- Die Corona-Maßnahmen treiben europaweit Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die aus ihrer Sicht zu weitreichenden Maßnahmen zu demonstrieren.
- Verschiedene Gruppierungen, von Esoterikern bis zu Rechtsextremen, mobilisieren mit Verschwörungserzählungen für die Demonstrationen.
- Die Expertin Katharina Nocun erklärt, welche gemeinsamen Feindbilder und Erzählungen die Querdenker eint, wie sie sich vernetzen und welche Gefahr von ihnen ausgeht.
In ganz Europa gehen Menschen gegen eine angebliche "Corona-Diktatur" auf die Straße. Unter ihnen zirkulieren in unterschiedlichem Maß Verschwörungserzählungen. Die Autorin Katharina Nocun erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass grundsätzlich alle Ereignisse, die wir als kollektiv wichtig wahrnähmen, eine hohe Anschlussfähigkeit für Verschwörungserzählungen hätten.
Das gelte natürlich auch für eine Pandemie. Die Demonstrierenden in den verschiedenen europäischen Ländern seien sich aber in vielen Punkten gar nicht einig: "Da gibt es Reichsbürger, die glauben, Deutschland sei eine GmbH. Einige glauben, das Virus existiere gar nicht, für andere ist es eine Biowaffe, die die Bevölkerung vergiften soll", erklärt Nocun.
Verschwörungserzählungen: Querdenker sind sich in Feindbild einig
Die Gruppe der Querdenker reicht von Impfskeptikern über Esoteriker bis hin zu Rechtsextremen und die Zusammensetzung vergleichbarer Gruppierungen variiert auch in anderen europäischen Ländern. Als Organisation agieren die Querdenker auch in Österreich, der Schweiz und Italien.
Die verschiedenen Gruppen seien sich dabei in ihrem gemeinsamen Feind einig, erklärt Nocun: "Medien und Wissenschaft werden in allen europäischen Ländern diskreditiert. Das schweißt die unterschiedlichen Milieus zusammen."
Die beiden Feindbilder hätten dabei, erklärt die Publizistin, eine spezifische Immunisierungsfunktion: "Das läuft nach dem Motto ab: 'Jeder, der uns kritisiert, will uns auf eine falsche Fährte locken und ist selbst Teil der Verschwörung.' Denn Kritik an den unterschiedlichsten Corona-Verschwörungserzählungen gibt es sowohl vonseiten der Wissenschaft als auch in den Medien. Deshalb sind diese beiden Elemente immer involviert."
Expertin erklärt: So vernetzen sich die Querdenker
Aufgrund ihrer heterogenen Gruppenstruktur ist die Vernetzung der Querdenker zwischen verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Einige Milieus waren bereits vor der Corona-Pandemie bestens verbunden: "Gerade Rechtsextreme sind nicht erst seit dem Internet über Ländergrenzen hinweg miteinander vernetzt. Darüber hinaus werden auch immer wieder Narrative aus einem Sprachraum über Influencer in andere Länder weitergetragen," erklärt die Expertin Nocun.
Sie nennt als Beispiel die Verschwörungsbewegung QAnon. Die zentrale Verschwörungsthese dieser Gruppe besteht in der Behauptung, eine einflussreiche und weltweit agierende Elite entführe und ermorde Kinder, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Darüber hinaus würden Eliten einen Putsch planen, um die USA in eine Diktatur zu verwandeln. In Deutschland knüpfe QAnon an bestehende rechtsextreme Verschwörungserzählungen und an aktuelle politische Geschehnisse an, beschreibt Nocun.
Querdenken: Indirekte Vernetzung durch eigenes "Ökosystem"
"QAnon ist in den USA entstanden und wird in anderen Ländern adaptiert. Die große Schnittmenge besteht darin, dass man sich auf dieselben Sprachführer bezieht. Dadurch entsteht eine Art 'Ökosystem', aus dem ein abgeschlossenes Weltbild resultiert, das sich stets aus denselben Medien informiert", sagt die Expertin. Durch diese indirekte Vernetzung sind persönliche Treffen zwischen den einzelnen Gruppierungen nicht mehr zwingend notwendig.
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Mobilisierung von Anhängern: Querdenker arbeiten auch analog
Neben der indirekten Vernetzung mobilisieren die Querdenker zunehmend analog. Das sei laut Nocun der Versuch, Anhänger außerhalb der eigenen Blase zu erreichen: "Wer bei Telegram in den einschlägigen Gruppen ist, muss nicht mehr überzeugt werden. Außerdem erreicht man mit Flyern und Plakaten auch zunehmend ältere Menschen." Dass die Querdenker mitunter ein breites Publikum ansprechen, versuchen dabei auch rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien auszunutzen:
"In manchen Ländern hat die extreme Rechte ganz gezielt angedockt oder sogar selbst Demonstrationen angemeldet. Auch hier bleibt der gemeinsame Nenner das gemeinsame Feindbild: die 'Lügenpresse', die Politik sowie die Wissenschaft," erklärt Nocun. In Deutschland riefen im August 2020 rechtsextreme Parteien wie die NPD oder der III. Weg zur Teilnahme an Protesten auf und auch die AfD versuchte zu mobilisieren. Mit Blick auf eine repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung erscheint das auch wahltaktisch sinnvoll: So sind 24 Prozent der AfD-Anhänger der Meinung, "es handele sich bei der Corona-Pandemie um eine Verschwörung zur Unterdrückung der Menschen". Weitere 41 Prozent halten das für wahrscheinlich.
Expertin Nocun über Querdenker: Autoritär und anti-demokratisch
Das Ziel von Rechtsextremen besteht nun darin, die Gesellschaft zu spalten und einen Bürgerkrieg heraufzubeschwören: "Es gib einige, die von ihren Erzählungen wirklich fest überzeugt sind. Sie bereiten sich auf den 'Tag X' vor und phantasieren von Kriegsgerichten für Wissenschaftler, Journalisten und Politiker. Die oft von Rechtsextremen nach außen vorgeschobene Forderung nach 'Meinungsfreiheit' gilt stets nur für sie selbst. Alle Abweichler sollen vor Gericht verurteilt werden. Diese Fantasien sind zutiefst autoritär und anti-demokratisch", erklärt die Autorin.
Die Erzählung vom "Tag X" ist fester Bestandteil rechter Ideologien. Es ist der Tag des Umsturzes, an dem die Anhänger dieser Erzählung der Gesellschaft gewaltsam ein neues System überstülpen. Nun stellt sich die Frage, welche Gefahr von der Vermischung rechtsextremer Ideologien mit anderen Verschwörungserzählungen ausgeht – wie gefährlich sind also die Querdenker?
Anschläge und Gewalt? So gefährlich sind die Querdenker
In Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg wurde die Querdenken-Bewegung beziehungsweise wurden Teile der Organisation von den jeweiligen Landesämtern für Verfassungsschutz bereits zum Beobachtungsobjekt eingestuft. Katharina Nocun geht ebenfalls davon aus, dass Gewaltpotential vorhanden ist:
"Es gab auch schon Anschlagsversuche. Im Januar 2021 wurde beispielsweise ein ICE zur Vollbremsung gezwungen, weil Planen und Barrikaden auf den Gleisen angebracht worden waren. Die Behörden haben das dem Corona-Protestspektrum zugeordnet." Darüber hinaus wünschten sich angeblich einige Personen in Telegram-Gruppen sogar noch größere Anschläge. Die Sprengung von Impf- oder Testzentren sei dort ein Thema.
Expertin Nocun rät: Bei Verschwörungserzählungen schnell eingreifen
In der Logik der Verschwörungsideologen in ganz Europa ist die Gewalt dabei notwendig und legitim, erklärt Nocun: "Wer glaubt, dass wir in einer Diktatur leben, kann gewaltsamen 'Widerstand' gegen das vermeintlich autoritäre System einfach rechtfertigen. So wird die Gewalt ganz logisch legitimiert." Doch natürlich geht nicht von jedem Querdenker gleich eine solche Gefahr aus. Deshalb ist es wichtig, zu verhindern, dass Menschen zu weit in diese Szene abrutschen.
Je früher man bei einem möglichen Abrutschen in verschwörungsideologische Kreise eingreife, desto besser: "Dann bildet sich gar nicht erst ein geschlossenes Weltbild. Wenn jemand etwas nur aufgeschnapppt hat, hilft vielleicht schon der Link zu einem Faktencheck. Wenn es mehr Diskussionsbedarf gibt, sollte man viel mit Fragen arbeiten, ruhig und sachlich bleiben und gleichzeitig klare Grenzen ziehen. Beispielsweise, wenn Rassismus und Antisemitismus verbreitet werden", rät Nocun.
Bei extremen Fällen sei es schließlich ratsam, sich an Beratungsstellen für Rechtsextremismus oder an Sektenberatungen zu wenden. Dann kann der Absprung geschafft werden.
Verwendete Quellen:
- Hamburg.de: Verfassungsschutzbericht 2020
- Kas.de: Verschwörungen in der Krise
- Stm.baden-wuerttemberg.de: "Querdenken 711" wird beobachtet
- Süddeutsche.de: Bayerns Verfassungsschutz beobachtet Teile der Querdenken-Bewegung
- Tagesschau.de: Rechtsextreme mobilisieren für Berlin
- Telefonisches Gespräch mit Katharina Nocun
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