Bochum (dpa/tmn) - Die Hälfte der deutschen Frauen macht in ihrem Leben mindestens einmal eine längere und sehr rigide Diät. Sind sie deshalb alle essgestört? Natürlich nicht.
Nur sind die Übergänge zwischen dem Bestreben, ein paar Pfunde loszuwerden, und einem gestörten Verhältnis zum eigenen Körper fließend. "Am Anfang will man etwas weniger wiegen, dann hat man dieses Weniger erreicht und denkt: "Ich könnte ja noch mehr abnehmen"." So gerät manch einer in einen Strudel, erklärt Professor Stephan Herpertz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS).
Anders als bei jemandem, der einfach ein bisschen abnehmen will oder gar muss, beherrscht das Thema Gewicht bei Magersüchtigen den gesamten Alltag. Um immer weiter abzunehmen, stellen sie das Essen weitgehend ein und treiben häufig auch extrem viel Sport.
Neben Magersucht (Anorexie) gibt es aber noch weitere Essstörungen, erläutert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Dazu gehören Bulimie und die Binge-Eating-Störung. Bulimiker essen in kurzer Zeit große Mengen. Um die Kalorienzufuhr rückgängig zu machen, lösen sie danach selbst Erbrechen aus. Essattacken kennzeichnen auch die Binge-Eating-Störung. Nur werden die Attacken nicht gewissermaßen wieder ungeschehen gemacht. Die Betroffenen sind deshalb häufig übergewichtig.
Scharf trennen lassen sich die einzelnen Störungen allerdings nicht. "Eine Mischform ist genauso gefährlich und genauso behandlungsbedürftig", sagt Lydia Lamers, BZgA-Referentin für die Prävention ernährungsbedingter Erkrankungen.
Generell sind Essstörungen eher bei Frauen zu finden. Bei der Binge-Eating-Störung ist dagegen mit rund 40 Prozent der Männeranteil vergleichsweise hoch. Bei Anorexie und Bulimie sind es je nach Studie nur ungefähr 10 Prozent Männer, sagt Silja Vocks, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück.
Eine typische Zeit für die Entwicklung einer Magersucht ist die Pubertät. Bei den Teenagern steht der Selbstwert ohnehin auf dem Prüfstand und ein geringes Selbstwertgefühl ist genauso wie ein negatives Körperbild ein Risikofaktor für eine Essstörung. Ausgelöst wird die Krankheit zum Beispiel von kritischen Lebensereignissen, Misserfolgen oder Hänseleien.
Extremer Gewichtsverlust ist ein sehr offensichtliches Anzeichen für eine Essstörung. Eltern sollten aber schon hellhörig werden, wenn sich bei ihrem Kind alles nur noch ums Thema Essen dreht. Betroffene ziehen sich manchmal auch zurück, wirken verändert. Um dann reagieren zu können, ist ein gutes Verhältnis zum Kind Voraussetzung, betont Andreas Schnebel, Diplom-Psychologe und Vorsitzender des Bundesfachverbandes Essstörungen (BFE) in München. Er leitet die Organisation ANAD, die Beratung und Therapie anbietet.
Frühzeitig zu reagieren, kann bestenfalls verhindern, dass sich eine Essstörung manifestiert. Aber: Einen Betroffenen davon zu überzeugen, dass er ein Problem hat, ist alles andere als einfach. Diese Erfahrung macht auch Professor Herpertz. Oft werden Kinder von ihren Eltern geradezu in die Ambulanz der Bochumer Klinik gezerrt. "Das zeichnet essgestörte Menschen aus, dass sie sehr lange Verläufe aufweisen, ehe sie in Therapie gehen."
Dabei gibt es viele Hilfsangebote in Deutschland: von einer Beratung über ambulante Einzeltermine bis hin zu Wohngruppen oder einem Klinikaufenthalt. Wichtig ist aber auch eine gute Nachsorge. "Wenn man eine Essstörung hatte und erfolgreich therapiert wurde, kann man leicht wieder reinrutschen", sagt Lydia Lamers von der BZgA. Unterschiedlichste Auslöser können dazu führen, dass die Krankheit erneut auftritt. "Essen ist eben jeden Tag allgegenwärtig." © dpa
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