- Der Sommer ist erwartungsgemäß die "ruhigste" Corona-Jahreszeit.
- Experten warnen aber davor, unvorbereitet in den Winter zu gehen.
- Entscheidend werden die richtige Test- und Impfstrategie sein.
Dass im Winter eine neue Corona-Welle kommen wird, davon gehen mittlerweile die meisten Fachleute aus. Das Coronavirus wird nicht wieder verschwinden, sondern immer wieder auftauchen - womöglich in neuen Varianten, mit denen sich abermals viele Menschen anstecken werden. Im Sommer werden die Infektionszahlen zwar wahrscheinlich niedrig sein, aber nicht nur der Corona-Expertenrat der Bundesregierung geht davon aus, dass es "im Verlauf des Jahres erneut zu einer erheblichen Zahl von Infektionen kommen [werde]".
Momentan beobachtet die Weltgesundheitsorganisation WHO zwei Omikron-Varianten, die noch ansteckender sein könnten als die letzte. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass es Varianten geben könnte, die ansteckender und gefährlicher sind als die bekannten. Welche es aber nun diesen Winter sein wird, ist spekulativ. "Niemand kann das wissen", sagte etwa der Direktor des Virologischen Instituts am Uniklinikum Erlangen, Klaus Überla, der Süddeutschen Zeitung.
Dass man nicht weiß, welche Variante es sein wird, heißt für ihn aber nicht, dass man sich nicht auf "den Unglücksfall" vorbereiten müsse - also dass eben eine hochansteckende Variante auftaucht, die schwerer krank macht und auf eine Bevölkerung trifft, deren Immunschutz nicht (mehr) besonders gut ist. Die große Frage ist: wie?
Die Frage nach bundeseinheitlichen Maßnahmen
Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung forderte in seiner jüngsten Stellungnahme hier vor allem eines: Gesetze, die schnell greifen, wenn die Situation mit hohen Inzidenzen wieder angespannter wird und das, bevor die Krankenhäuser überlastet werden und nicht erst, wenn sie es schon sind. Ob der Rat damit den von der Ampel beschlossenen Basis-Schutz und die Hotspot-Maßnahmen meint, wird nicht klar.
Die Formulierung könnte auch bundeseinheitliche Gesetze wie zu Zeiten der Pandemie-Notlage meinen, wie sie einige Wissenschaftler, unter anderem Klaus Überla, befürworten. Unabhängig davon wird es nach Einschätzung vieler Fachleute nötig sein, dass sich Menschen (noch einmal) boostern lassen. Im Spätsommer würden konsequente Impfkampagnen notwendig, sagte die Virologin Ulrike Protzer der SZ.
Schon jetzt empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) eine vierte Impfung für alle Menschen ab 70 Jahren und für Risikogruppen. Weil die Infektionsketten wegen der hohen Fallzahlen nicht mehr unterbrochen werden könnten, verschiebe sich der Fokus der Strategie zunehmend auf den Schutz der vulnerablen Gruppen, sagte kürzlich der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler.
Wie sinnvoll ist eine Viertimpfung im Frühjahr?
Wieler bezog das auf die aktuelle Situation, für die Epidemiologen Hans-Peter Dürr und Martin Eichner ist das aber eine grundsätzliche Überlegung. Aus ihrer Sicht wird der Faktor "nachlassender Immunschutz" bei den Überlegungen, welche Pandemie-Strategie die richtige ist, nämlich derzeit nicht genug berücksichtigt.
Sie haben deswegen ein Modell zu Vorhersagen von Infektionswellen entworfen, das neben dem R-Wert, also der Frage, wie stark sich ein Virus ohne Schutzmaßnahmen ausbreiten kann, auch den abnehmenden Immunschutz berücksichtigt. "Einige der Schlussfolgerungen sind trivial, wie zum Beispiel, dass der Nutzen einer beispielsweise im Frühjahr durchgeführten Impfkampagne fragwürdig ist, wenn die protektive Immunität einer Impfung nur vier bis sechs Monate anhält", schreiben sie.
Andere Schlussfolgerungen sind nicht so trivial: Aus den Daten ergebe sich nämlich auch, dass eine weitere Impfkampagne nur dann Sinn ergebe, wenn der Verlust der Immunität bei der Bevölkerung dann geringer wäre als bei einer "Durchseuchung". Es gebe Hinweise darauf, dass der Schutz nach überstandener Infektion länger anhält als bei den derzeit verfügbaren Impfungen. "Wenn das wirklich so wäre, wäre es paradoxerweise interessant, wenn sich eine möglichst große Anzahl von Personen im Sommer infiziert, um dann im Winter nicht zu der Übertragung beitragen zu können", schrieb uns Eichner per Mail.
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Das Problem des sinkenden Immunschutzes
Wie gefährlich das für den Einzelnen ist, hängt wiederum davon ab, welche Virusvariante dann vorherrscht. Wie schwer sie krank macht und wie sehr sie von ihrer Bauart dazu in der Lage ist, einen bestehenden Immunschutz zu umgehen, wie Omikron das im Vergleich zu Delta zumindest teilweise geschafft hat. Eichner und Dürr stellen nicht den individuellen Nutzen einer Impfung in Frage, denn nachweislich schützt sie vor schweren Verläufen - und zwar mehr oder weniger unabhängig davon, welche Variante vorliegt (zumindest war das bisher so).
Weitere breite Impfkampagnen sehen sie aufgrund Ergebnisse ihrer Studie aber eher skeptisch, weil so das Infektionsgeschehen gedrückt werde und die Immunität in der Bevölkerung geringer werde, als sie bei einer "Durchseuchung" sein könnte. Um hier einen "optimalen Kompromiss zu finden, sollte mit erweiterten Modellen untersucht werden, ob Impfungen nicht vielleicht speziell für die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen priorisiert werden sollten", schreiben sie.
Die Frage nach der richtigen Strategie ist auch deswegen so schwierig, weil Coronaviren anders "ticken" als andere Virenerkrankungen. Bislang, schreiben Dürr und Eichner, hätten sehr ansteckende Krankheiten in der Regel eine lange, wenn nicht gar lebenslange Immunität zur Folge gehabt ("Kinderkrankheiten"). Normale Erkältungen erzeugten hingegen nur eine kurze Immunität, hätten dafür aber keine so hohe Verbreitung. Corona-Viren machen beides: Sie kombinieren eine große Verbreitung mit einer anscheinend recht kurzen Immunität.
Systematisches Testen könnte eine Strategie sein
Um über den Sommer hinweg nicht im Dunkeln zu tappen, wäre auch systematisches Testen hilfreich sein, findet Klaus Überla, der Direktor des Erlanger Virologischen Instituts. Er plädiert für "eine regelmäßige Stichprobe von Menschen, die untersucht wird", nicht als wissenschaftliche Studie, "sondern als Maßnahme zur Überwachung, damit eine fundierte Entscheidungsgrundlage vorhanden ist." Aus den Daten könnte die Politik dann ihre Entscheidungen für Impfkampagnen und Maßnahmen ableiten - auf einer soliden Grundlage, was es ihr auch leichter machen würde, dass die Bevölkerung sie akzeptiert.
"Nach mehr als zwei Jahren Pandemie sind viele Menschen erschöpft von einer Art Dauerkrise und abgestumpft von immer neuen Warnungen und Neuigkeiten zu Virus", sagte die Psychologin und Public-Health-Expertin Julia Scharnhorst. Deswegen werde es diesen Sommer besonders wichtig sein, wie Politik kommuniziert - und vor allem was. "Es liegt nicht in der Natur des Menschen, Gefahren wie das Coronavirus 'richtig' einzuschätzen, deswegen muss es bei einer Gefährdung Regeln wie die Masken- oder Abstandspflicht geben, die - nebenbei gesagt - keine 'Erfindung' von Politikern gegen Corona, sondern lange bewährte Maßnahmen im Infektionsschutz sind."
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Gefährdung "anfassbarer" machen
Die Regeln sollten aber einheitlich sein und nicht überhand nehmen. "Wichtiger als immer neue Regeln wäre aus meiner Sicht, dass Politik den Bürgern eine Entscheidungshilfe gibt, etwa in der Frage, wer einer Risikogruppe angehört und besonders gefährdet ist und wer nicht." Zudem müsse die Gefährdung "anfassbarer" gemacht werden. "Ein Beispiel wäre, dass die Politik gezielt Menschen sucht und darüber sprechen lässt, wie sie eine schlimme Covid-19-Erkrankung überstanden haben und wie es ihnen jetzt geht."
Neben der politischen Strategie gibt es aber auch eine persönliche. Hier empfiehlt die Psychologin Scharnhorst, die, zumindest was Corona angeht, meist recht entspannte Sommerzeit zu nutzen. "Zwischendurch sollte man immer wieder Informationspausen von einigen Tagen machen oder bis es wirklich wieder Neuigkeiten in Sachen Corona gibt."
Dann hat jeder und jede Einzelne vielleicht auch wieder mehr Kraft für winterliche Episoden mit Homeoffice oder Quarantäne.
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit der Psychologin und Public-Health-Expertin Julia Scharnhorst und Mail-Anfrage an Professor Martin Eichner vom Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie an der Universität Tübingen
- PD Dr. Hans-Peter Dürr und Professor Martin Eichner: Corona-Pandemie: Zukunfts-Überlegungen aus der Sicht epidemiologischer Modellierung in Monitor Versorgungsforschung 02/2022 (2. April 2022)
- 8. Stellungnahme des ExpertInnenrats der Bundesregierung zu Covid-19 (8. März 2022)
- Website der Bundesregierung: Corona-Regelungen: Basis-Schutz und Hotspot-Maßnahmen
- Professor Klaus Überla und Professor Ulrike Protzer in: Süddeutsche Zeitung (Digitalausgabe) vom 21. April: Was kommt im Herbst auf uns zu?
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