- Der Präsident des Bundeskriminaltamtes gibt Einblicke, wie die Invasion der Ukraine durch Russland die Gefahrenlage in Deutschland verändert hat.
- Die Polizei genieße in Deutschland seit Jahren großes Vertrauen, was die Polizeien sich immer wieder neu verdienen müssten.
- Im Interview spricht er darüber, warum elf Polizisten einen 16-Jährigen nicht kampfunfähig machen konnten, ohne ihn zu töten.
Wie bewerten Sie die Lage der Kriminalität in Deutschland?
Holger Münch: Seit 2016 verzeichnen wir sinkende Fallzahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik, im vergangenen Jahr haben wir mit knapp fünf Millionen Straftaten einen neuen vorläufigen Tiefstwert erreicht. Zugleich verändert sich die Kriminalität: Gewalt- und Diebstahlsdelikte gehen zurück, während sich die Cybercrime-Fallzahlen seit 2015 mehr als verdoppelt haben. Diese Trends wurden durch die Corona-Pandemie sicherlich verstärkt, werden uns aber vermutlich langfristig begleiten.
Sorge bereiten die starken Anstiege bei der politisch motivierten Kriminalität und die Auswirkungen von Hass und Hetze im Netz. Insgesamt sind wir mit veränderten, oft hochprofessionell und digitalisiert agierenden Täterstrukturen und mit neuen kriminellen Geschäftsmodellen konfrontiert – ganz zu schweigen von einer enorm wachsenden Menge an digitalen Daten, aus denen sich immer häufiger sehr große und komplexe Ermittlungen ergeben – etwa im Bereich der Organisierten Kriminalität oder der sexualisierten Gewalt an Kindern.
Wie hat der Angriff Russlands auf die Ukraine die Gefahrenlage in Deutschland verändert?
Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Bedrohung durch Cybercrime eine hochaktuelle geopolitische Bedeutung erlangt. Wir haben gesehen, dass sich Cyber-Gruppierungen mit den Kriegsparteien solidarisieren, Schadsoftware eingesetzt wurde oder DDoS-Angriffe verübt wurden. Hiervon waren verschiedene Einrichtungen und staatliche Stellen in der Ukraine, aber auch in anderen europäischen Ländern betroffen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen kriminellen und möglicherweise staatlich gesteuerten Cyber-Gruppierungen. Die Frage nach einer erfolgreichen Abwehr von Gefahren durch Cyberangriffe hat daher auch für die Polizei zunehmende Bedeutung.
Und womit beschäftigt sich die Polizei hinsichtlich Russland und der Ukraine noch?
Unter anderem mit der Durchsetzung der Sanktionen gegen Russland und der Aufklärung von möglichen Kriegsverbrechen. Wir vernehmen etwa in Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern Augenzeugen und Opfer dieser Verbrechen, da ihre Aussagen für Strafverfolgungsbehörden von immenser Bedeutung sind. Befürchtungen, dass Täter die vulnerable Situation der Menschen in der Ukraine und die Fluchtbewegungen für kriminelle Zwecke ausnutzen könnten, haben sich bisher glücklicherweise nicht in größerem Umfang bestätigt.
Der Personalmangel in Justiz und Polizei führt dazu, dass Strafverfolgung auch schon mal frühzeitig eingestellt wird. Wie entwickelt sich das, wenn jetzt auch noch Bedrohungen aufgrund des Kriegs in der Ukraine dazukommen?
Eine wirksame Strafverfolgung setzt in der Tat ausreichendes Personal bei allen beteiligten Stellen voraus. Da hat sich in den vergangenen Jahren schon viel getan! Daneben ist für unseren Erfolg entscheidend, wie wir arbeiten. Wenn sich die Kriminalität zunehmend digitalisiert und immer stärker grenz- und phänomenübergreifend vernetzt, dann müssen auch die Polizeien von Bund und Ländern stärker digitalisiert und vernetzt zusammenarbeiten. Und dazu gehören natürlich auch entsprechende rechtliche Instrumente vor allem im digitalen Raum. Ein Beispiel ist die Mindestspeicherfrist für IP-Adressen. Für die Identifizierung von im Netz oft anonym agierenden Tätern ist diese "digitale Spur" von herausragender Bedeutung.
Manchen Leuten wird angst und bange, wenn sie an unsere Polizei denken. Elf Polizisten schaffen es nicht, einen 16-Jährigen kampfunfähig zu machen, ohne ihn zu töten. Was läuft da schief?
Die Polizei genießt in Deutschland seit Jahren großes Vertrauen, das hat etwa die kürzlich veröffentlichte Studie "Sicherheit und Kriminalität in Deutschland 2020 (SKiD)" erneut gezeigt. Das müssen wir uns aber immer wieder aufs Neue verdienen! Wenn bei einem Polizeieinsatz Menschen zu Schaden oder gar ums Leben kommen, ist das immer furchtbar. Dann muss akribisch untersucht werden, wie es dazu kommen konnte und ob ein solcher Ausgang vermeidbar gewesen wäre.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Polizistinnen und Polizisten sind in der Ausübung ihres Berufs immer wieder mit gefährlichen Situationen konfrontiert, die sich manchmal ohne den Einsatz von körperlicher Gewalt nicht auflösen lassen. Hinzu kommt leider eine wachsende Zahl von Übergriffen gegen Beamtinnen und Beamte bis hin zu tödlichen Angriffen. Polizistinnen und Polizisten in Deutschland werden für solche Situationen hervorragend ausgebildet.
Sie wissen, dass der Einsatz von körperlicher Gewalt, gar der Einsatz von Waffen oder Schusswaffen, nach Maßgabe der gesetzlichen Regelungen hierzu immer nur das letzte Mittel sein kann – in einer akuten Gefahrensituation aber auch schnell und konsequent gehandelt werden muss, um weiteren Schaden abzuwenden. Das sind schwierige Entscheidungen, die oft in wenigen Sekunden getroffen werden müssen.
Fällen von Polizeigewalt wird auch von der Polizei nachgegangen. Ist das nicht eine fragwürdige Fehlerkultur?
Was wäre denn die Alternative? Strafrechtliche Ermittlungen sind in einem Rechtsstaat Aufgabe der Staatsanwaltschaften, die die Polizei mit den Ermittlungen beauftragen, diese durchzuführen. So können Spuren und belastende oder entlastende Hinweise und Beweise gerichtsfest erhoben und ausgewertet werden und im Falle eines nachweislichen Fehlverhaltens auch zu strafrechtlichen Konsequenzen kommen. Die ermittelnden Kolleginnen und Kollegen werden in solchen Fällen genauso professionell und neutral vorgehen wie in jedem anderen Ermittlungsverfahren auch – und sie werden sich bewusst sein, dass ihre Arbeit unter besonderer Beobachtung steht.
Um dem potenziellen Vorwurf von Interessenkonflikten frühzeitig entgegenzutreten, werden im Übrigen Ermittlungen in solchen Fällen zumeist durch andere Polizeibehörden geführt, nicht durch die betroffene Polizeibehörde selbst.
Manche fordern Ombudsstellen mit den nötigen Befugnissen für die Aufklärung von Polizeigewalt. Oder dass die Bodycams verpflichtend im Einsatz eingeschaltet werden.
Wenn Polizeibeamtinnen und -beamte Grenzen überschreiten, muss dies konsequent verfolgt und aufgeklärt werden. Bürgerinnen und Bürger haben auch heute schon die Möglichkeit, sich bei einem beobachteten Fehlverhalten an die Dienststelle oder auch eine Staatsanwaltschaft zu wenden.
Was Bodycamps angeht, können diese grundsätzlich ein sinnvolles Instrument sein, um für alle beteiligte Seiten zu deeskalieren. Wie dies ausgestaltet wird, liegt aber in der Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer.
Auch in der Polizei gibt es Fälle von Rechtsextremismus. Manche Polizisten sind Mitglieder der AfD. Wie bewerten Sie das?
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass wir unverrückbar auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, für die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einstehen und diese auch selbst leben. Bei mehr als 300.000 Beschäftigten der Polizei in Deutschland werden wir Fehlverhalten allerdings nie vollkommen ausschließen können. Umso wichtiger ist es, dass wir jedem einzelnen Verdachtsfall mit aller Konsequenz nachgehen.
Für die Mitgliedschaft in politischen Parteien gilt, dass Beamtinnen und Beamte sich politisch engagieren, ein Mandat anstreben und auch ihre Meinung kritisch äußern dürfen, solange sie dies außerhalb ihres Dienstes tun, das Engagement nicht für eine verfassungswidrige Organisation erfolgt und sich die Betätigung nicht auf verfassungsfeindliche Ziele erstreckt. Und auch außerhalb des Dienstes gilt: Vertreten sie Positionen, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, ist die Grenze des Zulässigen überschritten.
Manche Querdenker fordern offen einen Systemumsturz. Wie hoch ist die Gefahr durch sie wirklich? Sind wir dagegen gewappnet?
Die sogenannte Querdenker-Szene ist eine heterogene Mischszene, die von der bürgerlichen Mitte bis hin zum rechten oder linken Rand reicht und eine Vielzahl von Menschen, Weltanschauungen und Intentionen vereint. Wir beobachten bei einem gewissen Teil der Protestierenden ein hohes Aggressionspotential, insbesondere gegenüber Einsatzkräften, Journalistinnen und Journalisten oder Amts- und Mandatsträgerinnen und -trägern und in Teilen auch staatskritische bis staatsfeindliche Haltungen. Umso wichtiger ist es, die roten Linien zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit einerseits sowie strafrechtlich relevantem Verhalten andererseits immer wieder klar zu benennen und staatlicherseits auch durchzusetzen. Das tun wir im Rahmen unseres polizeilichen Auftrags.
Anhaltspunkte für eine durchgängige Gewaltbereitschaft, flächendeckende Radikalisierung oder gar eine erfolgreiche extremistische Unterwanderung der Szene gibt es bislang nicht. Jüngste Forschungsergebnisse des vom BKA koordinierten MOTRA-Verbunds zeigen aber: Die Corona-Protestbewegung ist politisch-weltanschaulich-ideologisch auffällig stärker rechts als links ausgerichtet.
Derzeit gibt die Coronapolitik nicht so viele Angriffspunkte für Querdenker. Wie positioniert sich diese verfassungsfeindliche Gruppierung zu Russland und dem Angriff auf die Ukraine?
Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind in der Tat ein verbindendes Element der Szene, das aktuell an Bedeutung verliert – auch wenn abzuwarten bleibt, wie sich das Protestgeschehen im weiteren Verlauf der Pandemie noch entwickelt. Aufgrund der eben angesprochenen staatskritischen bis staatsfeindlichen Haltungen ist allerdings davon auszugehen, dass sich die Szene künftig auch anderen Themen zuwenden wird – möglicherweise auch im Kontext der wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs in Deutschland.
In Ansätzen ist das bereits erkennbar, die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder beobachten die weitere Entwicklung sehr genau. Legitime Protestveranstaltungen und Versammlungen stehen hier ausdrücklich nicht im Fokus der polizeilichen Beobachtung. Aber bei Überschreitung einer strafbewehrten Schwelle werden die Sicherheitsbehörden konsequent einschreiten. Einzuschätzen, ob Teile dieser Szenen dem russischen Narrativ blindlings folgen, obliegt dem Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes.
Eine Impfärztin hat sich aufgrund von Hatespeech im Netz und wegen vieler Drohungen selbst getötet. Haben die Behörden da versagt?
Ich möchte den konkreten Fall nicht aus der Ferne bewerten. Klar ist: Wir haben ein Problem mit Hass und Hetze im Netz. Wir sehen immer wieder, dass verbale Gewalt im digitalen Raum auch im realen Leben massiven Schaden anrichten kann. Dagegen müssen wir entschlossen vorgehen. Deshalb haben wir unter anderem die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) eingerichtet und arbeiten mit unseren Partnern in Justiz und Zivilgesellschaft intensiv daran, Straftaten im Netz nicht nur zu löschen, sondern auch strafrechtlich zu verfolgen.
Eine Recherche von Jan Böhmermann hat genau das auf den Prüfstand gestellt. In dieser Recherche wirkt es so, als würden nur wenige Polizeien intensiv daran arbeiten, Straftaten im Netz auch strafrechtlich zu verfolgen. Was sagen Sie dazu?
Die Ergebnisse der Böhmermann-Recherche sind ernüchternd: 16 Dienststellen haben die gleiche Anzeige gar nicht, parallel oder jede für sich bearbeitet und sind zu unterschiedlichen Resultaten gelangt. Insgesamt 18 Staatsanwaltschaften waren beteiligt. Das Experiment hat gezeigt, wie dringlich eine digital vernetzte, ressourcenschonende Zusammenarbeit im polizeilichen Verbund ist.
Das BKA bietet hierfür als Zentralstelle der deutschen Polizei nun eine neue Lösung an, die in modernen Prozessbeschreibungen als Deconfliction bezeichnet wird. Dazu nutzen wir eine Entwicklung der Digitalisierung, die für die Polizei von großem Wert ist: Eindeutigkeit. E-Mail-Adressen, IP-Adressen, User-Accounts: Diese Elemente der digitalen Welt haben eine Gemeinsamkeit – es gibt sie nur einmal. Solche digitale Spuren können jetzt frühzeitig und einfach miteinander abgeglichen werden, sodass die Erfolgschancen steigen, im Netz anonym agierende Täter zu identifizieren und gleichzeitig kann so doppelte Arbeit vermieden werden.
Wir gehen in der digitalen Welt also ähnlich vor, wie in der analogen Welt, wir gleichen Spuren gegeneinander ab. Mit dem Unterschied, dass wir hier bereits Fragen mit Fragen abgleichen, um früh festzustellen: Arbeitet noch jemand an einem gleichen oder gar am selben Fall, gibt es mögliche Bezüge, weil eine andere Dienststelle zum Beispiel zur selben Facebook-ID oder sogar zu demselben Post ermittelt?
An wen muss ich mich wenden, wenn ich im Internet bedroht oder beleidigt werde?
Bitte erstatten Sie immer Anzeige bei Ihrer örtlich zuständigen Polizei oder bei einer der Online-Wachen der Polizei. Das ist wichtig, damit solche Straftaten polizeilich erfasst und strafrechtlich verfolgt werden können.
Darüber hinaus können Sie Ihre Hinweise auf Hasspostings auch verschiedenen Meldestellen in den Ländern, beispielsweise der Meldeplattform "HessengegenHetze" des CyberCompentenceCenters (H3C) des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport oder der Meldestelle "REspect!" der Jugendstiftung beim Demokratiezentrum Baden-Württemberg, mitteilen.
Diese beiden Meldestellen arbeiten bereits eng mit der ZMI im BKA zusammen, weitere werden hinzukommen. Die ZMI im BKA prüft die von dort angelieferten Meldungen hinsichtlich einer strafrechtlichen Relevanz sowie eventueller Gefährdungsaspekte, stellt nach Möglichkeit den mutmaßlichen Verfasser des Posts fest und übermittelt im Erfolgsfall den Sachverhalt an die örtlich zuständige Strafverfolgungsbehörde in den Ländern. Ebenso wird hierüber eine zeitnahe Löschung des strafbaren Inhaltes bei dem Anbieter der jeweiligen Webseite oder Plattform angestoßen.
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