Im belgischen Antwerpen waren Anfang November alle COVID-19-Patienten auf der Intensivstation geimpft. In einem verkürzten Videoausschnitt, der sich im Netz verbreitet, ist der Chefarzt der Klinik zu sehen. Nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck fehlt wichtiger Kontext: Fast alle Patienten gehörten zu Risikogruppen und die Impfquote in Belgien ist sehr hoch, was zu statistischen Verzerrungen führt.
Das Video des Chefarztes eines Krankenhauses im belgischen Antwerpen ging kürzlich viral: Er sagte, dass alle Menschen, die dort auf der Intensivstation liegen, geimpft seien. Der kurze Ausschnitt kursiert auf YouTube und Facebook und in verschiedenen Ländern, beispielsweise in Österreich und Belgien selbst. Es wurde tausendfach auf Facebook geteilt.
Dem Video fehlt Kontext. CORRECTIV.Faktencheck hat ihn gemeinsam mit Faktencheckern des belgischen Magazins Knack recherchiert.
Das Interview mit dem Chefarzt Kristiaan Deckers entstammt einem Nachrichtenbeitrag des belgischen TV-Senders ATV vom 5. November. Deckers sagte, dass früher vor allem ungeimpfte Patientinnen und Patienten behandelt worden seien, momentan aber alle Menschen auf der Intensivstation geimpft seien. Dieser Teil des Interviews ist in Sozialen Netzwerken zu sehen. Das Ende des Videos fehlt jedoch – darin wird erklärt, dass der Großteil dieser Menschen vorerkrankt und im Schnitt zwischen 55 und 60 Jahre alt seien.
Eine Pressesprecherin der Krankenhausgesellschaft GZA, zu der das Krankenhaus in Antwerpen gehört, teilte CORRECTIV.Faktencheck und Knack mit, dass das Video offensichtlich aus dem Kontext gerissen sei. "Es stimmt, dass zum Zeitpunkt des Videos alle Patienten auf unserer Intensivstation vollständig geimpft waren, aber 80 Prozent von ihnen hatten auch Vorerkrankungen, die ihr Immunsystem beeinträchtigen." Aktuell seien 62 Prozent der COVID-19-Patienten auf Intensivstation geimpft.
Sie verwies außerdem auf die hohe Impfquote in Belgien: Diese liege bei 75 Prozent der gesamten Bevölkerung und 87 Prozent bei den Über-18-Jährigen. "Es ist also keine Überraschung, vollständig geimpfte Menschen aus Risikogruppen in unseren Krankenhäusern zu sehen", sagt die Sprecherin. Umso wichtiger seien eine hohe Impfquote und Booster-Impfungen.
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Bei sehr hoher Impfquote ist statistisch zu erwarten, dass mehr geimpfte Menschen auf Intensivstationen landen
Die Impfquoten lassen sich für Belgien auf der Webseite des Gesundheitsinstituts Sciensano nachlesen. Sie liegen in der Region Flandern bei den älteren Menschen bei über 95 Prozent. Sciensano schickte uns zudem einen aktuellen COVID-19-Bericht zu, aus dem hervorgeht, dass die 14-Tage-Hospitalisierungsinzidenzen der Ungeimpften in Belgien um ein vielfaches höher sind als die der Geimpften.
Bekannt ist schon länger, dass COVID-19-Impfstoffe zwar eine hohe Schutzwirkung gegen schwere Verläufe haben, aber diese eben nicht zu 100 Prozent verhindern. Außerdem kann die Wirkung nach einigen Monaten nachlassen. Bei hoher Impfquote ist daher zu erwarten, dass die Mehrheit der Patienten auf den Intensivstationen geimpft ist.
Die Logik ist simpel: Wären 100 Prozent der Bevölkerung geimpft, wären auch 100 Prozent der Intensivpatienten geimpft.
Ein theoretisches Beispiel verdeutlicht das: Angenommen, es gibt in einem Krankenhaus 10 Intensivpatienten, von denen 6 geimpft sind und 4 ungeimpft (60 Prozent Geimpfte). Die Zahlen müssen im Verhältnis betrachtet werden: Eine Impfquote von 90 Prozent in der Bevölkerung bedeutet, dass von 100 Personen 90 geimpft sind und 10 ungeimpft. Wenn von den 90 Geimpften 6 ins Krankenhaus kommen, entspricht das rund 6,7 Prozent. Wenn von den 10 Ungeimpften 4 hospitalisiert werden, entspricht das 40 Prozent. Ungeimpfte erkranken in diesem Szenario also fast sechsmal so häufig schwer an COVID-19 wie Geimpfte.
Es handelt sich demnach um einen statistischen Effekt – die Aussage des Arztes aus Antwerpen ist kein Beleg, dass die Impfungen nicht wirken würden.
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