Nachdem die Ämter der Hauptstadt zunehmend mit der Kontaktverfolgung von Corona-Fällen überfordert waren, haben sie Anfang der Woche auf eine neue Strategie umgestellt. Sie ähnelt der Cluster-Nachverfolgung, über die zuletzt bundesweit debattiert wurde. Der Reinickendorfer Bezirksstadtrat Uwe Brockhausen erläutert im Gespräch mit unserer Redaktion die Entscheidung und die Vorteile des neuen Systems.
Die Schlagzeilen häufen sich dieser Tage und sie kommen aus allen Ecken der Bundesrepublik: Zuletzt wurde etwa aus Berlin, Niedersachsen, Sachsen und Baden-Württemberg gemeldet, dass die Gesundheitsämter mit dem Management der Corona-Pandemie bei steigenden Infektionszahlen zunehmend überfordert sind. Besonders die vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgeschriebene, aufwändige Einzelfall-Nachverfolgungen aller Infektionsketten bereitet den Ämtern Probleme.
Das Problem ist bekannt.
"Ein Kontrollverlust ist nur noch abzuwenden, wenn wir sofort umsteuern: Weg von der Einzelfall-Nachverfolgung, hin zur retrospektiven Cluster-Aufarbeitung", sagte Lauterbach. Wenn die Ämter die Einzelfall-Nachverfolgung stoppten, würde sofort ausreichend Personal frei, um Clustermitglieder zu kontaktieren. Mit dieser Äußerung stieß Lauterbach eine Debatte über einen möglichen Strategiewechsel an, der er vor allem von Amtsärzten aus Berlin viel Zuspruch erhielt.
Berliner Gesundheitsämter wechseln Strategie
Und so gingen die Gesundheitsämter der Hauptstadt am Wochenanfang voran und machten einen ersten Schritt: Am Montag teilte das Amt Reinickendorf mit, dass es gemeinsam mit den anderen Gesundheitsämtern Berlins eine Allgemeinverfügung erlassen habe, die die Nachverfolgung "schneller und unkomplizierter" machen soll.
Wie der in Reinickendorf für Gesundheit zuständige Bezirksstadtrat Uwe Brockhausen (SPD) im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt, erleichtert diese Verfügung den Ämtern in mehrfacher Hinsicht die Arbeit. Erstens verordnet sie automatisch die Quarantäne für alle Bürger, die positiv auf das Corona-Virus getestet wurden, in engem Kontakt mit einer positiv getesteten Person waren oder Symptome haben und auf ihr Testergebnis warten. Vorher musste das Gesundheitsamt diese Menschen darüber informieren, dass sie sich in häusliche Isolation zu begeben haben.
Und die Verfügung greift noch weiter: Künftig dürfen die Ämter einen Teil ihrer Aufgaben bei der Kontaktnachverfolgung delegieren. Das Amt kann jetzt einen Schulleiter darüber informieren, dass ein Schüler positiv getestet wurde und anschließend der Schulleitung die Kontaktnachverfolgung und Quarantäneanweisung überlassen. Brockhausen ist hoffnungsvoll, dass dieser neue Ansatz ein guter Weg sei, "die Arbeit der Kontaktverfolgung schneller und besser zu machen."
Vorteile der Cluster-Nachverfolgung
Der Berliner Weg ähnelt damit Lauterbachs Forderung: Dieser hatte vorgeschlagen, dass die Gesundheitsämter im Rahmen der Cluster-Nachverfolgungen positiv Getestete systematisch nach dem Kontakten in den fünf Tagen vor der Ansteckung abfragen und dabei vor allem berücksichtigen, wo sie "eng mit vielen anderen Menschen zusammen waren, etwa in einer Schulklasse, bei einer Chorprobe, einer Feier, in einer Pflegeeinrichtung".
So müsse das Amt nach Lauterbachs Idee anschließend nicht allen Einzelkontakten nachjagen, sondern nur gezielt diejenigen kontaktieren, die an den Clustern beteiligt waren. Diese müssten sich dann für zehn Tage in Quarantäne gebeten, aus der sie sich nach fünf Tagen freitesten lassen können.
Berlin hat für sich nun einen Zwischenweg gewählt und Brockhausen erklärt, dass dieser keinesfalls im Widerspruch zur Linie des RKI stehe: "Wir geben ja nicht das Ziel auf, alle Kontaktpersonen zu finden, sondern wir delegieren nur einen Teil der Arbeit und werden so schneller und haben mehr Kapazitäten frei, um uns um die kritischen Fälle zu kümmern."
Brockhausen rechnet vor, dass laut Bundesvorschrift im Corona-Lagezentrum Reinickendorf 67 Personen in der Kontaktnachverfolgung arbeiten müssten. Aktuell sei ein Drittel mehr mit der Aufgabe befasst und trotzdem würden die Kapazitäten nicht ausreichen. "Wir gehen aktuell davon aus, dass ein Mitarbeiter einen ganzen Arbeitstag mit der Kontaktnachverfolgung einer positiv getesteten Person beschäftigt ist", sagt Brockhausen.
Mehr gutes Personal benötigt
Doch der simple Ruf nach mehr Personal, wie es ihn zuletzt etwa von Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) in einem Interview mit der "Rheinischen Post" gegeben hatte, greift laut Brockhausen zu kurz: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir vor allem gutes Personal brauchen: Menschen, die sich entweder in Behörden oder im medizinischen Bereich auskennen." Hilfskräfte, denen diese beiden Bereiche fremd seien, hätten mehr Schwierigkeit dabei, sich in die neue Tätigkeit einzuarbeiten und den Bürgern effektiv zu helfen.
Ob die neue Art der Kontaktverfolgung nun den Personalengpass lösen werde, ist noch nicht absehbar, weil sie erst seit Dienstag umgesetzt wird. "Ich habe noch keine Rückmeldungen aus dem Lagezentrum erhalten", sagt Brockhausen. Doch ob das Gesundheitsamt an seine Grenzen komme, hänge natürlich zusätzlich auch stark vom weiteren Verlauf des Infektionsgeschehens ab.
"Unabhängig von der Kontaktverfolgung würde ich mir wünschen, dass sich alle Bürger verantwortungsvoll an die Kontaktbeschränkungen halten", schließt Brockhausen. Denn: "Unser größtes Problem sind wenige Bürger, die mit ihrem unbedachten Verhalten alle anderen in Gefahr bringen." Je weniger solches Verhalten toleriert würde, desto erfolgreicher könne die Ausbreitung des Coronavirus eingegrenzt werden.
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Verwendete Quellen:
- Neue Osnabrücker Zeitung: Lauterbach fordert radikalen Strategiewechsel zur Corona-Eindämmung
- Berlin.de: Gesundheitsamt Reinickendorf erlässt Allgemeinverfügung zu Corona-Quarantäne-Maßnahmen
- Rheinische Post: „Der private Bereich ist der Treiber des Infektionsgeschehens“
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