Im April waren es 50 Demonstranten in Stuttgart, Ende August gingen in Berlin bereits 40.000 Menschen auf die Straße. Die "Querdenker" mobilisieren die Massen – und mit ihnen anscheinend auch Radikale. Denn die besorgniserregenden Vorfälle häufen sich: Aggression, Drohungen, Gewalt. Wie radikal sind die Querdenker inzwischen? Polizeihauptkommissar Jörg Radek erläutert die Polizeistrategie, auch Querdenken-Initiator Michael Ballweg bezieht Stellung.
Es war das bislang symbolisch wirksamste Bild, welches von einer "Querdenken"-Demonstration geblieben ist: Das Erklimmen der Treppen vor dem Berliner Reichstag. Ende August war es Rechtsextremen nach der Auflösung einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen gelungen, Polizeiabsperrungen zu durchbrechen und vor dem Parlament schwarz-weiß-rote Reichsflaggen zu schwingen.
Die erschreckenden Nachrichten im Zusammenhang mit Corona-Protesten haben mittlerweile zugenommen: Offene Aggression gegenüber Polizisten, geschmacklose Gewaltfantasien und jüngst auch gewalttätige Anschläge zählen zu den Vorfällen, die Sorge bereiten. Haben sich die Querdenker, die an der Spitze des Corona-Protestes stehen, radikalisiert? Seit Beginn sehen sich die Anhänger dem Vorwurf ausgesetzt, Maßnahmen-Kritiker paktierten mit Verschwörungsideologen und Rechten.
Durchbrechen von Polizeiabsperrungen
Beobachtungen, die in den sozialen Netzwerken geteilt werden, legen eine Radikalisierung zumindest nahe. So postete Journalist Julius Geiler auf Twitter ein Video, welches die Querdenker-Demonstranten Ende Oktober in Berlin zeigt. Dazu schrieb er: "Wer diese Bewegung bisher als 'gewaltfrei' bezeichnet hat, guckt sich bitte diese anderthalb Minuten an. Mehrmals wird dazu aufgerufen 'die Bullen zu umzingeln'. Schließlich gelingt das, die Beamten können sich nur mit großer Mühe aus dem Kessel befreien."
Auch die "Spiegel"-Journalistin Ann-Kathrin Müller twitterte: "Zu Beginn von #b2510 brachen mehrere hundert TeilnehmerInnen durch die Absperrung der Polizei, konnten ungehindert die Karl-Marx-Allee lang und an der Gegendemo vorbei."
Die Querdenker traten in Stuttgart im April 2020 das erste Mal in Erscheinung. Damals noch mit 50 Demonstranten organisiert die Gruppe heute die größten Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen und bringt Zehntausende auf die Straßen.
Brandanschlag auf das Robert-Koch-Institut
Noch ist unklar, ob auch die Anschläge auf die Museumsinsel-Kunstwerke Querdenkern zuzurechnen sind. Mindestens 70 Objekte, darunter Werke im Pergamonmuseum, im Neuen Museum und in der Alten Nationalgalerie, wurden dabei Anfang Oktober von Unbekannten mit öliger Flüssigkeit besprüht.
Die Motive gelten noch als unbekannt, feststeht aber: Verschwörungsideologe Attilla Hildmann hatte einem Bericht der "Zeit" zufolge im Vorfeld auf seinem Telegram-Kanal verbreitet, dass sich im Pergamonmuseum der "Thron des Satans" befinde und es das Zentrum der "globalen Satanisten-Szene und Corona Verbrecher" sei. Hildmann war auf Querdenken-Demos als Gastredner aufgetreten.
Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) ermittelt in weiteren Fällen, in denen eine politische Motivation angenommen wird: Wie die Polizei berichtete, warfen am 25. Oktober Unbekannte Brandsätze auf das Robert-Koch-Institut (RKI), das täglich über die aktuelle Corona-Lage informiert. Auch bei der Explosion eines selbstgebauten Sprengsatzes, der in der Invalidenstraße gezündet wurde, sollen laut "Spiegel" Corona-Gegner hinter der Tat stecken. Am Tatort wurde ein Bekennerschreiben gefunden, in dem die Aufhebung von Beschränkungen sowie Neuwahlen gefordert werden.
Galgen-Attrappen und Gewaltfantasien
Nicht nur Berlin ist Schauplatz: Ende Oktober gelang es zwölf Corona-Demonstranten, ins Landratsamt Augsburg einzudringen, um vor dem dort tagenden Kreisausschuss gegen die Maskenpflicht zu demonstrieren. Ob die Täter letztlich im Namen der Querdenker handelten oder nicht - die Bewegung um Gründer Michael Ballweg schürt ein Klima der Konfrontation. Dazu tragen makabere Witze ebenso bei wie Hinrichtungs- und Gewaltfantasien gegenüber Journalisten und Andersdenkenden.
Eine Video-Aufnahme bei YouTube zeigt die Querdenker Lydia Dykier und Martin Lejeune im Camp der Corona-Rebellen direkt am Kanzleramt. Sie witzeln über Galgen für "echte Menschen", Dykier sagt: "Wer da hängen soll, das machen wir dann aus – demokratisch." Eine Attrappe eines solchen Balkens fand sich Ende Oktober bereits in Minden.
Der Chefredakteur des "Mindener Tageblattes", Benjamin Piel, schrieb auf Twitter: "Wenn aus Kritik an Journalisten Hinrichtungsfantasien werden, ist das verabscheuenswert. In Minden war es heute Nacht so weit - eine erhängte Schaufensterpuppe baumelte an einer Brücke über die Weser. Scheußlich." Am selben Tag demonstrierte "Querdenken 571" in der Innenstadt gegen Corona-Maßnahmen.
Polizeivertreter: Radikalisierung "stetig zugenommen"
Dazu passen die Beobachtungen des Berliner Piraten Enno Lenze: "Seit mehreren Stunden ziehen Tausende durch Berlin. Ohne Maske. Bedrängen und nötigen andere, rufen zum Mord an der Regierung auf, schlagen mit den Schildern auf Autos", twitterte er am 25. Oktober.
Jörg Radek, Polizeihauptkommissar und stellvertretender Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), gibt angesichts dieser Vorkommnisse auf Nachfrage unserer Redaktion zu: "Wir haben im Verlauf des Pandemiegeschehens erkennen müssen, dass die Radikalisierung der Querdenken-Bewegung stetig zugenommen hat. Zu anfänglichen Verbalattacken sind vermehrt körperliche Attacken hinzugekommen."
Es werde immer extremer, davor warne mittlerweile auch der Verfassungsschutz. Noch Ende August hatte Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang zumindest den Einfluss von Rechtsextremisten bei den Querdenkern als begrenzt gesehen. Es sei ihnen nicht gelungen, sich an die Spitze der Bewegung der Corona-Demonstrationen zu setzen.
Querdenker für Polizei "eine Herausforderung"
Das Muster, mit radikalen Aktionen mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, kenne man aus vergangenen Protestbewegungen, berichtet Radek. "Zunächst gelingt das mit Plakaten und Pappmachéfiguren, später aber fliegen Flaschen." Für die Polizei stellten die Querdenker eine Herausforderung dar: "Die Bewegung hat keine Homogenität. Mitläufer mit tatsächlichen Existenzängsten demonstrieren gemeinsam mit Demokratiefeinden, die das Versammlungsrecht missbrauchen, um ein anderes Gesellschaftssystem herbeizuführen. Die große Spannbreite wird von den Extremen missbraucht, dadurch erscheint ihre Schlagkraft außerdem größer", erklärt Radek.
Die digitale Komponente vereinfache die Radikalisierung: "Die Mobilisierung erfolgt über das Internet, die Vernetzung über Social Media. Zeitgleich kann so an verschiedenen Orten eine Art 'Flashmob' erfolgen", analysiert Radek.
Querdenker beobachten selbst keine Radikalisierung
Bei den Querdenkern selbst will man von einer Radikalisierung nichts wissen. Für "Querdenken 69 Frankfurt" teilt Gründerin Malin Singh auf Anfrage unserer Redaktion mit: "Eine Radikalisierung ist in unseren Reihen nicht zu beobachten. Wir distanzieren uns von Gewalt und Hetze."
Die Taten würden nicht der Querdenken-Initiative entspringen, die sich friedlichen Protest als Leitmotiv gegeben habe. Es überrasche jedoch nicht, dass "die gesellschaftliche Entwicklung Richtung Anarchie und Verzweiflungshandlung mit den immer strikter werdenden politischen Maßnahmen einhergehen", teilt der Frankfurter Ableger mit.
Radikal sind nur die Anderen
Singh betont: "Nicht jeder freidenkende Mensch, der sich selbst als 'Querdenker' oder 'Freidenker' bezeichnet, ist Teil unserer Initiative." So halte man aber eine Radikalisierung einiger Widerstands-Bewegungen außerhalb der Querdenken-Initiative in Anbetracht der jüngsten Geschehnisse für möglich und wahrscheinlich. Neben den Querdenkern gebe es noch zahlreiche andere Widerstandsbewegungen – etwa "Weiterdenken", "Klardenken", "Eltern für Aufklärung" sowie die "Identitäre Bewegung" und Splittergruppen der Antifa.
Darauf verweist auch Querdenken-Initiator Michael Ballweg: Es sei derzeit weder eruierbar noch faktisch belegbar, welcher Bewegung sich die Radikalisierten zuordnen ließen. "Jeder kann sich der Bewegung anschließen, insofern könnte auch jeder Bürger dahinterstecken", meint Ballweg. Wer sich der Querdenker-Bewegung zugehörig fühlen wolle, agiere gewaltfrei, friedlich und demokratisch.
Hat die Radikalisierung schon ihre Spitze erreicht?
Gefragt, ob er eine Radikalisierung bei den Querdenkern beobachte, antwortet Ballweg unserer Redaktion: "Der Begriff der Radikalisierung ist im Zusammenhang mit demokratischem Widerstand nach Art. 20 GG dehnbar interpretierbar." Es komme stets auf die Sichtweise des Betrachters an, Veganer seien für Fleischesser auch radikal.
"Eine tatsächliche und gesetzliche Radikalisierung wird durch den Verfassungsschutz und das Strafgesetzbuch definiert. Dieser stuft uns gerade nicht als radikalisierte Organisation ein, sondern als demokratische Strömung, die ihre verbrieften Grundrechte wahrnimmt", erklärt Ballweg weiter.
Radek gibt zu bedenken: "Wenn man Bestandteil der Bewegung ist, bemerkt man diese Dynamik der Radikalisierung oft gar nicht." Es sei aktuell schwer zu beurteilen, in welchem Maße die Radikalisierung weiter fortschreite. "Das hängt letztlich auch von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug auf die Coronakrise ab und die Frage, wie viele Anhänger sich unter den Querdenkern und in der weiteren Bevölkerung für radikale Ideen und Methoden finden", sagt der Polizeihauptkommissar.
Prominente Anhänger als Brandbeschleuniger
Denn um ihre radikalen Ideen zu verbreiten, brauchten die Querdenker mediale und reale Öffentlichkeit. "Wichtig ist deshalb nun die Frage: Wie viel Aufmerksamkeit widmet man ihnen über die notwendige Chronisten-Pflicht hinaus? Die Pegida-Bewegung hat sich auch zunächst über einen längeren Zeitraum gehalten und wird nun gar nicht mehr wahrgenommen – weil man ihnen nur so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, wie absolut nötig", erinnert Radek.
Für mehr Aufmerksamkeit sorgt indes die Tatsache, dass sich mit Michael Wendler ein weiterer Prominenter dem Club der Verschwörungstheoretiker angeschlossen hat. Dem Sänger folgen allein auf Instagram knapp 294.000 Abonnenten, Zehntausende schlossen sich direkt seinem neu eingerichteten Telegram-Kanal an.
Im Gespräch mit unserer Redaktion warnte Sozialpsychologin Pia Lamberty bereits vor der Gefahr, "dass etliche Fans ihrem Star folgen", Wendler durch seine Bekanntheit verschwörungsideologische Inhalte normalisiert und "sie faktisch an Leute aus der Mitte der Gesellschaft" bringt.
Bilder einer prügelnden Staatsmacht
Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, äußerte sich im Interview mit unserer Redaktion im Oktober besorgt: "Ich halte diese Verschwörungsmythen für ausgesprochen gefährlich. Sie entfalten ihre demokratiezersetzende und antisemitische Wirkung im Internet, sie zeigen sich auch bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Was wir da erleben, ist ein gefährliches Gemisch von Maßnahmen-Kritikern über Anhänger von Verschwörungsmythen bis hin zu Reichsbürgern und Rechtsextremen", hatte Schuster gesagt.
Laut Radek beabsichtige dieses gefährliche Gemisch, bestimmte Bilder zu produzieren: "Sie wollen Bilder einer Staatsmacht, die womöglich auf Kinder einprügelt, weil diese Kinder von Erwachsenen angehalten werden, gegen Auflagen zu verstoßen oder andere zu bespucken. Diese Bilder werden wir aber definitiv nicht liefern", kündigt der Gewerkschaftler an.
Konfrontative Bilder unvermeidbar
Dazu müsse die Polizei jedoch einen Spagat vollziehen. "Unsere Strategie sieht vor, als Polizei sehr moderat vorzugehen und die Versammlungsfreiheit durchzusetzen. Sie ist ein hohes Gut, die Gerichte haben das noch einmal bestätigt. Aber es gibt Auflagen wie das Abstandsgebot und die Maskenpflicht, die eingehalten werden müssen – sonst lösen wir nach vorherigem Appell an die Versammlungsleiter die Demonstration auf", sagt Radek. Ein konfrontatives Bild entstehe aber unvermeidbar, wenn Demonstranten ohne Maske behelmten Polizisten gegenüberstünden. "Diese müssen sie zum Eigenschutz vor Gewalt und wegen der Ansteckungsgefahr aber tragen", erinnert Radek.
Er appelliert an Politik und Verwaltung: "Man erleichtert uns die Arbeit, indem man widerspruchsfreie sowie gerichtsfeste Maßnahmen und Anordnungen trifft." In der politischen Kommunikation müsse man im Blick haben, wie die verkündeten Maßnahmen wirkten und ob man möglicherweise Futter für Kritiker und Radikalisierung biete.
Radek betont: "Es muss deutlich werden, dass es hier nicht um ein Spiel geht: Dass die Zugbegleiterin die Maskenpflicht und der Wirt die Sperrstunde nur mithilfe der Autorität der Polizei durchsetzen kann, darf nicht sein. Es muss Schluss sein mit einem "Mal gucken, was noch geht". Wir haben schon genug Reizklima in der Gesellschaft."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Polizeihauptkommissar Jörg Radek
- Anfrage an Malin Singh und Michael Ballweg
- Twitter-Profil Ann-Kathrin Müller
- Twitter-Profil Julius Geiler
- Twitter-Profil Benjamin Piel
- zeit.de: Anschlag auf Kunstwerke und Antiken auf der Berliner Museumsinsel
- Spiegel.de: Gegner der Corona-Maßnahmen zünden Sprengsatz, 29.10.2020
- Youtube-Kanal "Anni und Martin": #Lachen der #Verzweiflung. Lydia #Dykier erlebte viele #Verletzungen der #Menschenrechte.
- Twitter-Profil von Enno Lenze
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.