Bin ich noch schön? Viele Krebspatientinnen stellen sich diese Frage. Denn der Medikamenten-Cocktail bei der Chemotherapie verändert das Äußere stark: Die Haare fallen aus, ebenso die Augenbrauen und Wimpern. Das nagt am Selbstbewusstsein der Frauen. Damit sie wieder ihre Schönheit in der Krankheit finden, macht sich ein Verein in München für sie stark. Eine Begegnung mit einer Betroffenen.
Heute habe ich Krebs – beim morgendlichen Blick in den Spiegel geht Frauen, die eine Chemotherapie erhalten, dieser Gedanke unweigerlich durch den Kopf. Glatze statt Haarpracht, Augenbrauen und Wimpern fehlen. Unter den Augen dunkle Ringe. Auch Nina stand die Krankheit ins Gesicht geschrieben.
Die junge Frau erhielt im Dezember 2015 die Diagnose Brustkrebs. Es folgten ein halbes Jahr Chemotherapie, Operation und Bestrahlung. Die Chemotherapie nahm ihr die Haare, denn die verschiedenen Medikamente (Zytostatika) attackieren nicht nur den Tumor. Sie greifen auch alle sich schnell teilenden Zellen im Körper an – also auch Haar- und Hautzellen.
Dem Krebs ins Gesicht schauen
Sich plötzlich so zu sehen, nagt extrem am Selbstbewusstsein. "Als ich die ersten Haarbüschel verloren habe, fand ich das ganz schrecklich", erzählt mir Nina. "Mich das erste Mal ohne Haare zu sehen, war schlimm."
Sie habe sich nackt und verletzlich gefühlt. "Für mich hieß das auch ein Stück Verlust der Weiblichkeit, Verlust der Identität", beschreibt die 36-Jährige die Begegnung mit dem neuen Ich.
Sorgen machen sich Betroffene auch in Bezug auf den Umgang mit anderen. Da ist die Angst, dass man ihnen die Krankheit ansieht, sie deshalb in eine Schublade steckt, sie anders behandeln könnte. Das kann zusätzlich deprimieren und unsicher machen.
Das ging auch Nina so. "Werde ich als Frau gesehen oder werde ich nur noch als Kranke gesehen? Wer bin ich? Wen sehe ich im Spiegel? Wen sehen die anderen?", beschreibt sie ihre Gefühlswelt von damals.
Diese Sorgen vertrieb ihr ein Tag bei "Nana – Recover your smile" ("Gewinne Dein Lächeln zurück"). Hier fand Nina zu neuem Selbstbewusstsein. Der gemeinnützige Verein bietet Chemopatientinnen in München und Dillingen ein kostenloses Schminkseminar mit Foto-Shooting.
Frauen erhalten hier Tipps für ein Tages-Make-up. Schminkprofis zeigen, wie sich Augenringe, unreine Haut und Rötungen kaschieren lassen. Sie erklären, wie Augenbrauen nachgezogen und Wimpern angeklebt werden.
Model für einen Tag
Durch das anschließende Foto-Shooting mit einem Profi-Fotografen bleiben tolle Erinnerungen an diesen Tag. Mutige Fotos halten fest, was alles in den Frauen steckt. Nicht selten präsentieren sich einige von ihnen vor der Kamera mit Glatze.
Wer möchte, darf an diesem Tag auch etwas Verrücktes, Kreatives ausprobieren. Dafür steht ein großer Fundus an bunten Perücken, Kleidern und Accessoires zur Verfügung. Von der Märchenprinzessin bis zur Femme fatale ist nahezu jede Verwandlung möglich.
"Ich vermute, dass die Überspitzung den Frauen hilft, Mut zu fassen, sich zu zeigen, zu präsentieren. Dafür spricht, dass viele zu unseren Terminen zwar mit Mütze oder Perücke kommen, aber mit Glatze nach Hause gehen", sagt Vereinsgründerin Barbara Stäcker.
Der Verein habe ihren Umgang mit der Krankheit verändert und sie mutiger gemacht, erzählt auch Nina. Vor allem das Shooting habe ihr dabei sehr geholfen. "In der ersten Zeit wollte ich überhaupt keine Fotos von mir machen lassen. Das hatte sich nach dem Tag bei Nana komplett geändert. Ich finde die Fotos, die gemacht wurden, toll. Und die Zeit, die ich durchlebt habe, gehört einfach dazu. Das habe ich durch den Verein erkannt."
Nina habe festgestellt, dass sie gar nicht so komisch aussehe, wie sie annahm. "Dadurch habe ich mich einfach getraut, mal ohne Perücke nach draußen zu gehen", sagt die 36-Jährige. "Das gesamte Team ist mit Herzblut dabei. Sie haben uns allen ein tolles Gefühl gegeben und uns gezeigt, dass wir alle schön sind."
Durch "Nana – Recover your smile" sei sie mutiger geworden – auch in Bezug auf Fotos.
Nanas Vision vom Helfen
Barbara Stäcker weiß, wie wichtig es für Betroffene wie Nina ist, die eigene Schönheit in der Krankheit zu finden. 2012 verstarb Stäckers Tochter Nana mit 21 Jahren an einer seltenen Form von Knochenkrebs. Während der Chemotherapie ließ sich die junge Frau schminken und fotografieren. Daraus schöpfte sie enorme Kraft.
Ihre Tochter habe um die nachhaltige Wirkung der Fotos gewusst und so die Idee für den Verein gehabt. "Dies weitergeben zu können, hat etwas Bestärkendes, auch für uns als Eltern", sagt Stäcker.
Nanas Vision hat Stäcker nach dem Tod der Tochter umgesetzt. Dafür hat sie Make-up-Artisten von Lilly meets Lola und Profi-Fotografen an Bord geholt. "Unser Team verfügt über große Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl", freut sie sich.
Und weiter: "Die Nachmittage bei uns sind geprägt von Lockerheit, Spaß, Verrücktheiten, Ausprobieren. Und trotzdem ist auch Platz für Gefühle und auch mal Tränen, wenn es sein muss."
Zuversichtlicher und optimistischer
Durch seine Arbeit hilft der Verein vielen Krebspatientinnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Frauen werden zuversichtlicher, optimistischer und gehen gestärkter durch die Therapie.
"Wir haben es so oft beobachtet, dass sich ein schüchternes Mädchen mit eingezogenen Schultern innerhalb von drei Stunden in eine strahlende Prinzessin verwandelt", berichtet Stäcker.
Einige sprächen Monate später von einem Wendepunkt in ihrem Leben. Andere fingen an, Blog zu schreiben oder sich Familie und Freunden gegenüber anders zu öffnen. "Sie entdecken Strategien für sich, in der Erkrankung ihren eigenen Weg zu finden. Ein Partner formulierte es mal kurz und knapp: 'Danke, ihr habt mir meine Frau wiedergegeben.'"
Übrigens: Der Verein veranstaltet auch Seminare für betroffene Männer.
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