Die USA sind von der Coronakrise besonders hart getroffen. Präsident Trump macht Politik wie eh und je - aber das Virus spielt nicht nach seinen Regeln. Ein Experte warnt: Das Land erlebt ein "soziales Desaster".
In den USA wütet das Coronavirus schlimmer als in allen anderen Ländern. "Dort wird es Opferzahlen geben, die heute noch unvorstellbar sind", glaubt David Sirakov, Direktor der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz.
Bislang sind in den Staaten mehr als 37.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus gestorben - Experten rechneten Anfang April mit insgesamt bis zu 240.000 Toten. An diesem Wochenende sorgt eine Studie mit Antikörper-Tests für neue Verunsicherung: Im kalifornischen Silicon Valley sind oder waren der Untersuchung zufolge 50 mal mehr Menschen infiziert als offiziell diagnostiziert.
Verantwortung für die gravierende Lage sieht USA-Experte Sirakov bei Präsident
Dazu kommen nach Ansicht des Politikwissenschaftlers strukturelle Probleme: Anfangs war in den Vereinigten Staaten überhaupt nicht getestet worden, da man nicht von einer Ausbreitung innerhalb des Landes ausging.
"Die Entwicklung eines eigenen Tests hat zusätzliche Zeit gekostet." Obwohl die Weltgesundheitsorganisation den Nationen Prüfverfahren zur Verfügung stellte, wollten die USA eigene Tests anwenden. Zunächst waren diese jedoch fehlerhaft.
USA: Debatte über Krankenversicherung
Das Gesundheitssystem verschärft die Situation: Anders als hierzulande gibt es in den USA kein einheitliches staatliches Versicherungssystem. Viele Amerikaner sind über ihren Arbeitsplatz krankenversichert, Eigenanteile sind hoch. Wenn sie die Anstellung verlieren - wie laut "Deutschlandfunk" mehr als 20 Millionen Menschen allein in den vergangenen vier Krisen-Wochen - verlieren sie oft auch ihren Versicherungsschutz.
Knapp 30 Millionen Menschen in den Staaten haben erst gar keine Krankenversicherung - das hat erhebliche Folgen für die Pandemie.
"Die Bedingungen im Gesundheitssystem und im Arbeitsrecht führen in dieser Zeit zu einem gesundheitlichen, versicherungstechnischen und sozialen Desaster", sagt Sirakov. In der Nachbereitung der Krise seien die Demokraten deswegen gut beraten, die Debatte über eine staatliche Krankenversicherung zu befeuern und sich verschiedene Modelle anzusehen.
"Es ist aber vermessen, davon auszugehen, dass alle das deutsche System übernehmen sollten", so der Experte. Sirakov ist sicher: "Die Republikaner werden trotz der aktuellen Erfahrung kein staatliches Gesundheitssystem wünschen, sondern privatwirtschaftliche Lösungen bevorzugen."
Präsident Trump im Schlingerkurs
Trump fährt seit Wochen einen Schlingerkurs: Erst leugnete er das Virus, spielte die Gefahren herunter. Als die Lage im März offenkundig bedrohlicher wurde, griff er doch durch: Mitte des Monats verhängte die Regierung einen Einreise-Stopp für Nicht-Amerikaner aus Europa.
Sie rief den Notstand aus und machte damit weitere 50 Milliarden Dollar Bundesmittel für den Kampf gegen die Pandemie frei. Am 17. März betonte Trump, er habe von Anfang an gewusst, dass die Sache "echt" und eine Pandemie sei.
Der Präsident ließ wichtige Zeit verstreichen, um die Wirtschaft vor den erheblichen Schäden eines Lockdowns zu bewahren. Gerade noch im Januar beim Weltwirtschaftsforum in Davos hatte Trump sich gelobt. Sein Land befinde sich "in der Mitte des größten Booms, den die Welt jemals gesehen habe". Doch dann kam Corona.
Ohnehin hört der US-amerikanische Präsident nur sehr widerwillig auf Wissenschaftler und Ärzte. "Er hat aus seiner populistischen Haltung heraus kein Interesse, sich von Experten etwas sagen zu lassen", sagt Sirakov. "Im Gegenteil: Expertentum gehört zu dem von ihm verhassten Establishment."
Trump versucht, die Realität umzuinterpretieren
Aus Sicht des Politologen ist Trump getrieben von der aktuellen Lage - gleichzeitig versuche er verzweifelt, die Realität umzuinterpretieren. "Ein Virus aber lässt sich nicht interpretieren, es basiert auf naturwissenschaftlichen Gesetzen. Man überlebt es - oder aber nicht."
Von seinem anfänglichen Leugnen will Trump längst nichts mehr wissen. "Wir werden nicht erleben, dass er seine Fehler eingesteht", sagt Sirakov. "Er versucht weiterhin, auf völlig abstruse Art, anderen die Schuld zu geben: den Medien, den Demokraten, den Gouverneuren, die nicht auf ihn hören - obwohl er sie, wie er behauptet, schon früh gewarnt habe, wie gefährlich das Virus ist."
Auch mit einer seiner jüngsten Entscheidungen gibt Trump die Verantwortung ab: Er stellt den Gouverneuren frei, Wirtschaft und öffentliches Leben in ihren Bundesstaaten ab dem 1. Mai wieder zu öffnen - oder eben nicht. Wenige Tage zuvor hatte er noch betont, dass diese Entscheidung allein bei ihm liege. Aber wenn in dieser heiklen Sache nicht er, sondern ein Gouverneur eine Fehleinschätzung trifft, kann Trump alle Schuld von sich weisen.
Trotzdem gibt er eine Richtung vor: Trump hetzt gegen strenge Vorgaben in demokratisch regierten Bundesstaaten und heizt sogar Proteste gegen Schutzmaßnahmen an.
Ausstieg aus internationalen Verpflichtungen
Auch dafür, dass das Coronavirus sein Land überhaupt erreicht hat, hat der Präsident einen "Schuldigen" gefunden: die Weltgesundheitsorganisation (WHO), der er Mitte April zumindest vorerst den Geldhahn zudrehte. Sein Vorwurf: Sie habe die Ausbreitung vertuscht. Nach dem Pariser Klimaabkommen oder dem Abrüstungsvertrag wieder eine internationale Verpflichtung, aus der sich die USA ausklinken wollen.
"Möglicherweise beschleunigt die aktuelle Lage den Niedergang der USA als Weltordnungsmacht. Aber grundsätzlich hat diese Entwicklung mit der Coronakrise wenig zu tun", findet Experte Sirakov. "Sie ist eine Folge der Politik seit 2017, also seit Donald Trump an der Macht ist."
Die Idee eines Amerikas als Weltordnungsmacht, die - nicht primär, aber auch - im Interesse ihrer Partner handele, sei für Trump nicht tragend. Das zeige schon der vom Präsidenten herausgegebene Slogan "America first".
"Er beschreibt Trumps Sicht auf die Weltpolitik - und somit auf die amerikanische Außenpolitik: Internationale Abkommen zählen wenig, man setzt stattdessen auf bilaterale Verträge, in denen die USA allein wegen ihrer Größe der stärkere Partner sind."
Wahl im Herbst: Chance für die Demokraten?
Überall auf der Welt stellt das Virus die Politik vor immense Herausforderungen. Regierungen stehen unter Druck - aber genau jetzt können sie auch Managementfähigkeiten beweisen. "Eigentlich ist eine Krise immer auch die Zeit der Exekutive. Aber Trump schafft es nicht, diese Krise für sich zu nutzen. Seine Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen, könnte ihm gehörig auf die Füße fallen", glaubt Sirakov.
"Der Druck wächst - und Trump denkt völlig verfrüht über eine Exit-Strategie nach", kritisiert der Politikwissenschaftler. Der Gedanke sei klar: Je später man versucht, zur Normalität zurückzukehren, desto später wird es mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt aufwärtsgehen - und desto näher rücken die Präsidentschaftswahlen im Herbst.
Auch wenn alle Augen auf Trump gerichtet sind und seine Zustimmungswerte in Umfragen trotz des desaströsen Krisenmanagements nach wie vor solide sind: "Die Coronakrise hat das Zeug, Trump ein großes Problem zu bereiten", sagt Sirakov.
Die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2018 war hoch. "Die Demokraten sind heute geschlossener als in den Vorjahren. Wenn sie jetzt gute Vorschläge zu Wegen aus der Krise liefern und ihre Wählerschaft mobilisieren können, dann hat ihr Kandidat - höchstwahrscheinlich Biden - gute Chancen."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit David Sirakov, Direktor der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz
- "Süddeutsche Zeitung" vom 18./19. April: "Wenn es schiefgeht, war es nicht der Präsident"
- Deutschlandfunk: Die USA und ihre zahlreichen Probleme beim Coronavirus
- Faz.net: Trump in der Coronakrise - vom Leugner zum Propheten
- Zeit.de: Politisiere niemals eine nationale Krise
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