"Ich fühle mich wie im Film". Das ist ein Satz, den man gerade häufig hört. Wird diese surreale Situation unsere Gesellschaft dauerhaft verändern? Ein Risikoforscher erklärt die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen – und warum die Corona-Krise auch eine Chance für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganzes birgt.
Es ist unwirklich, surreal, noch vor wenigen Tagen war die Situation in diesem Ausmaß nicht vorstellbar: Die Corona-Krise hat unser Leben fest im Griff. Was macht das mit unserer Gesellschaft und mit jedem Einzelnen von uns?
Der Risikoforscher Ortwin Renn erklärt im Interview mit unserer Redaktion: Das alles bedeutet jetzt Stress. Aber es gibt auch Lichtblicke.
Hamsterkäufe und Angst bei den einen, Humor und Gelassenheit bei den anderen. Die Reaktionen der Menschen in der Corona-Krise sind ganz unterschiedlich. Typische Verhaltensmuster? Oder hat Sie etwas überrascht?
Ortwin Renn: Das Verhalten lässt sich tatsächlich in drei klassische Kategorien unterteilen, die aus der Evolution entstanden und in Gefahrensituationen typisch sind:
- Totstellen: Das sind diejenigen, die noch unbekümmert sind und gerne so weitermachen möchten wie bisher. Für sie sind Regeln wichtig, die die Politik jetzt aufstellt.
- Flucht: Menschen, die sich bei Krisen einigeln, bis hin zur völligen Isolation.
- Kampf: Dieser Typ möchte etwas tun. Er macht Hamsterkäufe, um sich zu wappnen. Häufig hat er Aggressionen gegen die Bedrohung und sucht sich ein Ersatzobjekt, das eigentlich nichts mit der Krankheit zu tun hat, und diskriminiert beispielsweise Menschen aus dem asiatischen Raum.
Das sind jetzt schon die Auswüchse. Viele Menschen haben eine Neigung zu einer dieser drei Muster.
Überraschend und erfreulich finde ich die hohe Anzahl derjenigen, die Verständnis für die aktuellen Maßnahmen haben und jetzt solidarisch in ihren Nachbarschaften Hilfe anbieten. Es kommt eben nicht nur das Egoistische, sondern auch das Altruistische in einer solchen Krisensituation heraus.
Also auch etwas Positives in der Krise?
Auf jeden Fall. Auch, dass im Moment so viele Termine wegfallen. Weniger Druck bedeutet: Zeit, einmal über den eigenen Lebensstil nachzudenken. Kann ich diese Entschleunigung vielleicht beibehalten, wenn die Krise vorbei ist? Will ich weitermachen mit dem gleichen Zirkus wie zuvor und von A nach B hetzen - oder war dieses ruhigere Leben vielleicht gar nicht so schlecht? Man sollte das alles jetzt auch als Chance begreifen, einmal innezuhalten und nach dem Wesentlichen im eigenen Leben zu fragen.
Ungewissheit schafft Angst
Viele Menschen haben aber auch Angst: Wovor genau?
Vor der Ungewissheit. Menschen haben sehr viel Angst vor Situationen, die sie nicht in ihren Erfahrungshorizont einordnen können. Wir wissen nicht, wie sich alles entwickeln wird. Dieses Virus ist etwas Unbekanntes für uns – anders als die Grippe. Werde ich Opfer? Wird die Isolation helfen, das Virus einzudämmen?
Und nicht zu wissen: Wann wird wieder Normalität einkehren?
Das ist ein wesentlicher Gesichtspunkt. Im Vergleich zu Sars 2005, Vogel- oder Schweinegrippe ist es diesmal anders. Die Zeiträume damals waren zeitlich vergleichsweise eng begrenzt.
Hätte das Ausmaß des Risikos früher erkannt werden müssen?
Ich finde, dass die meisten Staaten – abgesehen vielleicht von China zu Beginn der Krise – relativ besonnen reagieren und schrittweise die richtigen Maßnahmen verschärft haben. In Deutschland als föderalem Staat ist das nicht einfach – da sind die Bars in Bayern dann bereits zu und in Brandenburg noch nicht. Das könnte man verbessern.
Insgesamt der Gefahrenlage entsprechend zu reagieren, halte ich nicht für falsch. Die Bedrohungslage für Deutschland ist isoliert betrachtet sehr überschaubar. Niemand muss sich jetzt komplett einschließen. Das wäre schwierig für Menschen, die niemanden haben, der sie versorgt. Es ist auch ratsam, bei allen Maßnahmen auch die wirtschaftlichen Risiken miteinzukalkulieren. Die Auswirkungen sind noch gar nicht absehbar. Es wird viele Pleiten geben – und das wird nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesundheitliche Folgen haben.
Was kommt auf uns zu?
Für Europa wird es wirtschaftlich eine große Belastungsprobe. Es wird die Exportindustrie Deutschlands hart treffen, es kommen schwere Zeiten auf klein- und mittelständische Unternehmen zu. Aufgrund unserer bisher guten wirtschaftlichen Situation werden wir das in Deutschland meiner Einschätzung nach gut abfedern können. Viele Staaten wie Spanien und Italien werden dagegen EU-Hilfe brauchen – und das wird vor allem auf Kosten Deutschlands gehen. Ob wir wieder zurückfallen in alte Egoismen oder ob es eine europaweite Solidarität geben wird, werden wir sehen.
"Ein großes Labor, wie Soziologen es selten erleben"
Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen: Was macht die zunehmende Isolation mit den Menschen?
Die meisten haben ein starkes soziales Gefüge. Großeltern werden es verschmerzen können, wenn man jetzt mit ihnen skypt, statt sie zu besuchen. Sie wissen, dass sie nicht alleine gelassen sind und dass man im Notfall vorbeikommen würde. Schwieriger ist es für die, deren Familien weit weg sind. Sie müssen womöglich Hilfe eines sozialen Dienstes in Anspruch nehmen, und das tun viele nicht gerne.
In den sozialen Netzwerken sorgt es für viel Ironie, dass Familien jetzt mehr Zeit miteinander verbringen: "Wird es bald mehr Scheidungen oder mehr Kinder geben?", wird da etwa gewitzelt. Was wir alle da gerade erleben, liefert der Soziologie auf jeden Fall viel Stoff, oder?
Es ist wie ein großes Labor, das Soziologen selten erleben. Ja, es wird Stress bedeuten für die Familien, da bin ich mir sicher. Aber: Es kann auch dazu führen, dass man sich ohne den Terminstress wieder ganz neu findet als Familie, als Freundeskreis und als Nachbarschaft.
Wird sich unsere Gesellschaft dauerhaft verändern?
Man weiß nicht, ob es so kommt, aber zu hoffen wäre, dass die guten Erfahrungen, die einige jetzt vielleicht durch die Entschleunigung machen, nicht wieder aufgekündigt werden – auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Das Verhalten der Menschen reduziert sich jetzt wieder mehr auf das Wesentliche. Sie beschränken unnötigen Konsum, reisen weniger und besinnen sich auf immaterielle Werte.
Sehnsucht nach Helden
"Ich fühle mich wie im Film" – das ist ein Satz, der gerade häufig fällt. Geht es Ihnen auch so?
Diese Filme haben eine fast archetypische Struktur – und sind im Moment gar nicht so weit von der Realität entfernt. Etwa "Contagion" aus dem Jahr 2011 (mit Matt Damon, Kate Winslet und Gwyneth Paltrow, Anm.d.Red.). Er hat eine ganz typische Logik: Es kommt zu einer Katastrophe, die von finsteren Mächten noch verstärkt wird. Es geht um ein tödliches Virus, ausgehend von einer Fledermaus. 20 Prozent der Infizierten sterben, was natürlich extrem ist. Ein Heldin stirbt, der Zuschauer trauert. Eine weitere Heldin findet dann schließlich einen Impfstoff, den sie an sich selbst testet – und rettet damit die Menschheit. Die Zuschauer atmen auf und fühlen sich eins mit der Heldin.
Hoffen die Menschen jetzt womöglich auch auf einen Helden, der alle retten wird?
Durchaus. Sie hoffen nicht nur nur auf den Impfstoff, sondern es ist auch der Wunsch nach einer klaren Form von Leadership. In Österreich füllt diese "Heldenrolle" jetzt vielleicht jemand wie Kanzler Sebastian Kurz aus oder bei uns Gesundheitsminister Jens Spahn, die als Krisenmanager auftreten. Auf jeden Fall müssen die Politiker das jetzt entsprechend aufgreifen. Für Deutschland könnte es bedeuten, die föderalistische Sensibilitäten etwas zu lockern und Entscheidungen für bundesweite Maßnahmen zu erleichtern – auf jeden Fall aber das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung in unsicheren Zeiten ernst zu nehmen.
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