Influencerin Karina Spiess spricht über ihr Leben mit einer chronischen Darmerkrankung, die Tabuisierung von Stuhlgang und erklärt, warum alltägliche Dinge wie ein Restaurantbesuch in ihr eine "Scheiß-Angst" auslösen.
Karina Spiess leidet am Reizdarmsyndrom. Auf ihrem Instagram-Kanal "kikidoyouloveme" klärt sie über chronische Darmerkrankungen auf und will das Thema Stuhlgang aus der Tabuzone holen. Im Gespräch mit unserer Redaktion spricht die 25-Jährige über Scham, ihre Angststörung und Geschlechterschubladen, in die Darmbeschwerden noch immer gesteckt werden.
Frau Spiess, bei Instagram bezeichnen Sie sich selbst als "Kackfluencerin" – dahinter steckt sowohl eine Portion Augenzwinkern als auch eine ernste Geschichte …
Karina Spiess: Das stimmt. Ich leide am Reizdarmsyndrom, einer chronischen Darmerkrankung. Natürlich hat es mich sehr viel Überwindung gekostet, über meine Beschwerden zu sprechen. Trotzdem ist mir eines Tages aufgefallen, dass Menschen in meinem Umfeld als Reaktion auf meine Berichte häufig von ähnlichen Problemen und Beschwerden erzählt haben und entsprechend dankbar für meine Offenheit waren. Irgendwann habe ich dann angefangen, bei Instagram über meinen Reizdarm zu sprechen und die Menschen zu ermutigen, das Thema Stuhlgang zu enttabuisieren. Meine beste Freundin inspirierte mich dann dazu, aus den Begriffen "kacken" und "Influencerin" die Bezeichnung "Kackfluencerin" entstehen zu lassen.
Erzählen Sie uns von dem Weg zu Ihrer Diagnose. Wurden Sie mit Ihren Beschwerden bei Ärzten ernst genommen?
Der Weg zur Diagnose bei einem Reizdarm ist sehr lang und frustrierend, weil sie nicht über einen Test, sondern über ein langwieriges Ausschlussverfahren ermittelt wird. Lange Zeit habe ich mich von Ärzten und Ärztinnen mit meinen Beschwerden nicht ernst genommen gefühlt. Insofern bin ich sehr glücklich, nach sehr langer Zeit endlich eine Praxis gefunden zu haben, in der ich und meine Symptome ernstgenommen werden.
Der beschwerliche Weg zur Diagnose macht sich sicherlich auch auf mentaler Ebene bemerkbar …
Absolut. Anfangs war meine Situation vor allem frustrierend und angsteinflößend. Meine Ängste waren zu dieser Zeit aber noch sehr auf den Darm beschränkt und haben mich noch nicht allzu sehr in meinem Alltag gehemmt. Mit der Zeit hat sich dann aber eine allgemeine Angststörung bei mir entwickelt. Ich vergleiche die Situation häufig mit einem Schleier, der sich nach und nach immer mehr auf alltägliche Situationen ausgeweitet und mich entsprechend beeinträchtigt hat. Irgendwann haben mir alle Situationen Angst gemacht. Bei jedem noch so kleinen Kribbeln im Körper dachte ich, ich müsse ins Krankenhaus, hatte im selben Atemzug aber Angst davor, dass mir ohnehin niemand glaubt. Dazu kam die ständige Panik, etwa beim Gassigehen mit meinem Hund oder beim Fahren mit dem Bus, keine Toilette in der Nähe zu haben.
"Eine Angststörung zu bekämpfen, ist wahnsinnig anstrengend"
Stellen Sie sich diesen alltäglichen Herausforderungen?
Ich habe im vergangenen Jahr mit einer Therapie begonnen und gelernt, dass ich die Ängste nur überwinden kann, indem ich mich direkt in die entsprechende Situation begebe. Für einen Menschen mit einer Angststörung ist diese Konfrontation wirklich schwer. Ich denke da etwa an Dinge wie Essen gehen. Der Gang ins Restaurant ist für viele Menschen etwas ganz Normales und Schönes, während es für mich eine wirklich extreme Herausforderung darstellt. Doch nur indem ich durch solche Situationen gehe, kann ich die Ängste zu überwinden – möglicherweise auch, indem ich im Restaurant eine Panikattacke durchlebe und daran wachse.
Nehmen Sie schon eine Verbesserung Ihrer mentalen Situation wahr?
Eine Angststörung zu bekämpfen, ist wahnsinnig anstrengend. Dennoch sind die Erfolgschancen ziemlich hoch, was mich sehr ermutigt, weiterzumachen.
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Via Instagram teilen Sie alles rund um Stuhlgang, Durchfall oder Blähungen mit Ihren inzwischen mehr als 200.000 Followern – ist es Ihnen schon immer leicht gefallen, über diese Themen zu sprechen?
Ich glaube, irgendwann verliert man komplett das Verständnis für diese hohe Zahl an Menschen. Streng genommen ist es ja auch egal, ob ich ein paar Hundert oder 200.000 Menschen erzähle, dass ich Durchfall habe. Inzwischen bin ich mit Blick auf das Thema überhaupt nicht mehr schambehaftet. Früher war das natürlich ganz anders. Mit 15 begannen meine Beschwerden und ich erinnere mich, dass ich erst mit rund 23 Jahren erstmals darüber sprechen konnte.
"Ich denke, dass die Tabuisierung mit unserer Sozialisierung zu tun hat"
Hatten Sie auch Sorge vor der Reaktion Ihres Partners?
Es ist mir damals sehr schwer gefallen, mich zu überwinden, meine Beschwerden offen anzusprechen. Wenn man gerade jemanden kennenlernt, möchte man Sätze wie "Du, ich habe eine Darmkrankheit und kack' mir richtig häufig auf der Toilette einen ab" eher vermeiden (lacht). Wäre ich heute in einer Kennenlernphase, würde ich so etwas vermutlich sagen, damals habe ich mich das aber nicht getraut und meinem Partner erst nach rund einem Monat von meiner Erkrankung erzählt. Schlussendlich war ich erst nach etwa einem Jahr Beziehung wirklich im Reinen damit, meinem Partner zu sagen, zur Toilette zu gehen. Mein Freund ist wahnsinnig unterstützend und steht voll und ganz hinter mir. Dazu muss ich aber sagen, dass es meiner Meinung nach eine Selbstverständlichkeit in einer Partnerschaft sein sollte, die andere Person mit Blick auf Erkrankungen zu unterstützen. Geht es meinem Freund nicht gut, bin ich genauso für ihn da, wie er für mich.
Bei der Tabuisierung von Darmerkrankungen spielen auch typische Geschlechterschubladen eine Rolle. Können Sie sich erklären, warum Stuhlgang oder Symptome wie etwa Durchfall oder Blähungen für Frauen stärker tabuisiert werden als für Männer?
Ich denke, dass die Tabuisierung mit unserer Sozialisierung zu tun hat. Frauen werden mit Attributen wie Reinheit, Sauberkeit oder Schönheit in Verbindung gebracht und nicht etwa mit Exkrementen, die häufig für Unreinheit oder Krankheiten stehen. Mit diesen Glaubenssätzen wachsen wir auf. Ich erinnere mich etwa an meine Schulzeit: Jungen feiern sich gegenseitig dafür und geben sich ein High Five, wenn sie im Unterricht oder auf dem Schulhof furzen, während Mädchen dafür ausgelacht und noch Wochen später gehänselt werden. Aber nicht nur der Stuhlgang wird mit Blick auf Frauen tabuisiert, sondern beispielsweise auch die Periode. Junge Frauen geben sich die größte Mühe, Tampons oder Binden auf dem Weg zur Toilette in ihrem Pulloverärmel oder dem Rucksack zu verstecken, damit sie bloß nicht in eine unangenehme Situation geraten. Es ist wahnsinnig unfair, dass wir denken, die menschlichsten Dinge verstecken zu müssen.
Und doch spielt die Tabuisierung nach wie vor eine große Rolle …
Leider ja. In einer Partnerschaft etwa finde ich es vollkommen in Ordnung, wenn gleichermaßen nicht über Themen wie Stuhlgang gesprochen wird. Was ich hingegen unfair finde, ist, wenn ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern herrscht und der Mann offen über seinen Stuhlgang spricht, vom Toilettengang oder Darmproblemen der Partnerin aber bloß nichts mitbekommen möchte.
Als Folge dieser Tabuisierung sprechen vor allem Frauen weniger über Beschwerden beim Stuhlgang als etwa Männer und mögliche Erkrankungen werden erst später oder gar nicht entdeckt. Ein problematischer Kreislauf, oder?
Ja, das ist es. Mir folgen deutlich mehr Frauen als Männer bei Instagram und ich erhalte häufig Nachrichten von Frauen, die sich nicht trauen, mit ihren Beschwerden eine Fachpraxis aufzusuchen. Zu groß ist die Sorge, was ein potenziell männlicher Arzt über sie denken könnte.
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"Mir ist bewusst, dass ich mit meinem Content kontroverse Reaktionen erziele"
Gibt es auch negative Reaktionen auf die Aufklärungsarbeit, die Sie leisten?
Die gibt es. Mir ist bewusst, dass ich mit meinem Content kontroverse Reaktionen erziele – genau das ist der Sinn meiner Arbeit. Negatives Feedback und digitalen Hate erhalte ich in der Regel mehr von Männern als von Frauen, vor allem dann, wenn ein Beitrag viral geht und auch Menschen außerhalb meiner Community erreicht.
Was sind das dann für Reaktionen?
Sehr gemeine, sexistische und frauenfeindliche Kommentare, die unter die Gürtellinie gehen. Diese richten sich sowohl gegen mich als Absenderin als auch gegen Frauen im Allgemeinen.
Aus Ihrer persönlichen Geschichte und dem Ziel der Enttabuisierung ist Ihr Buch "Scheiß-Angst" entstanden. Hatte das Schreiben des Buches gewissermaßen therapeutische Effekte?
Meine therapeutischen Effekte ziehe ich aus meiner Therapie, insofern bin ich mit der Verwendung dieser Begrifflichkeit immer etwas vorsichtig. Ich kann aber sagen, dass das Schreiben des Buchs einen allumfassenden Blick auf mich und meine Erkrankung ermöglicht hat. Fragen wie "Wie habe ich mich damals in Freundschaften oder Beziehungen verhalten?" oder "Welchen Prozess habe ich durchlaufen?" konnte ich rückblickend noch einmal für mich beantworten, was wirklich eine besondere Erfahrung war. Insofern hat das Schreiben riesigen Spaß gemacht und ich war richtig traurig, als die Arbeit an dem Buch abgeschlossen war.
Das Buch wurde zu einem Bestseller, inzwischen ist es sogar als Hörbuch erhältlich. Das Interesse der Menschen für die Themen Stuhlgang, Durchfall, Blähungen und Darmerkrankungen ist also ganz offensichtlich vorhanden. Und dennoch sind es immer noch Tabuthemen …
Richtig, es ist wirklich paradox. Ich glaube dennoch, dass wir auf einem guten Weg sind. Zunächst eignen sich die Menschen rationales Wissen an, ehe dieses Wissen dann von ihrem Kopf in ihre Gefühlswelt übergeht. Dass die Menschen immer offener werden, mehr über ihren Stuhlgang sprechen und mehr Enttabuisierung zulassen, ist ein wichtiger Schritt. Umso größer ist meine Hoffnung, dass wir in zehn Jahren möglicherweise an einem Punkt angekommen sind, an dem ohne Scham über Themen wie Blähungen oder Darmerkrankungen gesprochen wird.
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