Hannover - Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit krankhaftem Übergewicht steigt einer neuen Untersuchung zufolge bundesweit seit Jahren deutlich - besonders während der Corona-Pandemie. Zwischen 2011 und 2021 wuchs die Zahl der von Adipositas betroffenen 6- bis 18-Jährigen um 33,5 Prozent. Bei der Teilgruppe der 15- bis 18-Jährigen erhöhte sie sich sogar um 42,5 Prozent und bei Jungen von 15 bis 18 Jahren gar um 54,5 Prozent.
Das geht aus Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse in Hannover hervor. Nach Angaben von Christine Joisten, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindesalter, gibt es vor allem in sozialen Brennpunkten einen massiven Anstieg.
Die Lockdown-Phasen in der Pandemie hätten die Lage noch verschärft, warnte die Krankenkasse. So sei die Zahl der Adipositas-Fälle allein vom Vor-Corona-Jahr 2019 bis 2021 bei den 6- bis 18-Jährigen um 10,7 Prozent gestiegen, bei 15- bis 18-jährigen Jungen sogar um 18,7 Prozent und bei den gleichaltrigen Mädchen um gut 12 Prozent. Die KKH hat nach eigenen Angaben rund 1,6 Millionen Versicherte.
Pandemie hat Inaktivität gefördert
Adipositas zählt laut KKH zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Für die Untersuchung erhob die Kasse anonymisierte Daten ihrer Versicherten von 6 bis 18 Jahren mit der entsprechenden Diagnose. 2021 waren im Schnitt 6,0 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen, 2011 waren es 4,5 Prozent.
"Homeschooling mit stundenlangem Sitzen vor dem PC, fehlender Sportunterricht, kaum Treffen mit Freunden, geschlossene Sportstätten - die Pandemie mit all ihren Kontaktbeschränkungen hat das Leben vieler Kinder und Jugendlicher lange Zeit aus dem Lot gebracht und Inaktivität gefördert", urteilte Aileen Könitz, Ärztin und Expertin für psychiatrische Fragen bei der Krankenkasse.
"Das war ein Einfallstor für Ersatzhandlungen, um Frust, Stress und Einsamkeitsgefühle zu kompensieren." Mit Ersatzhandlungen spielt Könitz auf den Griff zu Dickmachern wie Softdrinks, Schokolade oder Chips an - oder auf stundenlanges Hocken vor dem Bildschirm.
Gesundheitliche und psychische Folgen
Könitz betonte: "Dieser Trend ist dramatisch, denn im Kindesalter werden die Grundsteine für eine gute Gesundheit im Erwachsenenalter gelegt." Sei Übergewicht schon in jungen Jahren extrem, drohten gesundheitliche Folgen wie Bluthochdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen oder auch Gelenkverschleiß und geringere Lebenserwartung.
Die Folgen von Adipositas könnten bei Kindern und Jugendlichen aber auch die psychische Balance ins Wanken bringen: "Diskriminierung und Mobbing wegen ihres Körpergewichts gehören für viele von ihnen zum Alltag", sagte sie. "Ausgrenzung zu erfahren, schwächt nicht nur das Selbstwertgefühl und mindert die Lebensqualität, sondern kann zu psychischen Erkrankungen wie Ängsten oder einer Depression führen."
Eltern in der Pflicht
Dabei sei niemand den Risiken für Fettsucht wie falscher, fett- und kalorienreicher Ernährung, Bewegungsarmut und übermäßiger Nutzung von Fernsehen oder Smartphone hilflos ausgeliefert. Zentral bei der Vorbeugung sei das Vorbild der Eltern.
Könitz riet Eltern: "Schaffen Sie bei Ihrem Kind ein Bewusstsein für die Risiken von Übergewicht und die persönliche Verantwortung für die eigene Gesundheit." Im Kampf gegen unliebsame Pfunde komme es vor allem darauf an, dass Kinder ihren Lebensstil und ihr Verhalten ändern wollen, motiviert mitarbeiten und psychisch gestärkt werden - was Eltern "viel Kraft, Geduld und Durchhaltevermögen" abverlange.
Langfristiger Trend auch nach Corona?
Joisten geht dagegen von einem dauerhaften Effekt aus: "Die Welt ändert sich ja nicht", sagte sie. Zwar habe die Pandemie die Rolle der digitalen Beschäftigung "hochgespült", aber schon vorher sei die Bewegungszeit von Kindern schlecht gewesen, auch hochkalorische Lebensmittel habe es bereits gegeben. Laut einer Untersuchung im Kölner Raum habe Übergewicht von Kindern und Jugendlichen im Vergleich mit 2016 vor allem in sozialen Brennpunkten zugenommen, in wirtschaftlich starken Stadtteilen sei es gleich geblieben.
Gleichzeitig beklagte sie den Rückgang bei ambulanten Therapiezentren: "Wir kriegen diese Kinder nicht versorgt." Sie forderte, die richtigen Schlüsse aus der Untersuchung zu ziehen und ein einheitliches System der Kostenübernahme einzurichten - bislang könnten Krankenkassen die Kosten übernehmen, müssten es aber nicht.
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