- In Deutschland sind rund vier Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen.
- Die kleine Tochter von Stefica Budimir-Bekan ist eine von ihnen.
- Wie sie mit dem Thema umgeht, beschreibt Budimir-Bekan in ihrem Buch "Mit Ana ist alles anders" - und in diesem Interview.
Weltweit leben rund 400 Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung, rund die Hälfte der Betroffenen sind Kinder.
Auch die dreijährige Tochter von Autorin Stefica Budimir-Bekan kam mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt - nur etwa rund 100 Fälle sind weltweit klinisch dokumentiert. Ihre Entwicklungsverzögerung und Muskelhypotonie stellen ihre Familie vor große Herausforderungen.
Kinder mit Entwicklungsverzögerungen sind zum Beispiel langsamer in Alltagssituationen. Das An- und Ausziehen fällt ihnen schwer - sie verwechseln bei Kleidungsstücken innen und außen, vorne und hinten, oben und unten. Feinmotorische Tätigkeiten können Kinder mit verminderter Muskelkraft oft nur mit Hilfe bewältigen. Auch die Sprachentwicklung ist oftmals verzögert.
In ihrem Buch "Mit Ana ist alles anders" (Komplett Media GmbH) schildert die zweifache Mutter Budimir-Bekan nun ihre ganz persönliche Geschichte und will anderen Betroffenen Mut machen.
Ängste, Sorgen, Verzweiflung, aber auch Glück und Lebensfreude - in Ihrem Buch schildern Sie Ihre ganz persönliche Geschichte - was hat Sie dazu bewogen, diese aufzuschreiben?
Budimir-Bekan: Als wir Anas Diagnose bekamen, waren wir erst mal völlig überfordert. So eine Nachricht, die das Leben einer Familie komplett auf den Kopf stellt, erschlägt einen erst mal förmlich. Was heißt das jetzt für uns? Was müssen wir nun tun? Welche Therapien, welche Behandlungen gibt es? Wie sieht es mit finanziellen Hilfen aus? Welche Ärzte machen was? Was kann ich im Alltag tun, damit mein Kind Fortschritte macht? Fragen über Fragen. Es war ein langwieriger Prozess, dorthin zu kommen, wo wir heute stehen. Das war natürlich mit vielen Tränen und viel Arbeit verbunden. Ich hoffe, mit meinem Buch anderen betroffenen Eltern durch diese schwierige Zeit zu helfen. Sie zu motivieren. An sie zu appellieren, nie aufzugeben - auch wenn es enorme Kraft erfordert. Sie zu inspirieren. Ihnen zu zeigen, dass es einfacher ist, mit ihren Kindern zu üben als sie denken.
Im Buch stellen Sie Übungen vor, die sowohl die motorischen als auch die kognitiven Fähigkeiten fördern und mit den einfachsten Mitteln durchführbar sind.
Ja, alle Übungen, die wir in Zusammenarbeit mit unserer Physiotherapeutin Sigrid Rose zeigen, lassen sich wunderbar in den Alltag integrieren und mit den günstigsten Hilfsmitteln umsetzen, die jeder von uns zu Hause hat. Wir beschreiben die Übungen nicht nur, sondern stellen auch die entsprechenden Behandlungsvideos zur Verfügung. Ich wünschte, ich hätte so ein Buch gehabt, das mir hilft, mich zu sammeln und mich zu orientieren. Alles, was ich zu "Muskelhypotonie" und "Entwicklungsverzögerung" gelesen habe, war mir zu fachlich, zu unverständlich, zu kompliziert - irgendwann saß ich vor all diesen Büchern und habe noch mehr geheult als vorher. Deshalb war es ein Herzenswunsch von mir, unsere Erfahrungen aufzuschreiben und Anas persönliche Geschichte zu erzählen. Es war mir vor allem wichtig, das mit Worten zu tun, die jeder versteht. Wenn das Buch jemandem die Angst vor dem nehmen kann, was auf ihn zukommt, dann habe ich mein Ziel erreicht.
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Sie beschreiben ehrlich, wie Sie anfangs "Dinge beschönigt, sie bewusst ignoriert, sich eingeredet haben, dass es schon werden wird. Dass Ihre Tochter nur etwas länger braucht als andere Kinder." Wie blicken Sie heute auf diese Zeit zurück?
Ich glaube, dass es menschlich ist, dass wir erst mal so reagieren. Denn natürlich wünschen sich alle Eltern, dass ihr Kind gesund und nicht auf Hilfe angewiesen ist. Zu akzeptieren, dass es nicht so ist und dass es das Leben, dass man sich für dieses Kind ausgemalt hat, niemals geben wird, ist nicht einfach. Und es ist natürlich ein Prozess. Man muss das alles erst mal verarbeiten. Es wäre komisch und auch irgendwie traurig, wenn man solch eine Diagnose einfach wegstecken könnte. Das Wichtigste ist aber, die Realität als solche zu akzeptieren.
Irgendwann muss man nach vorne blicken und sich eingestehen, dass es so ist und auch immer so bleiben wird. Erst als ich Anas Diagnose angenommen hatte, konnte ich auch wirklich weitermachen. Ich spürte, wie mir eine riesige Last von den Schultern fiel. Mir wurde bewusst, dass es mir nichts bringt - auch Ana nicht - wenn ich nur herumsitze, weine und dem Leben hinterhertrauere, das wir sowieso nicht haben werden. Stattdessen habe ich beschlossen, das Leben zu genießen, das uns gegeben wurde, Ana zu fördern und zu fordern. Als ich sah, welche Fortschritte sie machte, wusste ich, dass das der richtige Weg ist.
Nicht auf ein Wunder warten
Was würden Sie rückblickend anders machen und welchen Rat können Sie Eltern geben, die Entwicklungsstörungen bei Ihrem Kind feststellen?
Wir hätten früher damit anfangen können, unser Kind zu fördern, statt darauf zu hoffen, dass ein Wunder passiert. Mein Mann und ich hatten deshalb lange Schuldgefühle, weil wir mehr hätten tun können. Wir haben zwar nichts falsch gemacht, könnten es heute aber anders machen.
Ich habe Ana auch ständig mit gesunden Kindern verglichen. Apps installiert, die mich darauf hinwiesen, dass mein Kind mit so und so vielen Monaten dieses und jenes können muss. Und habe darauf gewartet, dass auch genau das passiert. Ich habe nach Symptomen gegoogelt und mich damit verrückt gemacht. Rückblickend würde ich alle Apps löschen und die Google-Startseite von meinem Bildschirm entfernen. Es bringt absolut gar nichts, sein Kind mit anderen zu vergleichen. Jedes Kind entwickelt sich anders und auch jede Diagnose hat andere Symptome. Was aber immer gleichbleibt, ist die Therapie. Üben, üben, üben! Das ist es letztendlich, was zählt, und die Fortschritte bringt. Alles andere kann man getrost archivieren.
Gewissheit brachte schließlich ein Gen-Test, über den Sie schreiben: "Obwohl ich eine Diagnose wollte. In dem Moment, als ich sie bekam, wollte ich sie nicht mehr. Ich wollte sie zurückgeben". Können Sie Eltern verstehen, die sich bewusst gegen einen Gentest entscheiden, weil sie nicht genau wissen wollen, was ihr Kind hat?
Wir haben uns für einen Gentest entschieden, weil wir wissen wollten, welche Therapien Ana braucht, um sie bestmöglich fördern zu können. Ich kann allerdings auch Eltern verstehen, die das nicht wollen. Es ist nicht einfach, eine Diagnose zu akzeptieren. Man muss sich aber fragen, aus welchen Gründen man diesen Gentest nicht haben möchte. Will ich nur nicht wissen, was mein Kind hat, weil es sowieso nichts ändert, oder will ich einfach nicht, dass mein Kind einen Stempel bekommt? Wenn es Letzteres ist, finde ich es schade. Ich finde, dass alle Kinder einen Platz in dieser Gesellschaft verdient haben - ob mit oder ohne Diagnose. Wenn wir nicht anfangen, unsere Kinder so zu akzeptieren, wie sie sind, können wir von anderen auch keine Inklusion erwarten.
"Es ist wichtig zu trauern"
"Ich habe diesem Kind, das ich nicht hatte, lange hinterhergetrauert. Ich habe die Vorstellung von einem gesunden Kind betrauert", schreiben Sie in Ihrem Buch. Später erklären Sie: "Ich habe dieses Kind begraben", wie haben Sie diese Trauer bewältigt?
Ich glaube, dass es mir am meisten geholfen hat, als ich die Diagnose akzeptiert habe. Ich musste mich erst von den ganzen Wunschvorstellungen verabschieden, um die Behinderung meiner Tochter annehmen zu können. Statt Ana ständig in eine Schablone quetschen zu wollen, in die sie einfach nicht passt, war es wichtig, sie zu akzeptieren, wie sie ist.
Auch das Buch hat mir geholfen. Alles mal niederzuschreiben, seine Gefühle einfach mal rauszulassen - das war eine Art von Therapie. Vielleicht ist mir das alles aber auch nur gelungen, weil ich es zugelassen habe, zu trauern. Es ist wichtig, zu trauern. Nur irgendwann sollte die Trauer auch aufhören. Ana hat natürlich auch ihren Teil dazu beigetragen. Zu sehen, wie glücklich sie ist, hat mir die Augen geöffnet. Denn wenn sie das - mit all ihren Krankheiten - sein kann, dann sollte ich das auch sein können. Das hat mir gezeigt, dass im Grunde genommen alles in Ordnung ist.
Ana leidet unter dem sehr seltenen Gendefekt "MBD5-associated neurodevelopmental disorder" (MAND), nur etwa rund 100 Fälle sind weltweit klinisch dokumentiert. "Welche die richtige Therapie für mein Kind ist, musste ich selbst herausfinden", schreiben Sie im Buch. Wie ist Ihnen das gelungen?
Wir waren offen gegenüber allen Therapien. Wir haben alles ausprobiert und die Therapien in unseren Alltag integriert, die Ana wirklich weiterbringen: Bobath und Vojta. Man darf sich nicht zu sehr von anderen beeinflussen lassen. Das kann dazu führen, dass man voreingenommen ist und viele Therapien vielleicht schon im Vorfeld ablehnt, ohne sie überhaupt ausprobiert zu haben. Ich habe beispielsweise Schreckliches über die Vojta-Therapie gehört. Dass sie Kinder traumatisiert. Hätte ich der Vojta-Therapie nie eine Chance gegeben, dann hätte Ana nicht die Fortschritte gemacht, die sie gemacht hat.
Wie können Eltern die bestmögliche Therapie für ihr Kind finden, welche Anlaufstellen helfen hier weiter?
In erster Linie ist der Kinderarzt oder der Neuropädiater die beste Adresse für entwicklungsverzögerte Kinder. Dieser verschreibt dann beispielsweise Physiotherapie oder überweist an die richtigen Stellen weiter. Eine hilfreiche Anlaufstelle ist auch das SPZ (Sozial-pädiatrisches Zentrum), da einem dort nicht nur Ärzte zur Seite stehen, sondern auch Therapeuten. Das Kind bekommt dort Frühförderung, Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie. Je nach Bedarf wird man aber auch von einem Team aus Psychologen oder Sozialpädagogen betreut.
"Unser Pflegesystem ist für'n Arsch"
Was muss sich ändern, damit auch Kindern mit seltenen Krankheiten besser geholfen werden kann?
Um wirklich etwas ändern zu können, müsste man ganz oben bei der Politik anfangen. Denn pflegende Eltern kommen in unserer Gesellschaft leider viel zu kurz und sind immer noch eine Randgruppe. Um es auf gut Deutsch auszudrücken: Unser Pflegesystem ist für'n Arsch. Wie soll man sich 24/7 um ein behindertes Kind kümmern, wenn man arbeiten gehen muss, weil man keine finanzielle Hilfe vom Staat bekommt? Wir erhalten keine Lohnfortzahlungen, keinen Lohnersatz. Und auch keinen Sonderurlaub - obwohl wir jeden Therapietermin, jede Behandlung, jeden Krankenhausaufenthalt mit unserem Kind wahrnehmen. Wir dürfen nichts vergessen oder unkonzentriert sein, weil wir unseren Kindern täglich wichtige Medikamente verabreichen. Wir müssen auch funktionieren, wenn wir krank oder unausgeschlafen sind.
Der Gesetzgeber geht grundsätzlich davon aus, dass die Pflege eines Angehörigen "ehrenamtlich" erfolgt, dabei leisten wir wertvolle Care-Arbeit und entlasten das Gesundheitssystem. Das Pflegegeld, das Kinder mit Behinderung erhalten, wird für die Pflege des Kindes verwendet und ist oft nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Pflegende Eltern benötigen eine Lohnfortzahlung, damit sie ihre Kinder bestmöglich unterstützen und fördern können. Wenn ich arbeiten muss, damit meine Familie überleben kann, bleibt das Kind auf der Strecke.
Pflegegrad, Schwerbehindertenausweis, Landespflegegeld, Hilfsmittel beantragen... auch die Bürokratie stellt viele Eltern vor eine große Herausforderung. Mit welchen Hürden haben Sie bis heute zu kämpfen?
Die größten Hürden bereiten einem die Kranken- und Pflegekassen. Vor allem, wenn es um die Bewilligung von Hilfsmitteln geht. Die Kostenübernahme wird oft in erster Linie einfach abgelehnt und erst nach Widerspruch bewilligt. Wir haben beispielsweise über ein halbes Jahr auf eine Badeliege gewartet, die meine Tochter zum Baden dringend benötigt. Und das nur, weil die Kasse sich hundert Euro sparen wollte und uns zu einem Sanitätshaus ihrer Wahl geschickt hat, statt einfach den Kostenvoranschlag von dem Sanitätshaus zu bewilligen, den wir ihnen hatten zukommen lassen. Wir haben die Badeliege übrigens in der Ausführung, in der wir sie brauchen (wichtiges Zubehör fehlt) auch heute noch nicht erhalten. Wir kämpfen außerdem damit, eine bezahlbare, barrierefreie Wohnung zu finden - darüber könnte ich noch ein zweites Buch schreiben.
Wie umgehen mit betroffenen Eltern und Kindern?
"Besondere Eltern haben besondere Kinder" oder "Aber er/sie sieht doch völlig normal aus": Sie listen Sätze auf, die pflegende Eltern nicht mehr hören können. Welche Sätze würden Sie sich stattdessen aus dem Umfeld wünschen?
Ich habe keine Sätze, die für jeden richtig sind. In erster Linie geht es darum, behinderte Kinder genauso zu behandeln wie andere. Und sie nicht auszuschließen oder aufgrund ihres Äußeren zu beurteilen. Sie wollen an diesem Leben genauso teilhaben wie andere, ohne ständig doof von der Seite angeguckt zu werden. Sie sind Teil dieser Welt und sollten auch alles mitmachen können: Freunde haben, spielen, einfach Kind sein. Und wenn man tatsächlich etwas sagen möchte, dann sollte man am besten offen und ehrlich sein - und nicht auf vorgefertigte Sätze zurückgreifen, im Glauben, man tue pflegenden Eltern damit etwas Gutes. Ein "Wie geht es dir?" tut es oft auch.
"Der Spielplatz ist ein Ort voller Seifenblasen und Einhörner. Ein Wettbewerb, bei dem es darum geht, sich - und sein Kind - von der besten Seite zu zeigen." Wie gehen Sie mit den bemitleidenden Blicken anderer Eltern um?
Meist sehen diese Eltern direkt weg und sind peinlich berührt, wenn man ihnen ganz tief in die Augen schaut oder ihnen eine Frage stellt. Mittlerweile habe ich gelernt, damit umzugehen. Solche Dinge nicht mehr an mich heranzulassen. Das Leben ist zu kostbar, um es damit zu verschwenden, darauf zu achten, was andere tun oder sagen. Ich habe mich von negativen Menschen in meinem Leben verabschiedet, die uns oder unserem Kind nicht guttun. Menschen, die einen runterziehen, bringen einen nicht weiter. Pflegende Eltern bleiben oft isoliert, aber es gibt inzwischen viele Betroffenengruppen in den sozialen Medien, etwa auf Facebook oder Instagram, in denen man sich austauschen kann. Das hilft.
Viele Menschen haben Angst, etwas falsch zu machen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung treffen. Was können Sie diesen auf den Weg geben?
Auf die Menschen zugehen. Über seine Unsicherheiten sprechen. Fragen, was man wissen möchte. Ehrlich sein. Das ist immer besser, als zu starren oder einfach den Blick abzuwenden. Wir müssen gemeinsam auch endlich damit anfangen, das Wort "behindert" im richtigen Kontext zu benutzen. Daran ist nichts Negatives. Behinderte Kinder sind behindert und bleiben es nicht weniger, nur, weil man dafür vielleicht ein anderes "schöneres" Wort benutzt. Denn nur so können wir für Inklusion sorgen.
Was ist Ihr wichtigster Rat an Eltern mit einem ähnlichen Schicksal?
Auf jeden Fall trauern. Ohne Trauer gibt es keine Akzeptanz. Aber auch nach vorne zu blicken. Nie aufzugeben, auch wenn es noch so kräftezehrend ist.
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