Der sogenannte blaue Pille unterstützt seit zwei Jahrzehnten Millionen Männer mit Erektionsstörungen. Der Viagra-Wirkstoff Sildenafil hilft außerdem gegen Höhenangst und hält Schnittblumen frisch. Jetzt weist eine Studie des "Georgia Cancer Center" darauf hin, dass Viagra sogar Darmkrebs vorbeugen könnte.
Vor 25 Jahren waren Pharmaforscher der Firma Pfizer eigentlich auf der Suche nach einem Medikament gegen Bluthochdruck. Doch als Minenarbeiter in England den Wirkstoff in einer Studie testeten, traten unerwartete Nebenwirkungen zu Tage: Die Männer berichteten, durchaus erfreut, das Mittel verschaffe ihnen häufiger und längere Erektionen.
"Das war der Durchbruch", erinnert sich der Chemiker David Brown in einem Interview an den Moment, an dem seine Kollegen das Potenzial des Zufallsfundes noch gar nicht sahen.
Fünf Jahre später, am 27. März 1998, kam der Wirkstoff Sildenafil unter dem Markennamen Viagra in den USA auf den Markt - begleitet von einer fulminanten "Time"-Coverstory mit dem Titel "Die Potenz-Pille". Ein halbes Jahr später war sie auch in Europa erhältlich.
Seitdem hat die kleine blaue Tablette das Sexleben von zahlreichen Männern - und Frauen - weltweit verändert: Mehr als 64 Millionen Männern schluckten bisher insgesamt über drei Milliarden Pillen, berichtet Pfizer. Das Unternehmen machte Milliardengewinne.
"Viagra-Effekt": Männer sprechen über Probleme im Bett
Heute sprechen Experten vom "Viagra-Effekt" - denn mit dem Aufkommen der Tablette trauten sich Männer erstmals im größeren Umfang über ihre Probleme im Bett zu sprechen. "Früher haben Männer oft zehn bis 20 Jahre gewartet. Jetzt kommen Patienten teilweise schon nach drei bis sechs Monaten zu mir in die Sprechstunde", berichtet der Urologe Frank Sommer, Universitätsprofessor für Männergesundheit in Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit.
Ein Grund dafür: Aus dem Problem Impotenz - für viele Betroffene mit sozialem Stigma und dem Makel des "Nicht-Könnens" versehen - wurde nun sachlicher die Erektile Dysfunktion. Ein medizinischer Fachbegriff, mit dem irgendwie einfacher umzugehen war.
Trotzdem war es am Anfang ein pikantes Unterfangen, die Tablette und ihre Wirkung ins Gespräch zu bringen, erinnern sich Marketingfachleute. Werbung durfte im US-Fernsehen dafür zunächst nur nach 23 Uhr laufen - und wenn, dann trugen die Schauspieler deutlich sichtbar einen Ehering.
Viagra kann Herzprobleme verursachen
Doch die Pille punktete schnell. Denn als erste orale Therapie für Erektionsstörungen bot sie große Vorteile. "Vorher musste man sich eine Spritze in den Penis setzen, was natürlich die allerwenigsten wollten. Man konnte sich am Penis operieren lassen - mit Schwellkörperimplantaten, wo Hydraulik eingebaut worden ist -, oder man musste eine Vakuumpumpe mit Ringen verwenden", berichtet Frank Sommer von den weniger attraktiven Alternativen.
Sildenafil verhilft etwa 70 Prozent der Männer mit akuten Problemen zu einer Erektion - aber nicht automatisch, sondern nur, wenn der Mann auch erregt ist. Der Wirkstoff, ein sogenannter PDE-5-Hemmer, blockiert ein Enzym, das die Gefäßerweiterung und verstärkte Durchblutung des Penis in den Schwellkörpern verhindert. In Kombination mit anderen Medikamenten oder für Herzpatienten kann er aber gefährliche Nebenwirkungen haben und ist deshalb in Deutschland weiterhin verschreibungspflichtig.
Auch weil es manchmal ganz andere körperliche Gründe hat, dass Männer keine Erektion bekommen, halten Fachärzte eine Abklärung für sinnvoll. "Manchmal müssen Nerven stimuliert werden oder der Beckenboden muss aufgebaut werden", berichtet Sommer. So sei unter Umständen auch eine dauerhafte Heilung möglich.
Mittlerweile gibt es diverse Konkurrenzprodukte mit ähnlich wirkenden PDE-5-Hemmern, sowie eine Vielzahl von Generika - seit 2013 ist der Patentschutz für Viagra in Europa ausgelaufen, Ende 2017 auch in den USA. Das versetzte den Produkten, die nicht von der Krankenkasse erstattet werden, weiteren Aufschwung: Denn während das Original in Deutschland je nach Dosierung knapp 20 Euro pro Tablette kostet, ist der "Nachbau" schon für etwa fünf Euro zu haben.
"Pink Viagra" für Frauen
Die blaue Pille hat durchaus unterschiedliche Folgen. Viele Männer - und Paare - genießen es, nach langer Flaute wieder Sex zu haben. Auch fallen möglicherweise ein paar Missverständnisse weg, berichtet Sommer: Etwa wenn Frauen glaubten, ihr Mann ziehe sich zurück, weil er sie nicht mehr attraktiv fände - dabei schäme er sich wegen seiner Erektionsstörungen. "Das wird mit der Pille leichter."
Andere erleben aber auch negative Folgen. Manche Frauen fühlen sich nach Jahren freundschaftlichen Kuschelns unter Druck gesetzt, auf einmal wieder Sex zu haben. "Beide Partner haben einen physiologischen Alterungsprozess und die Anzahl der sexuellen Aktivitäten nimmt ab und vielleicht auch der Wunsch nach Sex", sagt Sommer.
Könnte Viagra da auch der Frau helfen? Laut Studien wirkt Sildenafil auch auf weibliche Geschlechtsteile. Eine Zulassung gibt es für Frauen aber nicht. Nach Auffassung von Experten sind die Ursachen für Sexualitäts-Störungen bei Frauen auch wesentlich komplexer.
Das 2015 mit großem Paukenschlag auf den US-Markt gebrachte "Pink Viagra" (Flibanserin) versuchte, diesen "Sex, der im Kopf beginnt" anzustacheln - mit minimalem Erfolg, dafür mit jeder Menge Nebenwirkungen.
Viagra könnte laut einer Studie Krebs vorbeugen
Eine neue Studie des "Georgia Cancer Center" der Universität Augusta in den USA hat ergeben, dass Viagra möglicherweise sogar Darmkrebs vorbeugen könnte. Bereits kleine tägliche Dosen bewirkten einen Rückgang von Polypen im Darmtrakt von Labormäusen um bis zu 50 Prozent.
Nach diesen vielversprechenden Ergebnissen soll eine klinische Studie an Menschen folgen. Gegen bereits bestehende Tumore kann Viagra zwar nichts ausrichten, aber vielleicht lässt sich die vorbeugende Wirkung aus den Tests an den Labormäusen tatsächlich auf den Menschen übertragen.
In Deutschland ist Darmkrebs die zweithäufigste Krebserkrankung und kolorektale Karzinome entstehen fast immer aus zuerst gutartigen Darmpolypen. Sollte Viagra die Bildung von Darmpolypen tatsächlich auch im Menschen um die Hälfte reduzieren können, wäre es ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Darmkrebs. © dpa
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