- Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Sieben-Tage-Inzidenz derzeit so hoch wie im niederbayerischen Landkreis Rottal-Inn.
- Bereits seit über einer Woche steht der Wert deutlich über der 1.000er-Schwelle.
- Bei einem Besuch vor Ort zeigen sich die massiven Folgen dieser Entwicklung: Ein Gesundheitsamt, das mit der Kontaktverfolgung nicht mehr nachkommt, volle Kliniken und verärgerte Pflegekräfte und Mediziner.
Wohl fast nirgendwo ist die Pandemie dieser Tage so sichtbar wie in der zweiten Etage des Landratsamtes in Pfarrkirchen. Mathias Kempf zeigt die Räumlichkeiten des Gesundheitsamtes des Kreises Rottal-Inn, momentan der bundesweite Corona-Hotspot: blauer Linoleumboden, weiße Steckdosenleiste, ein paar lose Kabel – doch sonst nichts. Lugt man durch die nächste und übernächste Tür, zeigt sich ebenso Leere. Keine Computer. Keine Möbel. Keine Menschen.
"Wir haben das komplette Gesundheitsamt in Container nach oben verlegt", sagt Kempf und zeigt in Richtung des Krankenhauses, das auf einem Hügel am Rand der niederbayerischen Kleinstadt steht. Kempf ist Sprecher des Kreises, Landrat Michael Fahmüller (CSU) gibt "aufgrund der aktuellen Krisensituation" keine Interviews. "Die Corona-Lage ist besorgniserregend", betont Kempf.
Das Gesundheitsamt des Landkreises ist dafür ein Spiegelbild. Denn der Platz im Verwaltungstrakt reichte für die Behörde nicht mehr aus. Statt 20 - wie in Normalzeiten - versuchen nun insgesamt 50 Mitarbeiter, die Kontakte von Infizierten so gut es geht nachzuverfolgen, Testergebnisse zu übermitteln und die Gesundheitsinfrastruktur im Landkreis zu koordinieren. Trotz der personellen Aufstockung kommt das Amt laut Kempf aber kaum hinterher, selbst alle positiv Getesteten zu informieren.
Schon in der ersten Welle gehörte der Landkreis ganz im Südosten der Republik zu den am stärksten betroffenen Gebieten. Der Landkreis war in der vierten Welle der erste, der die Schwelle von 1.000 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tage überschritt. Das war am am 10. November. Seitdem sind die Zahlen immer weiter geklettert, Rottal-Inn meldete am Freitag eine Inzidenz von 1423,6 an das Robert-Koch-Institut – der höchste Wert in ganz Deutschland. Erneut gibt es über 200 Neuinfizierte. Wieder mehrere Corona-Tote.
Ärztlicher Direktor hofft auf Unterstützung der Bundeswehr
"Es ist nicht abzusehen, welche Krankenhaus-Kapazitäten wir in wenigen Wochen brauchen", sagt Kempf. Er zeigt sich vor allem von der Schnelligkeit der Ausbreitung in der aktuellen Welle überrascht. Die drei Kliniken des Kreises sowie das Gesundheitsamt hätten "zwischenzeitlich am Rand" gestanden. Seit vergangenem Freitag bekommt zumindest die Behörde Unterstützung, zehn Soldaten helfen pro Schicht.
Verstärkung von der Armee wünscht sich auch Klaus Kienle, ärztlicher Direktor des Krankenhauses im rund 20 Kilometer entfernten Eggenfelden. Die Stadt ist die größte im Landkreis und Hauptstandort der Rottal-Inn-Kliniken. "Wo bleibt die Bundeswehr?", fragt Kienle angesichts der momentanen Lage bei ihm im Haus. Er und seine mit am Tisch sitzenden Kollegen schätzen, dass die Pandemie aktuell die Hälfte der Ärzteschaft und der Pflegekräfte in der Klinik bindet.
Ein Krankenhaus innerhalb weniger Wochen aufbauen wie in China, könne die Bundeswehr zwar auch, meint Kienle. Dem Chirurgen geht es bei seiner Forderung aber vor allem darum, die Betreuung aller Patienten in der Coronakrise sicherzustellen – ausdrücklich auch bei denen, die wegen ganz anderer Beschwerden eingeliefert werden.
Je größer die Krise, desto größer die Solidarität
Bundesweit für Aufsehen gesorgt haben die Rottal-Inn-Kliniken mit zwei Fotos, welche sie am Dienstag auf Instagram veröffentlichten. Darauf zu sehen: Eine lange Reihe von Krankenwagen des Roten Kreuzes, die 23 Patienten verlegten, darunter vier aus den Intensivstationen, um die Krankenhäuser im Hoch-Inzidenz-Landkreis zu entlasten.
Durchschnaufen konnte Pflegedirektorin Stephanie Vogt - wenn überhaupt - nur kurz. Derzeit umsorge ihr Team auf der Normalstation 30 Corona-Patienten, die Mehrzahl sei ungeimpft, sagt Vogt.
Wie woanders auch, kämpft sie um jede Pflegekraft. Vogt beschreibt die Situation am Eggenfeldener Klinikum und 18 Monate Corona-Dauereinsatz als "hoch belastend". Körperlich wie seelisch: Jeder müsse während der Schichten eine komplette Schutzausrüstung tragen, Anzug, Visier, FFP3-Maske – und sich 15- bis 20-Mal am Tag umziehen. Dazu werde das Personal isoliert, die direkten sozialen Kontakte untereinander minimiert, sei es in den Pausen oder den Besprechungen.
Je größer die Krise, desto größer sei aber auch die Solidarität, sagt Vogt. Da ist etwa die Altenpflegerin, die neben ihrem Vollzeitjob noch einen Tag mit in der Klinik anpackt oder die Ex-Kollegin, die aus der Rente zurückkehrt. "Menschen, die sagen: 'Wir lassen euch nicht hängen'", berichtet Vogt.
In der Klinik selbst herrscht 3G-Plus, alle Patienten und Besucher werden getestet, egal ob geimpft oder nicht. Alles wird getan, damit sich das Virus nicht weiter ausbreiten kann.
Corona-Leugner bis in den Tod
Und dann hat das Personal mit Patienten zu tun, bei denen Chefarzt Klaus Kienle nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Er berichtet von einem schwer an COVID-19 erkrankten Mann, der nach seiner Einlieferung jegliche Maßnahmen abgelehnt und bis zuletzt die Gefahr durch das Coronavirus geleugnet habe.
"Ich habe versucht, mit ihm wie mit einem kleinen Kind zu reden, ergebnislos", erinnert sich Kienle. Der Mann habe sich partout nicht helfen lassen wollen. "Erst am Schluss, als er keine Luft mehr bekam, hat er den Notarzt gerufen – das war dann aber zu spät". Der Patient sei verstorben.
Das ist ein absoluter Extremfall, doch die Mediziner haben durchaus häufiger mit Querdenkern zu tun, wie sie berichten. Die absolute Mehrzahl der Patienten sei aber "äußerst verständnisvoll", betont Kienle.
Triage soll mit allen Mitteln vermieden werden
Die Region sei schon in der ersten Welle "stark betroffen" gewesen, erklärt Thomas Riedel, der die Intensivstation im Eggenfeldener Krankenhaus leitet. "Wir wissen deshalb genau, was auf uns zukommt." Seit vergangenen Donnerstag seien alle planbaren Operationen verschoben worden, mindestens bis in den Januar, erzählt Riedel.
Ihm zufolge gebe es im Krankenhaus zehn Intensivbetten, die derzeit alle mit COVID-19-Patienten belegt seien. Zudem habe man eine Notreserve von vier weiteren Betten eingerichtet und das dazugehörige Personal bereitstehen.
Und was passiert, wenn der letzte freie Platz belegt ist? Riedel und seine Kollegen würden die Debatte über Triage verfolgen. Aber mit diesem äußersten Mittel werde nicht geplant, wie Riedel und seine Kollegen einhellig beteuern. "Wir versuchen alles, jede erdenkliche Möglichkeit, um Triage zu vermeiden", sagt der Intensivmediziner. Schließlich wolle kein Arzt je die Entscheidung fällen, welcher Patient nicht mehr behandelt werden soll.
"Ich sehe es auch gar nicht ein, für den Landkreis einzuspringen", ergänzt Riedel. Das heißt: Er will nicht ausbaden, was die Politik vermasselt hat. Dass nun die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite auslaufen soll, "ist das traurigste Signal, was ich jemals gehört habe", bemerkt er. Aus seiner Sicht sei das eine "fatale Aussage", in der Bevölkerung würden damit "alle Schranken" fallen. Frustriert sei er deswegen zwar nicht, das verbrauche zu viel Energie, aber verärgert. Die Runde nickt.
Extrem niedrige Impfquote in Kreis Rottal-Inn
Warum die Corona-Zahlen im Rottal-Inn-Kreis seit Wochen zu den höchsten in Deutschland gehören, mag niemand vor Ort beurteilen.
Mutmaßungen gibt es trotzdem: "Wir hatten nicht die eine große Veranstaltung, die die Zahlen hat explodieren lassen", sagt Landkreis-Sprecher Kempf mit Blick auf mögliche Cluster oder Superspreading-Events. Was sich nachverfolgen lasse, sei das übliche: Schulklassen, Geburtstage, Hochzeiten. Auch die Nähe zum benachbarten Österreich könnte ein Rolle spielen, im Landkreis gebe es viele Pendler.
Dazu kommt die sehr niedrige Impfquote: 53,9 Prozent. Ein Wert, der weit unter dem bayerischen Mittel von 67,6 Prozent liegt, was wiederum leicht unter dem Bundesschnitt ist (jeweils Stand: 18.11.).
Dennoch: "Wir merken einen deutlichen Anstieg bei der Nachfrage nach Impfungen", sowohl bei den Auffrischungs- als auch den Erstimpfungen, sagt Kempf. Der Landkreis hat die Festhalle in Eggenfelden zum Impfzentrum umfunktioniert. Statt: "Hoch das Tanzbein!" heißt es nun: "Hoch den Ärmel!", und das durchaus nicht wenig: Halb über den Parkplatz schlängelt sich am Donnerstagmittag die Reihe der Impfwilligen. Dem Vernehmen nach warten die meisten auf ihre Boosterimpfung.
Noch öffnet das einzige Impfzentrum des Landkreises nur zweimal in der Woche, dazu kommen mobile Impfteams. Ab Montag hat das Zentrum fünfmal die Woche auf, täglich 500 Impfungen seien dann Kempf zufolge möglich. Der Landkreis bewirbt das Angebot unter anderem auf seiner Webseite und auf Facebook. Seit Montag ist dort aber die Kommentarfunktion abgeschaltet – die Seite wurde mit Falschbehauptungen geflutet.
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