Im Kampf gegen die Infektionsgefahr mit dem Coronavirus hat Deutschland einen Rückschlag erlitten. Der sogenannte Reproduktionsfaktor ist erneut auf den kritischen Wert von 1,0 gestiegen. Das Robert-Koch-Institut aber warnt davor, ihn isoliert zu betrachten und damit überzubewerten.
Die Ansteckungsrate mit dem neuartigen Coronavirus ist in Deutschland nach Angaben des Robert-Koch-Instituts wieder gestiegen.
Laut der am Montagabend veröffentlichten RKI-Statistik steckt jeder Infizierte nunmehr wieder einen weiteren Menschen an. Die sogenannte Reproduktionsrate - von 0,96 mathematisch aufgerundet - liegt bei 1,0. Das bedeutet, dass die Zahl der Neuerkrankungen derzeit nicht mehr zurückgeht.
"Vorgestern und gestern wurden rund 1.000 Fälle pro Tag an das Robert-Koch-Institut übermittelt. Pro 100.000 Einwohnern haben wir derzeit 188 Fälle in Deutschland. Aber es gibt große regionale Unterschiede", sagte RKI-Präsident Lothar H. Wieler im Rahmen einer der regelmäßigen Pressekonferenzen des RKI.
Bayern feiert den Erfolg seiner Corona-Maßnahmen
So hatte tags zuvor Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bezüglich der Neuinfektionen mit dem Coronavirus von "sehr, sehr guten Zahlen" für den Freistaat berichtet.
Aus den Daten des Landesamtes für Gesundheit gehe hervor, dass die Reproduktionsrate in Deutschlands südlichstem Bundesland derzeit bei 0,57 liegt. In Bayern haben sich die frühzeitiger und drastischer als andernorts ergriffenen Einschränkungen ins öffentliche Leben offensichtlich ausgezahlt.
"Wir haben bislang einen Erfolg zu verzeichnen", schätzte Wieler die Lage im gesamten Land ein, "und den haben wir vor allem den Mitarbeiten der Gesundheitsämter zu verdanken, und den Maßnahmen, die wir frühzeitig ergriffen und die wir, die Bürger des Landes, umgesetzt haben. Deshalb konnten sie greifen."
Österreich als Vorbild in Coronakrise
Gleiches gilt für das Nachbarland Österreich. Dort bewegt sich die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus seit Tagen im zweistelligen Bereich. "Das war ein ganz großes Ziel", sagte Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Der Reproduktionsfaktor liege bei 0,59 und damit so niedrig wie noch nie.
In Deutschland lag Anfang März die wichtige Kennziffer noch bei drei, am 8. April bei 1,3, in den vergangenen Tagen bei 0,9.
"Je weiter die Zahl unter eins ist, desto sicherer können wir uns fühlen und desto mehr Spielraum haben wir", wiederholte Wieler.
Bundeskanzlerin Angela Merkel folgt dieser Einschätzung. Sie betonte in der Vergangenheit, das Erlassen oder Lockern von Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränken, hinge von einem konstant unterhalb des Wertes eins liegenden Reproduktionsfaktor ab.
Wieler relativiert die Bedeutung des Reproduktionsfaktors
Der Reproduktionsfaktor alleine könne und dürfe jedoch nicht der Gradmesser sein, betonte Wieler: "Es wird aber nie so sein, dass ein Faktor alleine dazu führt, Maßnahmen durchzuführen, oder eben nicht. Wenn jetzt die Maßnahmen gelockert werden, werden wir hoffentlich keine zu starken Anstiege der Infektionen bekommen. Die Menschen müssen sich an die Regeln halten und dort, wo die Abstände nicht eingehalten werden, eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen."
"R", so Wieler weiter, "kann also nur eine Zahl unter vielen sein. Eine davon sind die Fallzahlen pro Tag. Eine andere sind die Todesfälle. Die Tests sind ein weiterer Indikator, anhand dessen wir das Geschehen in Deutschland einschätzen können."
Zudem betonte Wieler die Bedeutung des sogenannten Nowcastings. Dabei handelt es sich um den Versuch der Vorhersage der Erkrankungsfälle.
"Wir dürfen die Reproduktionsrate nicht alleine beurteilen und aus dem Kontext nehmen. Wir müssen mehrere Faktoren im Blick haben, und das haben wir auch. Dieses Puzzle konnten wir in den vergangenen Wochen immer besser zusammenbauen und dadurch Einsicht in das Geschehen erhalten", relativierte Wieler die Bedeutung des Reproduktionsfaktors ein Stück weit.
Lesen Sie auch: Alle Entwicklungen rund um das Coronavirus in unserem Live-Blog
Wieler appelliert an Disziplin der Bundesbürger
Wieler appellierte an die Disziplin der Bundesbürger: "Wir alle wünschen uns eine neue Normalität. Aber gerade vor dem Hintergrund der Lockerung von Maßnahmen müssen wir darauf achten, den Erfolg zu verteidigen. Wir wollen nicht, dass die Fallzahlen wieder zunehmen. Wir wollen nicht, dass wir in unserem Land wieder mehr schwer an COVID-19 erkrankte Menschen behandeln müssen. Und wir wollen unser Gesundheitssystem nicht überlasten."
Derzeit sei "die Kapazität in den Krankenhäusern nach wie vor groß. Wir haben keinerlei Engpässe", beruhigte der Virologe. Doch nur, "wenn wir die Anzahl der neuen Erkrankungen in den nächsten Tagen und Wochen unten halten. Nur dann reichen die Kapazitäten."
Es bleibe auch elementar, die Kontakte infizierter Menschen nachzuvollziehen. Die Gesundheitsämter müssten - zum Beispiel mit sogenannten Containment-Scouts - gestärkt werden. Dann könnten so viele Kontakte wie möglich nachvollzogen werden.
Wieler lehnt Versuch der Herdenimmunität ab: "Gefährlich und naiv"
Die immer wieder diskutierte Möglichkeit, eine kontrollierte Herdenimmunität herbeizuführen, bezeichnete Wieler als ebenso "gefährlich" wie "naiv". Sie sei für ihn "nicht nachvollziehbar und nicht vorstellbar." Wer Herdenimmunität fordere, müsse darüber nachdenken, wie viele Todesopfer "man in Kauf nehmen möchte."
Im Falle des Coronavirus müssten nach wissenschaftlicher Ansicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung infiziert gewesen sein, um eine Herdenimmunität herbeizuführen.
"Wir dürfen sie nicht riskieren", warnte Wieler. "Das Virus ist schwer zu kontrollieren. Wie können nicht mit ihm verhandeln." Er erinnerte daran, wie viel Kraft Deutschland gebraucht habe, um die Ansteckungsrate herunterzudrücken. "Aber wir haben immer noch kein Medikament, mit dem wir das Virus angreifen können. Und wir haben immer noch keinen Impfstoff."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.