- In Deutschland steigt die Sieben-Tage-Inzidenz immer weiter an.
- Eine Umfrage unserer Redaktion bei den Behörden zeigt: Viele Gesundheitsämter kommen nicht mehr hinterher, Infizierte zu melden und deren Kontakte zu verfolgen.
- Wie zuverlässig sind also die Daten, auf die das Gesundheitssystem, die Wissenschaft und schlussendlich auch die Politik baut?
Ein neuer Tag, ein neuer Höchststand bei der bundesweiten Sieben-Tage-Inzidenz. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) stieg der Wert am Dienstag auf nunmehr 399,8 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner – zum 16. Mal in Folge.
Für das Institut sind die Inzidenzen – neben der Hospitalisierungsrate und der Auslastung auf den Intensivstation – eines der entscheidenden Kriterien bei der Beurteilung des Infektionsgeschehens. Sie "reflektieren die Infektionsdynamik" und seien deshalb der "früheste Faktor", betonte RKI-Präsident Lothar Wieler vergangene Woche. Darüber hinaus dienen die Werte Medizinern zur Vorbereitung auf den Zulauf von COVID-19-Patienten auf den Normal- und -Intensivstationen. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn die Werte möglichst nah an der Realität sind.
Genau das ist derzeit ein Problem. RKI-Chef Wieler warnte: Die Zahlen gingen steil nach oben, sie seien höher als bekannt. "Die Untererfassung der wahren Zahlen verstärkt sich." Wieler rechnete mit zwei- bis dreimal so vielen Fällen wie offiziell gemeldet werden. Denn während sich bundesweit immer mehr Menschen mit SARS-CoV-2 infizieren, kommen immer mehr Gesundheitsämter gar nicht mehr hinterher mit dem Zählen, Melden und Informieren.
Wie groß das Problem ist, zeigt eine Umfrage unserer Redaktion bei einigen Landkreisen und Städten in den derzeit besonders betroffenen Bundesländern Sachsen, Bayern und Thüringen.
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"Tagesaktuelle Meldungen werden gerade nur zum Teil geschafft"
- "Eine zeitnahe, insbesondere tagesaktuelle Bearbeitung bzw. Nachverfolgung der Indexfälle und der engen Kontaktpersonen – und dementsprechend auch die Meldung der Fälle ans RKI – ist uns derzeit nicht vollständig möglich", antwortete das Landratsamt des bayerischen Donau-Ries-Kreises.
- Auch in Dresden ist "eine komplette Abarbeitung aller Meldungen aktuell nicht möglich, tagesaktuelle Meldungen werden gerade nur zum Teil geschafft", teilte ein Sprecher der sächsischen Landeshauptstadt mit. "Die Auswirkungen sind uns bewusst", heißt es weiter.
- Ein Sprecher des Landkreises Zwickau erklärte: "Wie in den anderen sächsischen Landkreisen ist auch das Gesundheitsamt des Landkreises Zwickau aufgrund der aktuellen pandemischen Lage nicht mehr in der Lage, alle Kontakte nachzuverfolgen." Die Behörde sehe sich außerstande sogenannte Freizeitkontakte nachzuverfolgen. "Hier sollte der Quellfall selbst tätig werden und informieren", forderte der Sprecher auf.
- "Nein, eine zeitnahe Kontaktpersonenverfolgung ist aktuell bei der hohen Fallzahl trotz Unterstützungskräften nicht immer möglich", teilte ebenso ein Sprecher des Landratsamts Freyung-Grafenau in Bayern mit. Auch er betonte: "Positiv Getestete sind dazu aufgerufen, ungeimpfte und nicht genesene enge Kontaktpersonen von sich aus zu informieren."
- Und aus dem Thüringer Saale-Orla-Kreis heißt es: "Die Fallzahlen sind einfach viel zu hoch, um eine zeitnahe und vollumfängliche Kontaktpersonennachverfolgung zu ermöglichen."
Die Ursachen gleichen sich: exponentieller Anstieg der Fallzahlen, aufgelaufene Meldungen sowie personelle Engpässe, auch durch Krankheitsfälle. Dazu kommen technische Probleme sowie das Einarbeiten von neuen Mitarbeitern, die die Ämter zusätzlich unterstützen sollen.
Große Dunkelziffer bei der Sieben-Tage-Inzidenz?
Um die Flut an Meldungen überhaupt abarbeiten zu können, wurde die Kontaktnachverfolgung in den erwähnten Kreisen und Städten teils weit zurück gefahren. So beschränkt sich etwa das Gesundheitsamt im Donau-Ries-Kreis nur noch auf Haushaltsangehörige von positiv Getesteten sowie auf Personen mit Kontakt zu gefährdeten Menschen. Und das Gesundheitsamt im Saale-Orla-Kreis ist laut eigener Aussage bereits vor zwei Wochen dazu übergegangen "in der Kontaktnachverfolgung zu priorisieren", das heißt sich auf Fälle in Risikogruppen zu fokussieren, insbesondere im Umfeld von Pflegeeinrichtungen. "Kontaktpersonen aus dem privaten Umfeld werden hingegen nicht mehr in allen Fällen ermittelt", bemerkte ein Sprecher des Landratsamtes.
Die Dunkelziffer in der aktuellen Hochinzidenz-Lage ist also höchstwahrscheinlich riesig:
- Das zeigt zum einen die zunehmend steigende Positivrate: In der vergangenen Woche waren laut einer aktuellen Datenanalyse der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) 19,9 Prozent der Corona-PCR-Tests positiv. In der vorhergehenden Woche waren es noch 17,3 Prozent, in Sachsen lag damals die Positivrate allerdings schon bei 37 Prozent. Je mehr getestet wird und je geringer dabei die Positivrate ist, desto mehr entspricht die Zahl der Positiv-Getesteten dem realen Infektionsgeschehen. Momentan ist hingegen das umgekehrte Szenario zu sehen.
- Zum anderen ergab eine am Samstag veröffentlichte Datenanalyse des "Spiegel", dass über 40 der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte mit dem Melden ihrer Corona-Zahlen an das RKI nicht mehr hinterher kamen, sodass die Inzidenzen im Nachhinein jeweils um mindestens 20 Prozent anstiegen – in München sogar um 80 Prozent.
Das Problem dieser Entwicklung: Politische Entscheidungen werden auf Basis viel zu niedriger Werte getroffen.
Bundeswehr unterstützt vielerorts die Gesundheitsämter
In der bayerischen Landeshauptstadt kam es zu dem Meldestau, weil die Behörden zu viele Fälle mit zu wenig Mitarbeitern bearbeiten mussten, dazu habe sich die Bearbeitung im Vergleich zum Beginn der Pandemie verkompliziert, berichtete die "Abendzeitung". Seit dem 8. November unterstützen nun 50 Bundeswehr-Angehörige das Münchner Gesundheitsamt, wie eine Sprecherin unserer Redaktion auf Anfrage erklärte. Ihr zufolge gebe es momentan keinen Meldeverzug mehr.
Auch andere Gesundheitsämter wurden aufgestockt – teils massiv: Das Team des Saale-Orla-Kreises wurde verdoppelt, das des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hat sich von 50 auf 150 Mitarbeiter sogar verdreifacht. Im Gesundheitsamt des Landkreises Zwickau sind derzeit insgesamt 207 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig, der Großteil dafür komme aus dem eigenen Haus. Überall helfen zudem Soldaten mit, einige Kreisen forderten bereits weitere Unterstützung von der Bundeswehr an.
Testlabore am Rand der kompletten Auslastung
Als ein weiteres Nadelöhr könnten nun die Testlabore dazukommen. "Wir sehen momentan eine starke Belastung insbesondere bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Laboren. Mehr als das Maximale können diese nicht leisten – und das reicht in einigen Regionen mit besonders drastischem Infektionsgeschehen aktuell nicht immer, um die eingehenden SARS-CoV-2-PCR-Aufträge so rasch wie sonst zu bearbeiten", sagte Evangelos Kotsopoulos, Vorstandsmitglied der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM), am Dienstag.
Die bundesweit rund 200 Labore stehen nach Angaben des Verbands kurz vor der Vollauslastung (aktuell beträgt die Auslastung 86 Prozent). Laut RKI könnten in Deutschland derzeit theoretisch maximal 2,33 Millionen Tests pro Woche analyisert werden. Bereits in dieser Woche wird das Limit fast erreicht: 2,16 Millionen PCR-Tests stehen demnach bis Sonntag zur Verfügung.
Verwendete Quellen:
- Schriftliche Anfrage an insgesamt zehn Landkreise und kreisfreie Städte in Sachsen, Bayern und Thüringen
- Der Spiegel: "Am Rande des Messbaren"
- Abendzeitung: "Verzerrte Corona-Zahlen: München bekommt Hilfe von der Bundeswehr"
- Pressemitteilungen der Akkreditierten Labore in der Medizin
- Daten des Robert-Koch-Instituts zu Corona-Tests sowie Neuinfektionen
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