Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffes mehrere Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Jetzt, in der Coronavirus-Pandemie, laufen schon nach wenigen Monaten die ersten Tests mit Freiwilligen. Das geht, weil es neue, flexiblere Arten von Impfstoffen gibt - und diverse Spielräume bei der Entwicklung.
Mit dem Beginn einer Epidemie beginnt auch ein Wettlauf mit der Zeit. Denn viele Ausbrüche werden erst gestoppt, wenn ein Medikament oder ein Impfstoff gegen die Krankheit gefunden wurde.
Früher dauerte es Jahrzehnte, bis ein Impfstoff entwickelt war. Dank neuer Methoden geht es heutzutage schneller. Bei einer Epidemie gibt es auch noch zusätzliche Möglichkeiten, Zeit einzusparen.
WHO: 83 Impfstoffe werden erforscht
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO wird derzeit (Stand: 23. April 2020) an 83 Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 geforscht. Sechs davon seien in der Phase "klinischer Studien", werden also an Menschen getestet.
Diese Phase ist die vierte von sechs Etappen, bis ein Impfstoff in die Massenproduktion geht. Die erste ist die Analyse des Virus, die zweite das Design des Impfstoffs, die dritte sind Tierversuche, die vierte Versuche mit Freiwilligen.
Die fünfte Etappe ist das Zulassungsverfahren, die sechste die Massenproduktion. "Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, das Verfahren zu beschleunigen“, sagt die Infektiologin Christine Dahlke vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) im Gespräch mit unserer Redaktion.
Schnell an vielen Menschen testen
Dahlke ist Projektmanagerin beim Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) und hier für ein Projekt zuständig, das die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) fördert. Die CEPI ist ein Bündnis zur Finanzierung und Koordinierung der Entwicklung neuer Impfstoffe.
Ziel ist es, dass solche Mittel idealerweise einsatzbereit sind, bevor eine Epidemie oder Pandemie ausbricht - oder zumindest so schnell wie möglich, wenn es passiert. CEPI springt zum Beispiel ein, wenn Pharmafirmen bei beschleunigten Impfstoff-Tests finanzielle Verluste befürchten müssen, weil sie schnell viel produzieren, ohne zu wissen, ob sie das Produkt später auch verkaufen können.
"Beschleunigte Impfstoff-Tests" heißt: In einem Notfall wie einer Pandemie werden Impfstoffe mitunter schneller an mehr Personen getestet, als man das unter normalen Umständen tun würde. Wie der Prozess der Impfstoffherstellung insgesamt ist auch die klinische Prüfung (also der Test an Menschen; allesamt Freiwillige) in verschiedene Phasen unterteilt.
In den Phasen I und II wird der Impfstoff an relativ wenigen, gesunden Probanden getestet, in Phase III sind es mehrere Tausende. In Phase IV kommen Menschen hinzu, die zu den Risikopatienten zählen.
"Es ist möglich, einige der Phasen parallel laufen zu lassen, zum Beispiel in einer früheren Phase als der Phase IV Risikopatienten hinzuzunehmen", so der Infektiologe Ulrich Heininger vom Universitäts-Kinderspital beider Basel zu unserer Redaktion.
Nebenwirkungen könnten sich später bemerkbar machen
Beschleunigtes Testen kann auf Kosten der Impfstoff-Sicherheit gehen: "Natürlich sind unerwünschte Ereignisse und somit auch seltene mögliche Nebenwirkungen umso besser erkennbar, je länger und intensiver ein Impfstoff geprüft wurde. Es gibt also vielleicht seltenere, aber ernste Nebenwirkungen, die bei einem beschleunigten Testen nicht entdeckt werden."
Trotzdem sei ein solches Vorgehen unter Umständen vertretbar. Schließlich können durch einen schneller bereitgestellten Impfstoff idealerweise mehr Leben gerettet werden.
Ebenso ist es möglich, mehrere Impfstoff-Studien parallel laufen zu lassen - wie es bei SARS-CoV-2 ja bereits passiert. "Am besten wäre es, alle Impfstoffe in einer großen, standardisierten Studie zu testen“, sagt die Virologin Ulrike Protzer von der Technischen Universität und dem Helmholtz Zentrum München im Gespräch mit unserer Redaktion. Pharmafirmen seien da aber oft eher skeptisch, weil sie bei einem "Zusammenwerfen" der Daten ihre Firmengeheimnisse in Gefahr sehen.
Wie ein Steckbaukasten für Viren
Wird ein Impfstoff schnell an vielen Menschen getestet, ließen sich bis zur Marktreife einige Monate sparen, sagt CEPI-Projektmanagerin Dahlke. Denn um eine Zulassung zu erteilen, brauchen die zuständigen Behörden belastbare Zahlen - und belastbar heißt auch: möglichst groß.
In Deutschland ist für die Zulassung das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig. Dessen Präsident Klaus Cichutek sagte der "Ärzte-Zeitung", dass es bei SARS-CoV-2 möglicherweise 2021 zu Tests an einer größeren Zahl von Probanden, "vielleicht Tausende, vielleicht Zehntausende", kommen könne.
Dass es überhaupt schon zu klinischen Studien kommt, liegt auch an den wissenschaftlichen Fortschritten. Zum Beispiel setzen Forscherinnen und Forscher bei der Entwicklung von Impfstoffen zunehmend auf sogenannte Vakzine-Plattformen.
Vakzine-Plattformen funktionierte bei Ebola und MERS
Vereinfacht gesagt, nehmen sie dabei ein harmloses Virus als Gerüst und bestücken es mit Teilen schädlicher Viren. Wird diese Kombination geimpft, bildet der Geimpfte im besten Fall Antikörper gegen das schädliche Virus. Bei Ebola und MERS gibt es bereits erfolgreiche Versuche mit derartigen Impfstoffen.
Je nachdem, welche Teile eines Virus verwendet werden oder um welchen Impfansatz es sich handelt, heißen die Impfstoffe RNA-, DNA- oder Vektorimpfstoffe. Renommierte Forschungseinrichtungen wie das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) entwickeln solche Plattformen. Richtig kombiniert könnten sie schnell in einen Notfall-Impfstoff umgewandelt werden, heißt es auf der DZIF-Website.
Ein RNA-basierter Impfstoff wurde kürzlich als erster Impfstoff in Deutschland zur klinischen Erprobung zugelassen. "RNA-basierte Impfstoffe lassen sich sehr schnell herstellen, allerdings sind sie in der Sicherheit noch nicht so erprobt wie andere, etabliertere Verfahren", sagt Ulrike Protzer.
Spielräume bei der Zulassung
Wie schnell es mit der Zulassung geht, liegt aber auch an den zuständigen Behörden. "Normalerweise dauert es mehrere Monate, bis ein Unternehmen alle nötigen Daten aus den Tiermodellen gesammelt und die Unterlagen zusammengestellt hat - und dann nochmal mehrere Monate, bis die zuständige Behörde über eine Zulassung zu einer klinischen Studie entschieden hat", sagt Christine Dahlke.
Im Ernstfall einer Pandemie kann das Verfahren jedoch abgekürzt werden, indem nicht alle Dokumente im Paket zur Prüfung vorliegen müssen, sondern einzeln eingereicht werden können. Unter Fachleuten heißt das "Rolling Review". Mit einem solchen Einzelfeedback könne man, so Dahlke, bis zu sechs Monate Zeit sparen.
Challenge-Modelle gegen Corona in den USA
Auch bei den Tests selbst gibt es weitere Überlegungen, wie schneller zu Ergebnissen zu kommen wäre. So haben US-Wissenschaftler kürzlich einen Vorschlag für eine SARS-CoV-2-Impfstoff-Testung gemacht, die bis auf sehr wenige Ausnahmen nur in Tierversuchen angewendet wird.
Dabei geht es um sogenannte Challenge-Modelle, bei denen eine Gruppe mit dem Impfstoff-Kandidaten geimpft wird und die andere mit einem Placebo. Beide werden anschließend mit dem Krankheitserreger infiziert. Solche Versuche sind jedoch ethisch schwierig.
"Ich kann mir das bei SARS-CoV-2 kaum vorstellen, solange es keine etablierte Behandlung als 'Rescue' gibt", sagt Ulrich Heininger vom Universitäts-Kinderspital beider Basel.
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Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Dr. Christine Dahlke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Projektmanagerin beim DZIF für ein Projekt gefördert durch die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI),
- Telefoninterview mit Professor Ulrich Heininger, Leitender Arzt Infektiologie/Vakzinologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert-Koch-Instituts
- Telefoninterview mit Professor Ulrike Protzer, Direktorin der Institute für Virologie an der Technischen Universität München und am Helmholtz Zentrum München
- Deutsches Zentrum für Infektionsforschung: Neu auftretende Infektionskrankheiten: Entwicklung von Impfstoffen
- Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO): DRAFT landscape of COVID-19 candidate vaccines - 23 April 2020
- Ärzte-Zeitung: Interview mit Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts: "Tests mit Impfstoff gegen SARS-CoV-2 starten"
- Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa): Impfstoffe zum Schutz vor COVID-19, der neuen Coronavirus-Infektion
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