Die Corona-Warn-App hat das Potenzial, hierzulande eine nicht unerhebliche Rolle bei der Eindämmung der Pandemie zu spielen. Allerdings ist sie nicht für alle Deutschen verfügbar - noch nicht. Ein Makel, mit dem die Gesellschaft aber leben müsse, sagt der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge.
13,3 Millionen Mal ist die Corona-Warn-App bislang heruntergeladen worden (Stand: 26. Juni 2020), einige Infektionen wurden über sie schon gemeldet, um andere Menschen zur Vorsicht zu mahnen. Denn wer Kontakt zu einer infizierten Person hatte, wird von der App benachrichtigt und kann sich vorsorglich zurückziehen, um gegebenenfalls eigene Kontakte zu schützen.
13,3 Millionen - das klingt nach einer guten Zahl, wahrscheinlich kommen in den nächsten Tagen und Wochen noch mehr hinzu. Allerdings kann nicht jeder, der die App gerne nutzen würde, das auch tun. Ausgeschlossen sind alle, die kein Smartphone besitzen, und alle, die ein älteres Smartphone (oder eines von Huawei) besitzen.
Bluetooth LE seit rund zehn Jahren Standard
Huawei ist ein Sonderfall, weil es Android nutzt, aber wegen des Handelskonfliktes zwischen den USA und China bis auf Weiteres keine Google-Anwendungen nutzen kann. Für die anderen Geräte gilt: Nur wer Bluetooth LE und ein relativ modernes Betriebssystem auf seinem Smartphone hat, kann die Corona-Warn-App herunterladen und verwenden.
Bluetooth ist der Funkstandard, über den die Geräte miteinander Daten austauschen können und mit dem überhaupt erst festgestellt werden kann, ob sich jemand in Reichweite eines infizierten Menschen befunden hat. Weil diese Art des Sendens und Empfangens den Akku sehr belastete, wurde vor rund zehn Jahren Bluetooth Low Energy (BLE) als Standard eingeführt, das energiesparender ist.
Wer die App benutzt, muss sein Bluetooth immer auf "an" haben, weil sonst gar nicht alle Kontakte registriert werden. Da ergibt es Sinn, dass die Technik möglichst akkuschonend ist. Aber nicht alle Geräte verfügen über BLE. "Leider scheinen manche Hersteller bei günstigen Geräten gelegentlich [...] womöglich aus Lizenzkostengründen die Integration zu sparen", schreibt das Tech-Magazin T3N.
Kritik an Apple und Google
Beim Betriebssystem gelten ebenfalls Mindeststandards: Bei Apples iOS muss mindestens Version 13.5 installiert sein, bei Googles Android mindestens Version 6.0. Wie viele Menschen das ausschließt, kann niemand genau sagen, es gibt aber Näherungswerte.
Unter Berufung auf Zahlen mehrerer Statistikportale und Forschungsinstitute kam die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) in einer Analyse auf rund 50 Millionen Menschen in Deutschland, die "technisch in der Lage sein [sollten], die 'Corona-Warn-App' zu nutzen". Bei 83 Millionen Einwohnern und abzüglich der rund elf Millionen Kinder könnten es demnach aber rund 20 Millionen Bundesbürger nicht.
Kritisch könnte dabei sein, dass vor allem Ältere und Menschen in Berufen mit geringen Gehältern, aber sehr viel Kontakt mit anderen Menschen, nicht entsprechend technisch ausgerüstet sind. Zwar ist die App selbst kostenlos über Apples App Store und Googles Play Store erhältlich. Aber selbst das älteste appkompatible iPhone, das iPhone SE aus dem Jahr 2016, kostet je nach Anbieter zwischen 130 und 230 Euro.
Dass die Schnittstelle für die App nicht für alle Betriebssystemversionen, also eben nicht für fünf oder mehr Jahre alte Handys, programmiert wurde, hat Kritik hervorgerufen. "Das ist ein Nachhaltigkeits- und soziales Problem, denn es sind überdurchschnittlich häufig ärmere Menschen betroffen", sagte etwa die netzpolitische Sprecherin der Linken, Anke Domscheit-Berg, zu ZDFheute.
"Entscheidung vertretbar"
Der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge kann die Kritik nachvollziehen, erinnert aber auch an das Dilemma bei der Entwicklung der App: Denn einerseits sollte sie besonders schnell fertig sein, andererseits sollen alle Menschen in Deutschland sie nutzen können - auch jene, die nicht auf dem neuesten (oder zumindest neueren) Stand der Technik sind.
"Natürlich ist das eine schwierige Abwägung", sagte der Direktor des Instituts für Ethik in der Künstlichen Intelligenz der Technischen Universität München (TUM) zu unserer Redaktion. "Allerdings finde ich die Entscheidung, die App erstmal zu veröffentlichen, ohne dass sie für jeden einzelnen Menschen in Deutschland nutzbar ist, vertretbar."
Menschen an anderer Stelle finanziell entlasten?
Vor einigen Tagen teilte das Robert Koch-Institut mit, die Bundesregierung stehe in dieser Sache "im Austausch mit Apple und Google, um über eine Lösung zu sprechen". Ob und wann die App zumindest für alle Smartphone-Besitzer verfügbar sein wird, ist aber nicht abschätzbar.
Denn das Problem ist komplex. "Die Nutzung einer solchen App erfordert auch die Bereitschaft, sich auf digitale Instrumente einzulassen", sagt Lütge. Bei manchen Menschen, auch in der älteren Generation, sei das eher das Problem als die Kostenfrage.
"Dennoch darf man die Frage, inwiefern hier Geld über Gesundheit entscheidet, nicht aus den Augen verlieren. In anderen Bereichen, etwa wenn es um Tablets für Schülerinnen und Schüler gibt, wird auch geschaut, was mit jenen ist, die sich die Anschaffung eines Tablets nicht leisten können", so Lütge.
Sein Vorschlag lautet deswegen: Kompensation. "Im Fall der Corona-Warn-App könnte man überlegen, ob man die Menschen zum Beispiel steuerlich oder anderweitig entlastet, wenn sie sich wegen der App ein neues Smartphone kaufen."
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit dem Direktor des Instituts für Ethik in der Künstlichen Intelligenz der Technischen Universität München (TUM), Professor Christoph Lütge
- Website des Robert Koch-Instituts: Infektionsketten digital unterbrechen mit der Corona-Warn-App
- faz.net: So viele können die Corona-App überhaupt nutzen
- Website des Verbraucherzentrale Bundesverbandes: Corona-Warnung per App: Fragen und Antworten zur neuen Tracing-App
- T3N.de: Corona-Warn-App: Welche Android-Smartphones und iPhones sind kompatibel?
- Netzpolitik.org: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur digitalen Kontaktverfolgung (Updates)
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