- Verweigerte Schmerzmittel, Erniedrigung, fehlende Informationen: Eine neue Umfrage gibt einen Einblick in Erfahrungen von Frauen mit Schwangerschaftsabbrüchen.
- Mehr als 1.500 Betroffene haben dabei über ihre teils traumatischen Erfahrungen berichtet.
Jedes Jahr brechen rund 100.000 Menschen in Deutschland eine Schwangerschaft ab. Über den Weg, den sie bei einem Schwangerschaftsabbruch gehen müssen, wird kaum öffentlich gesprochen.
Nun ändert sich das: 1.505 Betroffene haben CORRECTIV.Lokal von ihrem Abbruch berichtet. In einer Umfrage und persönlichen Gesprächen haben sie ihre Erlebnisse mit schlechter medizinischer Versorgung, Erniedrigung, bürokratischen Hürden, fehlenden Informationen und langen Wartezeiten in Praxen und Kliniken geteilt. Ihre Geschichten geben einen in dieser Tragweite bisher nicht dagewesenen Einblick zu den Schwierigkeiten.
Frauen fühlen sich nach dem Beratungsgespräch "wie ein Verbrecher"
Im September 2021 hat CORRECTIV.Lokal über die Online-Plattform CrowdNewsroom zur Beteiligung an der Umfrage zu Erfahrungen bei Schwangerschaftsabbrüchen aufgerufen. Der Fokus lag auf Menschen, die ihre Schwangerschaft nach der sogenannten Beratungsregel abgebrochen haben. Die Antworten zeigen zahlreiche Missstände auf, die Betroffene bei den einzelnen Schritten erleben.
"Man fühlt sich schlecht, stigmatisiert und wie ein Verbrecher. Man traut sich nicht, darüber zu reden", schreibt etwa eine Frau aus Bayern. Eine andere Betroffene berichtet über ein Beratungsgespräch, das sich für sie wie ein Kreuzverhör anfühlte. "Ich musste mich eine Stunde rechtfertigen, warum ich kein Kind haben möchte. Erst als ich vor Weinen nicht mehr reden konnte, habe ich die Bescheinigung bekommen."
Betroffene berichten von "Massenabfertigung"
Insgesamt berichten rund 350 Befragte CORRECTIV.Lokal von einer schlechten medizinischen Versorgung in verschiedenen Kliniken und Praxen. Manche erlebten die Betreuung als Massenabfertigung und beschreiben das Gefühl, wie eine Ware behandelt zu werden. Dutzende berichten von fehlender Privatsphäre während des Abbruchs.
"Der Arzt ist als 'Metzger' bekannt. Der Abbruch war schmerzhaft, laut und der Dämmerschlaf fast ohne Wirkung", berichtet eine Betroffene über ihren Abbruch im Jahr 2019. Der Arzt aus Baden-Württemberg habe beim Vorgespräch Witze über tote Babys gemacht und gesagt, dass eine andere Patientin Bestatterin sei, falls sie es nicht überleben würde.
"Ich musste aber zu dieser Praxis, weil alle anderen im Umkreis keine Termine mehr hatten für sechs Wochen." Eine andere Frau aus Nordrhein-Westfalen teilte Erlebnisse, die sie nach der Operation gemacht hat: "Im Aufwachraum wurde ich direkt angeranzt, weil ich nach einem Schmerzmittel gefragt habe. Man müsste das aushalten, wenn man so etwas macht."
Deutschland plant Abschaffung des Paragrafen 219a
Rund 240 Befragte berichten gegenüber CORRECTIV.Lokal, wie schwierig sie es fanden, sich zu informieren. Etwa darüber, wo sie einen Abbruch durchführen lassen können oder hilfreiche Informationen zu den unterschiedlichen Methoden zu erhalten. Viele seien während der Suche auf Internetseiten von Abtreibungsgegnern gestoßen.
Die Bundesregierung plant den sogenannten "Werbeparagrafen", Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs, zu streichen. In Deutschland ist es Ärztinnen und Ärzten verboten, für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Dabei ist der Begriff "Werbung" irreführend: Bereits die Information, ob der Abbruch mit Medikamenten oder einer Operation durchgeführt wird, fällt darunter. Ein solcher Verstoß kann mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden.
Versorgungslage in öffentlichen Kliniken ist alarmierend
Neben den Recherchen zu den Erlebnissen der Betroffenen hat sich CORRECTIV.Lokal besonders die Versorgungslage angeschaut. Zum ersten Mal zeigen bundesweite Daten, wie knapp die Angebote sind, die das öffentliche Gesundheitswesen bei Schwangerschaftsabbrüchen zur Verfügung stellt.
CORRECTIV.Lokal hat mit einem Netzwerk aus Lokalmedien und der Transparenzinitiative FragDenStaat 309 öffentliche Kliniken nach der Versorgung bei Schwangerschaftsabbrüchen in ihrem Haus gefragt. Die Antworten sämtlicher angefragter Kliniken sind zusammen mit weiteren Ergebnissen der Recherche auf der Internetseite correctiv.org/schwangerschaftsabbruch durchsuchbar.
Nur rund 60 Prozent der befragten Krankenhäuser gaben an, überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen – trotz gynäkologischer Fachabteilung. Die Recherche zeigt zudem: Nur 38 Prozent der Kliniken geben an, dass sie einen Abbruch auch nach der sogenannten Beratungsregel durchführen, obwohl fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach dieser Indikation erfolgen.
Diese Zahlen sind alarmierend. Denn insgesamt nehmen immer weniger Einrichtungen Abbrüche vor. Deswegen haben die öffentlichen Krankenhäuser eine Schlüsselrolle. Sie sind Teil der staatlichen Gesundheitsvorsorge. Demnächst werden die Mitglieder des Bundestages über eine Gesetzesänderung rund um Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen diskutieren.
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