• Fünf Monate sind seit der Flutkatastrophe im Ahrtal vergangen.
  • Nach dem Unglück mit 134 Toten in Rheinland-Pfalz fehlt vielen Menschen noch immer eine Perspektive.
  • Eine Reportage über Menschen, die weiterhin nach jedem Hoffnungsschimmer suchen.

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Schausteller Tim Himmes steht zwischen Kinderkarussell-Figuren in seinem Elternhaus und räumt einen alten Partykeller aus. Die Flut im Ahrtal hat ein riesiges Loch in die Wand gerissen. Es ist kalt. Der 21-Jährige fröstelt. Bernd Gasper blickt ein paar Kilometer weiter bei Schneegriesel auf die Stelle, wo sein von den Wassermassen verwüstetes Haus stand. "Ich weiß nicht, wie es weiter geht, und was ich machen soll", sagt der 69-Jährige und kämpft mit den Tränen. Zum ersten Mal in seinem Leben graut es ihm vor Weihnachten.

Den beiden völlig unterschiedlichen Männern aus dem Ahrtal fehlt rund fünf Monate nach der Flutkatastrophe mit 134 Toten in Rheinland-Pfalz eine Perspektive. Wie vielen anderen auch in dem so stark zerstörten und so idyllisch gelegenen Tal. Geld aus dem Wiederaufbaufonds von Bund und Ländern haben Himmes und Gasper noch nicht bekommen, wie sie sagen. Ihre Anträge hätten sie aber längst abgeschickt.

Bernd Gaspers älterer Bruder Gerd dagegen sieht "jetzt mal einen Hoffnungsschimmer, dass es weitergeht". Der 80-Jährige will mit der Innensanierung seines in den Rohbauzustand versetzten Hauses in Altenburg beginnen. Ein Fachmann hat ihm gerade gesagt, dass die Wände endlich trocken sind; und der Termin mit dem Bauleiter für die Planung steht. Nur intensiv Lüften muss Gerd Gasper noch mehrere Tage, um die restlichen Spuren von Schimmel ganz los zu werden. "Ich hoffe, dass keine Rückschläge kommen", sagt er bange.

"Viele Häuser stehen noch auf der Kippe", berichtet Gerd Gasper. Wegen der Öl-Verseuchung des Wassers wüssten viele Bewohner des Ahrtals noch immer nicht, ob sie abreißen müssen oder nicht. Die Proben aus dem Mauerwerk seines Hauses waren aber ok: keine Spuren von Öl.

Ein Bericht über 85 neue Bauplätze in der besonders von der Flut getroffenen Verbandsgemeinde Altenahr habe ihm Hoffnung gemacht, erzählt der jüngere Bruder Bernd. Aber die Gemeinde habe nichts davon gewusst und die zuständige Struktur und Genehmigungsdirektion (SGD) Nord nach mehreren Telefonaten einen Kommunikationsfehler eingeräumt. Es sei bloß eine Machbarkeitsstudie gewesen. "So kann man mit den Gefühlen der Menschen hier nicht umgehen", findet Bernd Gasper. Inzwischen gibt es aber ein Ergebnis: In der Verbandsgemeinde zu der sein Heimatdorf Altenburg gehört, sind nach der Studie 15 Flächen mit einer Größe von 28,4 Hektar für den Bau von Häusern und Wohnungen geeignet.

"Aber selbst wenn mir jemand ein Haus oder ein Grundstück anbieten würde, wovon soll ich das bezahlen?", fragt Gasper resigniert. Sein ganzes Geld habe er in sein Elternhaus gesteckt und es auf Vordermann gebracht. "In der Hoffnung, das ist meine Alterssicherung." Jetzt ist das Haus weg. Mit 69 Jahren und all den neuen Auflagen, die seiner Aussage nach nicht zu altersgerechtem, barrierefreien Wohnen passen, noch einmal zu bauen, ist für ihn eigentlich keine Lösung. Aber: "Das Nichtstun ist schrecklich. Ich bin dazu verdammt."

Wolfgang Ewerts baut in Insul zwei Wohnhäuser und sein Hotel wieder auf. Er ist über jeden Tag froh, an dem er viel zu tun hat. "Manche Tage sind hart. Wenn nichts läuft. Du kannst dann ja nicht auf dein Sofa zu Hause. Du hast ja keins." Aber auch er sieht einen Lichtblick: In seinem Bungalow wird gerade Parkett verlegt, bis Weihnachten ist er wieder bewohnbar, auch die Wohnung seines Sohnes im Nachbarhaus.

"Ich habe ja aber auch meine richtige Arbeit verloren", sagt er und zeigt auf das Hotel. "Da ist noch nicht viel passiert." Für den Neubau an der Stelle des abgerissenen Anbaus - seinem Elternhaus - wartet er noch immer auf die Baugenehmigung. Aber jetzt in der vierten Welle der Pandemie mit den 2G-plus-Auflagen in der Gastronomie würden nur wenig Gäste zum Essen kommen, sagt er. Corona habe aber schon vor der Flutkatastrophe stark auf das Geschäft und seine Einkünfte gedrückt. Nachts wache er immer wieder auf, erzählt Ewerts. "Dann mache ich den Fernseher an, sonst kann ich nicht mehr einschlafen."

Manuela Göken steht vor ihrem entkernten, mit rot-weißem Flatterband abgesperrten, ehemaligen Haus. "Mir fehlt das hier alles so, gerade jetzt in der Weihnachtszeit", sagt die 50-Jährige tieftraurig - und freut sich riesig, als ihr früherer Nachbar Ewerts zufällig vorbeikommt.

Nach 16 Jahren zur Miete in Insul hat Göken mit ihrem Partner rund 20 Straßenkilometer oberhalb des Dorfs neu angefangen, ein Haus von 1920 mit Garten gemietet und renoviert. Doch der Boden ist auch auf der Höhe nass. "Wir versinken im Morast", sagt sie erschöpft.

"Weihnachten war das Haus immer voll"

Als Mieterin habe sie 16.000 Euro Entschädigung bekommen. "Damit fängt man doch nicht neu an", sagt Göken verzweifelt. "Mir fehlen meine Möbel, mein Klavier." Aus rund 200 Quadratmetern Wohnfläche sind 70 geworden. "Wir haben eine große Familie, und Weihnachten war das Haus immer voll."

In der Adventszeit sei ihr Haus in Insul immer mit einer üppigen Weihnachtsdekoration aufgefallen, erzählt Göken wehmütig. Auch der Spaß daran fehlt ihr. Nach der Flut ist kaum Weihnachtsbeleuchtung im Tal zu sehen. In den Orten, in denen fast niemand mehr wohnt, ist es nach Sonnenuntergang vielmehr stockdunkel und beängstigend still.

Dagegen sollen die überall aufgestellten Weihnachtsbäume mit Lichterketten ein Zeichen setzen. "Lichter ins Ahrtal bringen und damit auch ein bisschen Hoffnung", beschreibt Ulla Dismon von der Verbandsgemeinde Altenahr das Ziel. Das verfolgten auch die Fahrer der beleuchteten Lastwagen und Traktoren, die am zweiten Adventswochenende bei einer Sternfahrt im Tal unterwegs waren. "Das waren Gänsehautmomente, sehr bewegend", sagt Dismon, die selbst im Flutgebiet lebt.

Die noch nicht ganz fertig gestellte Behelfsbrücke nahe Bernd Gaspers abgerissenem Haus in Altenburg, die zu einer auf einem Felsen gelegenen Kapelle führt, sollte eigentlich im Advent auch leuchten - wie ihre bei der Flut zerstörte Vorgängerin. Die Lampen habe ein Installateur aus dem Dorf auch besorgt, doch der Strom habe nicht wie versprochen bis Ende November gelegt werden können, sagt Gasper enttäuscht.

Geplant waren im Tal auch Adventsfeiern mit Glühwein, Plätzchen und dem Landespolizeiorchester. Doch wegen des verschärften Infektionsschutzes musste alles abgesagt werden. Der Opferbeauftragte Detlef Placzek hat nun wenigstens Plätzchen ins Ahrtal geschickt.

"Ich hätte aber nicht gedacht, dass das so schnell geht", sagt Bernd Gasper beeindruckt und zeigt auf das geebnete Ahr-Ufer. Er fügt jedoch hinzu: "Was hier gemacht wird, ist ein Verband. Darunter ist eine Wunde und die eitert."

Vom Versuch, gute Laune zu verbreiten

Auch Himmes muss warten: Auf einen Verwandten, der hilft, Flur und Küche zu renovieren, und auf das Gutachten für den Wiederaufbaufonds. Auf den Mann mit der Rüttelplatte, um aus dem früheren Vorgarten eine ebene Fläche zu machen, und auf den Kumpel mit dem Mini-Bagger, "um das Loch am Kanal wieder zuzumachen".

Trotzdem versucht er, gute Laune zu verbreiten. "Wenn alle anderen hier schon immer so gedrückt rumlaufen, kann ich das nicht auch noch." Himmes ist stolz auf seinen eigenen Wohnwagen, den er verschiedenen Spendern verdankt. Wann er darin aber wieder von Rummel zu Rummel ziehen kann, ist offen. Das Kinderkarussell ist kaputt, die Losbude und mehrere Autos in der Flut weggeschwommen. Vor der Katastrophe hatte Corona schon die Geschäfte verhagelt und sein Vater einige Buden abgemeldet.

Weihnachten will Himmes mit einem Teil seiner Großfamilie - "Ich habe sieben Schwestern und zwei Brüder" - in seinem Elternhaus feiern. Das Wohn- und Esszimmer hat er bereits wieder in Stand gesetzt, gestrichen und eingerichtet. Und seiner kleinen Schwester hat er versprochen, den Partykeller bis Silvester fertig zu machen. "Aber da ist ja noch dieses riesige Loch in der Wand."  © dpa

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