Ein deutscher Philologe hatte 1894 eine Idee, die noch heute Menschen weltweit motiviert, an ihre läuferischen Grenzen zu gehen. Seine Geschichte.

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Die Wiege des modernen Marathonlaufs steht nicht in Athen, Paris oder einer anderen europäischen Metropole, sondern in Landau in der Pfalz. In dieser beschaulichen Stadt in der Rhein-Neckar-Region wurde am 26. März 1832 ein Mann geboren, der nach seinem Studium in Paris zu einem der bekanntesten Sprachwissenschaftler seiner Zeit avancierte. Berühmt wurde Michel Bréal aber nicht nur für seine Theorien zur vergleichenden Sprachwissenschaft und Semantik, sondern auch für eine Idee, die bis heute weltweit für Begeisterung bei Topathleten und Freizeitläufern sorgt: Er machte den Marathon olympisch.

Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass der Wissenschaftler aus der deutschen Provinz in der französischen Hauptstadt Sportgeschichte schreiben konnte, war neben seiner guten Kenntnis des griechischen Altertums vor allem die Freundschaft zu dem Mann, der als Gründervater der Olympischen Spiele der Neuzeit gilt: Pierre de Coubertin. Der umtriebige Pädagoge, Historiker und Sportfunktionär aus einer alten Adelsfamilie trat ab 1880 – beeinflusst durch die archäologischen Ausgrabungen im griechischen Olympia – für eine Wiederbelebung der Olympischen Spiele ein, mit denen er nationale Egoismen überwinden sowie zum Frieden und zur internationalen Verständigung beitragen wollte. 1894 gründete er das Internationale Olympische Komitee, dessen 13 Gründungsmitglieder die Aufgabe hatten, das Sportevent auf die Beine zu stellen.

Auf einer internationalen Tagung, die vom 16. bis 23. Juni 1894 an der Pariser Sorbonne stattfand und später als erster Olympischer Kongress bezeichnet wurde, diskutierte die Kommission die Wiederaufnahme der Olympischen Spiele. Am letzten Tag der Versammlung wurde beschlossen, im Jahr 1896 die I. Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen zu veranstalten. Coubertin lud seinen Freund Bréal zu dieser Tagung ein und platzierte ihn direkt rechts neben sich, ans Kopfende. Bréal hielt auf diesem ersten Olympischen Kongress die allererste Rede.

Doch warum war Michel Bréal so wichtig für Coubertin? Zunächst war Bréal in Paris bestens vernetzt, und politischer Einfluss auf allen Ebenen war für die Umsetzung eines so gigantischen Events essenziell. Er war Kommandeur der Ehrenlegion und ein Intimus des französischen Wissenschaftsministers Jules Ferry, eines der wichtigsten französischen Politiker seiner Generation. Auf Ferry geht die allgemeine Schulpflicht in Frankreich zurück, später wurde er französischer Ministerpräsident. Bréals Sohn heiratete die Tochter des französischen Marineministers, Bréals Tochter den späteren Literaturnobelpreisträger Romain Rolland. Sein Schwager zählte zu den Mitbegründern des Vorgängerinstituts der Paribas, der heute größten Bank Europas. Vor allem aber war Bréal einer der bekanntesten Wissenschaftler seiner Zeit, Professor am Collège de France, Mitglied des Institut de France, ein wichtiger Philologe, der auch jenseits der akademischen Welt so berühmt war, wie man sich das von Geisteswissenschaftlern heutzutage kaum noch vorstellen kann.

Weltweites Aufsehen hatte Bréal erregt, indem er einige in einer italienischen Kleinstadt gefundenen Texte, die in einer damals unbekannten Schrift und Sprache verfasst waren, entziffert und als Buch veröffentlicht hatte: die Iguvinischen Tafeln. Dabei handelt es sich um sieben Bronzetafeln, die vermutlich aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert stammen. Die Schrift erwies sich als Etruskisch, die Sprache als Alt-Umbrisch. Aber auch der Inhalt war faszinierend: Es handelte sich um die Beschreibung eines von zwölf Priestern ausgeübten mysteriösen Jupiterkults. Das 1875 erschienene Buch machte Bréal auf einen Schlag berühmt. Sein damaliger Ruhm lässt sich mit dem der Forscher vergleichen, welche die ägyptischen Pharaonengräber entdeckten oder Maya-Ruinen freilegten.

Michel Bréal entwickelte sich zu einer europäischen Koryphäe. Die italienische Stadt Gubbio, aus der die Iguvinischen Tafeln stammen, ernannte ihn zu ihrem Ehrenbürger. Die Universität Bologna verlieh ihm 1888 die Ehrendoktorwürde – im Jahr ihres 800-jährigen Gründungsjubiläums. Kurz zuvor hatte er auch von der Universität Zürich die Ehrendoktorwürde erhalten, außerdem wurde er Mitglied der Königlich Belgischen Akademie der Wissenschaften.

Doch die vielleicht eindrucksvollste Ehrung Bréals und seines Buches sollte erst noch kommen. Damals schrieb rund 3000 Kilometer von Paris entfernt, in Moskau, ein gewisser Lew Tolstoi einen Roman, der 1877/78 unter dem Titel "Anna Karenina" erschien. Und welches Buch ließ Tolstoi den sehr gebildeten Grafen Wronskij, einen der Protagonisten seines Jahrhundertwerks, an einer handlungsentscheidenden Stelle lesen? Bréals Iguvinische Tafeln!

Michel Bréal war damals also berühmt, berühmter sogar als sein Freund Coubertin. Aber dieser konnte nicht nur von seinem Ruhm profitieren, sondern auch von seiner Begabung als Altphilologe, Sprachwissenschaftler und als Rhetoriker. Gleich in seiner Eröffnungsrede machte Bréal von seinem philologischen Wissen Gebrauch, indem er für die Formel "citius, altius, fortius" ("schneller, höher, stärker") warb, die dann tatsächlich zum olympischen Motto wurde. 2021 wurde es übrigens vom aktuellen IOC-Präsidenten Thomas Bach abgeändert und ergänzt. Es lautet nun "citius, altius, fortius – communite" ("schneller, höher, stärker – gemeinsam").

Bréal hatte noch weitere Berührungspunkte mit der olympischen Idee: Schon in seiner Doktorarbeit hatte er sich mit Herakles beschäftigt, dem griechischen Göttersohn, der dem Mythos zufolge als Begründer der historischen Spiele in Olympia gilt. Und es gab noch viele weitere historische, sprachliche und mythische Bezüge, die dafür sorgten, dass sich Bréal auch noch nach dem Pariser Kongress weiterhin mit der olympischen Idee beschäftigte und identifizierte. Im September 1894 urlaubte er mit seiner Frau im schweizerischen Glion, einem Ort oberhalb von Montreux am Genfer See. Von dort schrieb er einen denkwürdigen Brief an Coubertin, in welchem er verschiedene Aspekte dieser neuen "olympischen Idee" erörterte. In dem Schreiben schlug er auch vor, einen Langstreckenlauf zu organisieren.

Bréal erinnerte an den historischen Läufer, der im Jahr 490 vor Christus nach der Schlacht bei Marathon nach Athen geeilt war, um den Daheimgebliebenen zu verkünden, dass die feindlichen Perser zurückgeschlagen worden waren. Das war durchaus bemerkenswert: Eine vergleichsweise kleine Truppe bewaffneter Athener Bürger hatte es geschafft, die riesige persische Streitmacht abzuwehren, die an der Bucht von Marathon angelandet war, um Griechenland zu erobern! Da die Athener mit fast ihrem gesamten Aufgebot nach Marathon gezogen waren, wäre die Stadt bei einer Niederlage schutzlos gewesen. Es war deswegen wichtig, die Frauen, Alten und Kinder, die in der Stadt zurückgeblieben waren, so schnell wie möglich zu informieren. Die Legende besagt, dass ein Kämpfer – es gibt verschiedene Namen, die in den Quellen genannt werden, möglicherweise hieß er Pheidippides oder Eukles – direkt nach der Schlacht und noch in voller Kampfmontur losrannte, um den Daheimgebliebenen das glückliche Ende mitzuteilen. Völlig erschöpft sei er in Athen angekommen. Er konnte noch rufen: "Wir haben gewonnen!", dann brach er, so die Erzählung, zusammen und starb.

Bei einer solchen Geschichte und einem für die Stadt Athen so entscheidenden Ereignis war es kein Wunder, dass die Athener schon bald Erinnerungsläufe an die Schlacht von Marathon organisierten. Doch es waren Erinnerungsläufe, keine sportlichen Wettkämpfe, die damals stattfanden. Den Wettbewerb und das Kräftemessen hat erst Michel Bréal erfunden, indem er sein akademisches Wissen über die griechische Geschichte mit der olympischen Idee Coubertins verband. In seinen Brief aus Glion schlug er seinem Freund vor, einen solchen Wettkampf nach klassischem Vorbild zu organisieren: ein Rennen von Marathon ins Panathenäische Stadion in Athen. "Dann hätten wir einen Anknüpfungspunkt an die Antike." Michel Bréal selbst wollte den Pokal für den Sieger stiften, so endet sein Brief.

Pierre de Coubertin war begeistert! Im Ablaufplan der Ersten Olympischen Spiele taucht der Marathonlauf sogar als eigenständiger Programmpunkt auf, ohne jegliche Verbindung zu den übrigen Lauf- und Leichtathletik-Wettkämpfen: "Laufwettbewerb, genannt Marathonlauf, über die Distanz von 48 Kilometern von Marathon nach Athen, um den Pokal, den Monsieur Michel Bréal, Mitglied des Institut de France, gestiftet hat."

Aber wieso 48 Kilometer? Dies war offensichtlich eine erste grobe Schätzung Coubertins, denn welche Strecke der historische Marathonläufer genommen hatte, ist bis heute unbekannt. Tatsächlich gab es zwei mögliche Routen: entweder den direkten Weg von Marathon nach Athen, der lediglich 35 Kilometer maß, dafür aber über die Berge führte und somit sehr anstrengend war. Oder der Bote war an der Küste entlanggelaufen, was mit 40 Kilometern die etwas längere, dafür aber schneller zu laufende Strecke war.

Für die ersten Olympischen Spiele entschied man sich schließlich für die Küstenstrecke. So kam es, dass der erste Marathonlauf etwa 40 Kilometer lang war. (Die Distanz von 42,195 Kilometern wurde erst mit den Olympischen Spielen 1908 in London zum Standard erhoben.)

Kurz vor den Spielen gab es die ersten Test- und Ausscheidungsläufe, und am 10. März 1896 fand dann schließlich der erste Marathonlauf der Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Er wurde sofort zu einem großen Erfolg: Der König selbst rannte die letzten Meter mit, und zum Entzücken des damaligen Publikums gewann sogar ein Grieche, Spyridon Louis, der dann auch den von Michel Bréal gestifteten Pokal erhielt.

Der von Michel Bréal gestiftete Pokal ist heute übrigens das wertvollste Erinnerungsstück der gesamten Olympia-Geschichte. Die Nachfahren des ersten Marathon-Olympiasiegers ließen die Trophäe 2011 bei Sotheby’s in London versteigern. Sie brachte 541 250 Britische Pfund ein (etwa 544 000 Euro) – mehr als doppelt so viel Geld wie das nächstteure Olympia-Andenken, eine Fackel von den Spielen in Helsinki 1952.

Michel Bréals Idee wurde sofort zu einem weltweiten Erfolg. Schon kurze Zeit später fanden, unabhängig von den Olympischen Spielen, die ersten Marathonläufe in Boston und Paris statt. Ein globaler und bis heute immer noch wachsender Mythos war geboren. Bréals Brief, in dem er die erste Idee eines solchen Laufs skizziert hatte, wird heute im Olympischen Museum im schweizerischen Lausanne aufbewahrt, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem er ursprünglich geschrieben worden war.

Und was wurde aus Bréal selbst? Sein wissenschaftlicher Erfolg hielt zunächst an. Er begründete eine eigene Wissenschaftsdisziplin, die Semantik, die heute, im Zeitalter künstlicher Intelligenz, so bedeutsam ist wie nie zuvor: Die Antworten von Suchmaschinen wie Google oder Chatbots wie ChatGPT auf komplexe Fragen basieren letztlich auf der Arbeit Bréals.

Trotz seiner Erfolge geriet Bréal jedoch immer mehr in Vergessenheit – vielleicht weil er Jude, vielleicht weil er Deutscher war, beides keine guten Voraussetzungen angesichts der damals stark ausgeprägten Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen sowie des auch in Frankreich grassierenden Antisemitismus. Jemand wie er passte mit seiner Lebensgeschichte nicht mehr ins frühe 20. Jahrhundert. Als er 1915 starb, waren seine Ideen aktueller denn je – er selbst aber war weitgehend vergessen.

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Sein Geburtsort Landau versucht dieses Jahr nun, Michel Bréal wieder in Erinnerung zu rufen: Am 3. Oktober 2024 findet der erste Bréal-Marathon statt. Das Ziel liegt im Herzen der Stadt, direkt vor dem Geburtshaus des Mannes, der den Ruhm von Spyridon Louis, Waldemar Cierpinski und Haile Gebrselassie ermöglicht hat. Kein historisch interessierter Marathoni sollte sich das entgehen lassen!  © Runner’s World

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