• Die Erfahrung aus dem letzten Jahr hat gezeigt, dass das Infektionsgeschehen, trotz eines entspannten Sommers, schnell wieder Fahrt aufnehmen kann.
  • Wie kommen wir angesichts dessen gut durch den Herbst und den Winter und welche Corona-Fehler sollten wir vermeiden?
  • Diese Fragen beantworten die Virologin Melanie Brinkmann und die Präsidentin des bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Simone Fleischmann.

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Auf einen entspannten Sommer 2020 folgten Monate hoher Infektionszahlen. Um eine solche Situation und eine vierte Welle zu verhindern, ist Gesundheitsminister Jens Spahn mit verschiedenen Experten "aus Wissenschaft, Politik, Verbänden und Zivilgesellschaft zur Analyse der Dynamik des Pandemiegeschehens im Gespräch", wie ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt.

Im Herbst 2020 hatte man den Zeitpunkt für einen härteren Lockdown trotz Unterstützung aus der Bevölkerung verpasst: "Durch die zögerliche Haltung der politischen Entscheidungsträger im Oktober sind viele Menschen an COVID-19 gestorben – obwohl viele Bereiche des öffentlichen Lebens, vor allem im sozialen Bereich, stark eingeschränkt waren", erklärt die Virologin Melanie Brinkmann gegenüber unserer Redaktion.

Virologin Melanie Brinkmann fordert: Corona-Zahlen weiter niedrig halten

Dennoch ist die Situation derzeit aufgrund einiger Faktoren – vor allem der Tests und Impfungen – besser als im letzten Jahr. Die Inzidenz solle aber so tief wie möglich bleiben, fordert Brinkmann: "Je mehr Viruszirkulation wir erlauben, desto leichter kann uns das Infektionsgeschehen wieder einholen und in die Defensive bringen."

Eine niedrige Inzidenz schütze diejenigen ohne Immunschutz und sei aufgrund der noch dünnen Studienlage zur Dauer des Schutzes nach einer Infektion oder Impfung ohnehin sinnvoll: "Wir wissen, dass einige bereits zirkulierende Varianten unseren Immunschutz umgehen können. Und die Delta-Variante wird sich in Deutschland und wahrscheinlich ganz Europa durchsetzen", so die Virologin.

Bundesgesundheitsministerium bereitet Auffrischung der Impfungen vor

Das BMG erklärt dazu, dass die Datenlage bezüglich möglicher Auffrischungsimpfungen kontinuierlich vom Robert-Koch-Institut (RKI) und der Ständigen Impfkommission (STIKO) gesichtet und bewertet werde. Eine eigens eingerichtete Arbeitsgruppe der STIKO werde "als unabhängige wissenschaftliche Kommission bei entsprechender Datenlage eine Empfehlung" aussprechen.

Die Bereitstellung ausreichender Impfdosen für 2021/22 werde von der Bundesregierung bereits geplant. Mit dem Stufenkonzept "Control COVID" des RKI solle außerdem eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden.

Virologin Brinkmann: Das wäre jetzt der größte Corona-Fehler

Die einschlägigen Corona-Maßnahmen müssten weiter genutzt und ausgebaut werden, warnt auch Melanie Brinkmann: "Der größten Fehler, den man jetzt begehen kann, ist, die Pandemie nicht mehr ernst zu nehmen und die wirkungsvollen Maßnahmen nicht weiter zu nutzen beziehungsweise auszubauen." Im Sommer 2020 hatte man genau jenen Fehler begangen und dabei auch die Vorbereitung der Schulen auf den Herbst verschlafen.

Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, fordert daher im Gespräch mit unserer Redaktion eine vorausschauende Strategie: "Wir fordern von der Politik ein bildungspolitisches Logbuch für die Schulen vor Ort, das für alle Szenarien und Eventualitäten die richtigen Antworten bietet." Dabei sollen organisatorische Rahmenbedingungen, Hygieneanforderungen, pädagogische Unterrichtsmodelle, Ansprüche und Erwartungen an Bildung, und der rechtliche Rahmen ausgearbeitet werden.

Corona kontrollieren: Je höher die Impfquote, desto besser

Dazu gehören auch Überlegungen zu einer intelligenten Teststrategie, die die Virologin Brinkmann mit Blick auf den Herbst gesamtgesellschaftlich fordert: "Der Fokus muss hier auf Bereichen liegen, in denen viele Menschen zusammenkommen, wie Schulen, weitere Bildungseinrichtungen, den Arbeitsstätten oder größere Veranstaltungen." Denn eine Impfquote von 40% reiche nicht aus, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren, erklärt die Virologin. Daten zur lokalen Impfquote gibt es laut BMG im Übrigen aber nicht.

Die Impfproblematik beschäftigt auch die Schulen. Denn immer noch gebe es kein flächendeckendes Impfangebot für alle Lehrerinnen und Lehrer, beklagt BLLV-Präsidentin Fleischmann: "Man muss sich das mal überlegen: Lehrerinnen und Lehrer haben wöchentlich oftmals mit bis zu 300 Schülern zu tun. Und dann hebt man die Maskenpflicht auf, weil man als Politik Lorbeeren einheimsen will. Das geht so einfach nicht. Schule live – aber sicher!"

Corona-Maßnahmen: Je besser die Kommunikation, desto höher die Akzeptanz

Darüber hinaus sollen das hektische Hin und Her und die fehlerhafte Kommunikation zwischen der Politik und den Schulen vor Ort in Zukunft vermieden werden: "Wir brauchen verlässliche und ehrliche Informationspolitik, auch zwischen den Ressorts der zuständigen Ministerien", fordert Fleischmann.

Auch Melanie Brinkmann verweist auf das Potenzial politischer Kommunikation: "Werden Maßnahmen gut begründet kommuniziert, ist die Akzeptanz in der Bevölkerung hoch – wird konfus kommuniziert, trägt es zur Verunsicherung bei."

BLLV-Präsidentin: Corona nicht vorbei, nur weil wir uns Normalität wünschen

Man dürfe daher nun vor allem keine falschen Erwartungen wecken, warnt Fleischmann: "Corona ist doch nicht vorbei, nur weil wir uns Normalität wünschen und ein neues Schuljahr beginnt." Deshalb weist sie auch Überlegungen über die Abschaffung von Masken im Unterricht, wie vom bayerischen Kultusminister Michael Piazolo angestellt, zurück: "Politische Spielchen mit der Gesundheit der Kinder und Lehrer sind fehl am Platz."

Doch bei aller Vorsicht, mit der die Lage angegangen werden muss, gibt es auch Grund zur Hoffnung. Denn die Bevölkerung muss sich, dass hatten zuletzt auch Experten wie Karl Lauterbach oder Christian Drosten prophezeit, voraussichtlich nicht noch einmal auf einen harten Lockdown einstellen.

Dieser hoffnungsvollen Perspektive stimmt auch Brinkmann zu: "Wir werden, wenn wir weiter in diesem Tempo impfen, und weiterhin Tests und Masken nutzen, keinen weiteren deutschlandweiten Lockdown benötigen."

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Über die Expertinnen: Prof. Dr. Melanie Brinkmann ist Professorin am Institut für Genetik an der Technischen Universität Braunschweig und sitzt im Beirat der Gesellschaft für Virologie. Sie gehört zum Beraterstab der Bundesregierung in der Corona-Pandemie. Zuletzt publizierte Sie den viel rezipierten Fachartikel zum Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik von Clemens Tönnies im EMBO Molecular Magazine.
Simone Fleischmann ist seit Mai 2015 als Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes eine gewichtige Stimme in der bildungspolitischen Diskussion. Als gelernte Hauptschullehrerin hat sie lange an einer bayerischen Hauptschule unterrichtet und war von 2007 bis 2015 Schulleiterin der Anni-Pickert-Grund- und Mittelschule Poing. Ihr Credo: Politik braucht Ehrlichkeit und Offenheit. Was Politiker fordern, müssen sie auch leben, denn Politiker sind Vorbilder. Ihr Ziel: Unsere offene demokratische Gesellschaft durch Bildung lebenswerter und menschlicher zu machen und sie vor Angriffen zu schützen.

Verwendete Quellen:

  • Rki.de: Strategiepapier zu ControlCOVID
  • Schriftliches Interview mit Prof. Dr. Melanie Brinkmann
  • Schriftliche Presseanfrage an das Bundesgesundheitsministerium
  • Telefonisches Gespräch mit Simone Fleischmann
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