ist, weiß man mehr, als man im "Alltags-Ich" weiß. Es ist quasi eine innere Spürnase. Intuition kann man auch sehen als Wissen über etwas, das in der Zukunft liegt. Viele von uns kennen solche Situationen, wenn man etwa ein Glas abstellt und die Eingebung hat, es steht dort nicht gut, es würde gleich hinunterfallen - und dann fällt es tatsächlich. Wir hätten also in uns ein natürliches Regelungssystem, das uns auch vor Gefahren schützt - man muss nur hingucken.
Das heißt, wir täten gut daran, in Entscheidungssituationen auf unsere Intuition zu hören?
Das wäre wünschenswert, denn es kommt ja häufig vor, dass Menschen von intuitiven Erlebnissen erzählen und berichten, dass ihre Intuition sie vor etwas gewarnt hätte. Dass sie aber nicht hingehört hätten. Intuition gibt Richtung und Orientierung selbst in kleinsten und alltäglichsten Entscheidungssituationen vor.
Und wieso hören wir dann nicht hin?
Für unsere Entscheidungen stehen uns Menschen ja fünf "Ich'e" zur Verfügung, häufig werden aber nur zwei oder drei genutzt. Viele reden von Kopf und Gefühl, wieder andere von Kopf und Herz. Es kann aber problematisch sein, wenn Menschen etwa aus ihrem Instinkt heraus nur handeln oder "einfach mal machen", ohne die anderen Ichs hinzuzuziehen.
Das heißt, man muss allen Ichs Aufmerksamkeit schenken.
Wir alle haben unser "inneres Team", das aus wichtigen Kräften für verantwortungsvolle Entscheidungen besteht. Wir haben die Möglichkeit, in Abstand zu treten - zu unserem Denken oder zu unserer Emotionalität. Wir können mit unseren Ichs in Dialog treten, ohne innere Kämpfe auszutragen, nachdenken, Struktur finden. Und dann können wir auch unser fünftes Ich, die Intuition, in die Entscheidungsfindung einfließen lassen.
Wie geht man dabei am besten vor?
Um dieses Periskop, dieses Radarsystem aktivieren und nutzen zu können, ist es wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Fragen nach "Warum, weshalb, woher" sind hier fehl am Platz, denn sie richten sich an unseren Verstand. Unsere Erfahrung würde etwa mit der Frage "Woher kenne ich das" angesprochen werden. Um mit der Intuition in Resonanz zu kommen, schafft man Zugang durch das Herstellen einer "inneren Stille", sodass Informationen zu meinem Alltags-Ich fließen können.
Geeignet sind Fragen, die mit "Was" beginnen, etwa "Was weiß ich über das, was heute das Wichtigste für mich sein wird?". Ein intuitiver Prozess beginnt immer mit einer Überraschung, das ist das absolute Merkmal. Man wird sozusagen stutzig, hinterfragt, ob das wirklich stimmen kann. Das sind erste Signale, die anzeigen, dass sich das Innere meldet. Und dann muss man den Mut haben, zuzuhören.
Können wir diese Geduld überhaupt aufbringen, um bewusst zuzuhören bevor wir entscheiden?
Nun ist es nicht so, dass man im Alltags-Ich sofort etwas mit der intuitiven Information anfangen kann, man befindet sich in einer Form von Schwebezustand. Der Verstand will aber sofort einen Beweis oder Sicherheit. Deshalb muss man auch lernen, mit diesem Schwebezustand umzugehen, ihn auszuhalten, bis die Information immer klarer wird. Je nach Temperament braucht man auch unterschiedliche Methoden, um die Sinne so weiterzuentwickeln, dass man bewusst Zugang schaffen kann. Das kann man sich vorstellen wie einen Muskel, den man trainieren möchte - das muss man üben.
Schlummert diese Kraft denn in jedem von uns?
Alle Menschen kommen mit diesem natürlichen Radarsystem, dem inneren Periskop zur Welt. Es ist ja eine ganz normale geistige Fähigkeit. Bei der Geburt haben wir alle schlummernde Sinne, wie Keime, die es zu entwickeln gilt. Aber nicht jeder lässt es auch zu.
Es ist auch in den verschiedenen Kulturkreisen bedingt, ob der Zugang zu Intuition offen steht oder nicht. In Western-Samoa etwa wird sie schon im Kleinkindalter gefördert. Kindern wird dort genau zugehört, was sie geträumt haben, weil bekannt ist, dass sie beispielsweise das Nahen von Naturkatastrophen bereits im Voraus spüren. Es wird ihnen der feinstoffliche Sinn nicht aberzogen oder als Phantasie abgetan. Eltern fragen sich doch häufig, woher ihr Kind etwas Bestimmtes wissen kann und sind verblüfft über deren inneres Wissen.
Intuition verhilft einem also dazu, Komplexität zu reduzieren. Diese Klarheit muss doch gerade im Berufsalltag sehr wertvoll sein.
Das passiert gerade. Speziell etwa Vertreter der Baubranche haben bereits das Thema Intuition und dessen Nutzen für das Berufsleben aufgegriffen. Und das macht auch Sinn. Stellen Sie sich vor, Sie wären Chef eines Unternehmens und hätten dank Ihrer Intuition Zugang zu Wissen oder Informationen aus der Zukunft. Sicher würden Sie das gern in die Zukunft und die Entwicklungsmöglichkeiten Ihrer Firma einfließen lassen.
Wie könnte das aussehen?
Das Zulassen von intuitiven Erkenntnissen kann Unternehmen gerade im Bereich der Produktion helfen, Gefahren zu vermeiden oder Reklamations- und Ausfallkosten zu senken. Mir ist zum Beispiel ein Fall bekannt, bei dem ein leitender Angestellter dank seiner Intuition einen größeren Schaden auf einer Baustelle vermeiden konnte, weil es ihm keine Ruhe gelassen hat, bis er seinen Befürchtungen nachgegangen ist und den Fehler gefunden hat.
Auch bei Personalentscheidungen ist die Kraft der Intuition bedeutend. Bei der Auswahl der passenden Bewerber verlassen wir uns auf den Instinkt, wir beurteilen, ob eine Person sympathisch ist oder nicht. Viel fundierter wäre doch eine Mitarbeiterauswahl, die wie ein 3-D-Bild tiefer blickt, einen Kandidaten "durchschaut" - und zwar im positiven Sinne, sein Potenzial, seinen Charakter, seine berufliche Entwicklung durchblickt. So werden künftig Personalchefs vorgehen.
Kann man Intuition auch in Innovationsprozessen nutzen?
Es ist in der Vergangenheit schon häufig der Fall gewesen. Dass Erfinder intuitive Ideen, die einer starken Eingebung statt einer Fantasie entsprungen sind, geboren haben - aber nicht sofort darüber sprechen oder die Idee umsetzen konnten. Wichtig ist, dass diese Ideen oder Eingebungen ein gutes Auffangbecken antreffen, damit sie weiter reifen können, bis man sich seiner Sache sicher ist.
Wie lange kann so etwas dauern?
Das ist ein Reifeprozess, der alle fünf Dimensionen des Selbst durchdringt - man durchdenkt und durchfühlt die Idee, beleuchtet sie auch kritisch. Sie wird mit Leben erfüllt und durch Begeisterung kann soziale Power entstehen. Entlang dieses Reifens im Innovationsprozess mit allen Vorbereitungen und Konzepten, der Wahl des richtigen Ortes und des richtigen Zeitpunkts, kann man sich erneut der Intuition bedienen, abwägen, erkunden und Informationen daraus ziehen.
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