Sandra leidet an einer Angststörung, einer Traumafolgestörung, an Depressionen und an einer Essstörung. Doch das sind nur Begleiterscheinungen einer Erkrankung, die sie schon 32-mal in die Klinik befördert hat. Sandra hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Was das für ihr Leben bedeutet, erzählt sie im Interview.
Viele Menschen können mit dem Begriff Borderline nichts anfangen. Was verbirgt sich dahinter?
Sandra*: Eine Borderline-Störung ist eine Persönlichkeitsstörung. Das bedeutet, dass sich die Störung meist in der frühen Kindheit entwickelt hat und chronisch ist.
Bei Borderline ist es so, dass es meist durch ein Trauma hervorgerufen wird oder durch ein sogenanntes invalidierendes Umfeld. Also Leute, von denen man sich missverstanden fühlt.
Wie fühlt sich das an?
Man kann sich vorstellen, dass man die eigenen Gefühle wie durch eine Lupe sieht. Forscher beschreiben es so: Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung nehmen Gefühle 74-mal stärker wahr als andere Menschen.
Das umfasst alle Gefühle, sowohl positive als auch negative. Oft ist es so, dass die positiven Gefühle mit der Zeit immer weniger werden. Traurigkeit, Angst und Einsamkeit dominieren und machen einen depressiv.
Gefühle werden so unerträglich, dass man versucht, sie irgendwie zu kompensieren. Das passiert oftmals durch selbstverletzendes Verhalten.
Was bedeutet die Störung für dein Leben?
Ich habe mich nie zu etwas oder jemandem dazugehörig gefühlt. Die Störung ist für mich ein ziemliches Grauen.
Ich habe jahrzehntelang darum gekämpft, trotz der Krankheit ein normales Leben führen zu können. Ich vermute aber immer mehr, dass das nicht möglich ist.
Wie beeinflusst die Borderline-Persönlichkeitsstörung deinen Alltag?
Durch meine Erkrankung kann ich weniger machen als andere Menschen, weil ich alles mehr fühle, mich alles mehr fertig macht und mir alles mehr weh tut.
Ich stehe permanent unter Anspannung. Somit empfinde ich einen normalen Tag als sehr viel anstrengender als andere Menschen.
Es gibt verschiedene psychische Erkrankungen, die bei der Borderline-Störung mit einhergehen können. Welche sind das bei dir?
Bei mir ist es auf jeden Fall die Depression, die mich sehr in meinem Alltag einschränkt. Wogegen ich auch viele Medikamente nehmen muss.
Außerdem habe ich eine leichte Angststörung, eine Traumafolgestörung und eine Essstörung.
Das sind alles Ableger der Borderline-Erkrankung. Die Borderline-Störung war also zuerst da.
Mit der Essstörung habe ich zum Beispiel versucht, Dinge zu kompensieren. Es ist leichter, sich Gedanken über Essen zu machen, als über grundsätzliche Fragen wie: "Möchte ich leben?"
Kannst du eine Situation in deinem Leben beschreiben, die typisch für die Erkrankung ist?
Situationen in Beziehungen eignen sich hierfür gut. Da kann es bei einem Streit schon mal so extrem zugehen, dass Geschirr fliegt.
Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung kennen in ihren Gefühlen keine Grenzen. Wenn sie wütend werden, können sie sich nicht bremsen.
Normale Menschen erreichen ein Limit und regulieren sich selbst. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung können das im Affekt nicht. Sie handeln sehr impulsiv.
Kann das nicht auch sehr gefährlich sein?
Ich habe viele Freunde, die Borderliner sind, die vermehrt Drogen konsumieren und bis zur Bewusstlosigkeit trinken. Ich habe das Problem, dass ich oftmals zu viele Tabletten nehme.
Man denkt nicht an die Konsequenzen seines Handelns, sondern will nur, dass die Gefühle aufhören.
Was tun Betroffene wie du noch, um die schlimmen Gefühle zu verringern?
Untherapierte Borderliner haben keinerlei Fertigkeiten gelernt, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können. Wenn man in Behandlung ist, lernt man diesen Umgang und tut sich mit solchen Situationen leichter, wenn auch nicht mit allen.
Auf eine unvernünftige Art verringern manche den Leidensdruck, indem sie sich ritzen, selbst verbrennen oder in Form irgendwelcher anderer selbstschädigender Maßnahmen.
Viele hoffen auf eine Therapie. Aber Menschen mit einer Borderline-Störung gelten leider als schwierige Patienten.
Gibt es gegen die Störung selbst Medikamente?
Ein Arzt hat mal zu mir gesagt, dass ich glücklich sein kann, wenn ich als Borderliner weniger als zehn Medikamente nehmen muss. Letztendlich nehme ich zwölf – kann also nicht glücklich sein.
Besonders bei den Klinikaufenthalten – bei mir waren es 32 - werden Medikamente in einen reingestopft.
Es wird gegen jede Begleiterkrankung ein Medikament gegeben. Das ergibt ein abenteuerliches Gemisch. Ich nehme etwas gegen Depression, gegen Angst, dann wieder etwas, das mich vernebelt, dann etwas, das mich aufputscht.
Irgendwann traut man sich nicht mehr, die Medikamente abzusetzen, weil man nicht weiß, was die Wirkung von jedem einzelnen Medikament ist und was die Folgen des Absetzens wären.
Wie sieht der Lebenslauf eines Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung aus?
Oft sind Menschen mit Borderline in zahlreichen Kliniken gewesen, weil das für sie eine der wenigen Chancen darstellt, eine Therapie zu erhalten. Was auch oft zu Hospitalismus, also negativen Folgen durch Krankenhausaufenthalte, führt.
Was bedeutet, dass sich die Erkrankten nach außen hin abschotten und ihr Leben nur noch in der Psychiatrie leben. Außerhalb der Psychiatrie sind sie nicht mehr selbstständig genug zum Leben, was sehr bedenklich ist.
Hast du deine Krankheit als Teil deines Lebens akzeptiert?
Ich hatte immer den Anspruch, all das zu machen, was die Leute ohne Beeinträchtigung auch machen. Das ist mit solch einer Störung natürlich viel anstrengender.
Man muss sich in Akzeptanz gegenüber der Krankheit üben. Sie ist eine Behinderung, die einen oftmals stigmatisiert und einen auch oft aus der Gesellschaft rauskatapultiert. Sie lähmt einen teilweise in den Dingen, die man machen möchte.
Bei anderen Menschen akzeptiere ich psychische Störungen deutlich besser als bei mir selbst und sehe, warum sie bestimmte Dinge nicht schaffen. Aber bei mir kann ich das nur schlecht akzeptieren.
Kannst du der Borderline-Persönlichkeitsstörung etwas Positives abgewinnen?
Wenn ein Mensch mit Borderline sich freut, wird er oft sehr enthusiastisch und kann Menschen mitreißen. Viele Menschen im Bereich Musik und Film leiden oder litten an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Diese Menschen haben Großes geschaffen, sind aber auch oft an ihrer Existenz gescheitert. Menschen mit Borderline sind oft besondere Menschen, die eine starke Anziehungskraft auf andere ausüben.
Was wünschst du dir in Bezug auf den Umgang mit dem Thema?
Ich würde mir wünschen, dass sich der Blick der Gesellschaft ein bisschen weitet. Dass Borderline nicht nur mit Ritzen verbunden wird und ansonsten keinerlei Interesse besteht, was sich hinter der Krankheit verbirgt. Es ist eine Krankheit mit einem sehr hohen Leidensdruck aufgrund der damit verbundenen Gefühlswelt.
Ich will, dass man als Erkrankter nicht so stigmatisiert wird. Wenn ich jemandem erzähle, dass ich Borderliner bin, weiß niemand genau, was das bedeutet. Aber jeder reagiert mit Vorbehalten.
Es muss mehr über die Krankheit aufgeklärt und informiert werden. Borderline ist keine Phase. Es geht um Menschen, die etwas besonders sind. Menschen, die viel Gutes in die Welt mitbringen.
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