- Im südbrasilianischen Porto Alegre wurde der Schwarze João Alberto Silveira Freitas von Sicherheitsleuten brutal zusammengeschlagen. Er starb an den Folgen.
- Medien schrieben daraufhin von Brasiliens "George Floyd-Moment".
- Tatsächlich gibt es entgegen dem Mythos der "Rassendemokratie" zahlreiche Belege für strukturellen Rassismus in Brasilien.
- Dabei sind schwarze Brasilianer eine Mehrheit, die wie eine Minderheit behandelt wird.
Brasilien ist ein Land der großen Gegensätze. Der österreichische Romancier Stefan Zweig schrieb Anfang der 1940er-Jahre in seinem Buch "Brasilien – Land der Zukunft": "Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, dass alle diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben und trotz ihre individuellen Herkunft einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um möglichst rasch und möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue einheitliche Nation zu werden."
Rund 81 Jahre nach diesen wohlwollenden Worten des Exilanten wurde vor wenigen Tagen im südbrasilianischen Porto Alegre der 40-jährige Schwarze João Alberto Silveira Freitas von Sicherheitsleuten eines Supermarktes so brutal zusammengeschlagen, dass er kurz darauf stirbt. Medien schrieben daraufhin von Brasiliens "George Floyd-Moment". Wie passt das zusammen?
Brasiliens jahrhundertelanger Kampf mit dem Rassismus
So plötzlich, wie sich die Wut der afro-brasilianischen Bevölkerung zu entladen scheint, kommt das natürlich nicht. Rassismus, insbesondere institutioneller und struktureller Art, ist in Brasilien ebenso Alltag wie in den USA, deren "Black Lives Matter"-Bewegung auch auf Brasilien gewirkt haben dürfte.
Der Versuch von Vize-Präsident General Hamilton Mourão, die Situation mit dem Satz "In Brasilien gibt es keinen Rassismus" zu beruhigen, scheiterte.
Der Tod von Joao Alberto ereignete sich einen Tag vor dem "Tag des Schwarzen Bewusstseins". Ein Datum, das zufällig auf den Todestag von Zumbi dos Palmares fällt. Zumbi wurde in einem Quilombo geboren. So nennt man die Siedlungen, in denen sich ehemalige Sklaven zusammenfanden und eine autonome Lebensform praktizierten. Er war im 17. Jahrhunderts führender Kopf im Widerstand gegen die Sklaverei. Noch heute gilt er als Ikone der schwarzen Bevölkerung.
Doch was gilt in Brasilien als schwarze Bevölkerung? Das brasilianische Statistikbehörde Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) unterschied beim letzten Zensus im Jahr 2010 zwischen weißen, schwarzen (preto), braunen (pardo), gelben (amarelo) und indigenen Bevölkerungsteilen. Schwarz und braun werden, da sie beide afro-brasilianischen Ursprung kennzeichnen, üblicherweise unter dem Label "farbiger" (negro) Bevölkerungsanteil subsummiert. So bezeichnen sich laut der Studie (Pnad, Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios) 56,1 Prozent der brasilianischen Gesellschaft selbst als schwarz. Menschen mit afro-brasilianischen Wurzeln sind in Brasilien keine Minderheit. Sie sind eine Mehrheit, die wie eine Minderheit behandelt und benachteiligt werden.
Ein Problem, viele Symptome
Tatsächlich gibt es einige Kennzahlen, die die strukturelle Benachteiligung eindrucksvoll belegen. Beispiel Verdienst: Schwarze sind im informellen Sektor deutlich stärker vertreten als weiße Brasilianer. Ihr durchschnittliches Monatseinkommen liegt mit 934 Reais (etwa 140 Euro) bei etwa der Hälfte dessen (1.846 Reais), was Weiße verdienen. Dafür ist der Anteil Schwarzer an den oberen zehn Prozent der Bestverdienenden mit 27,7 Prozent unterrepräsentiert.
Unterrepräsentiert sind Schwarze auch an den Schaltstellen der Macht, in Politik und Justiz. Auf Bundesebene sind 24,4 Prozent der Abgeordneten schwarz, auf Landesebene 28,9 Prozent und auf kommunaler Ebene 42,1 Prozent.
Bei der jüngsten Kommunalwahl im November 2020 wählten die Brasilianer insgesamt 57.608 Stadträte (vereadores). Von diesen sind 31.053 weiß, 22.363 braun, 3.569 schwarz, 233 gelb und 182 indigenen Ursprungs.
Praktisch kaum anzutreffen sind sogenannte Negros in der Justiz. Gerade 1,3 Prozent der Juristen bei den obersten Gerichten sind Schwarze und 7,8 Prozent Pardos, also braun. Und gerade einmal drei schwarze Richter schafften es überhaupt in den Obersten Gerichtshof. Zuletzt war dies Joaquin Barbosa von 2003 bis 2014.
Besonders exponiert im negativen Sinn sind Schwarze, wenn es um das Thema Gewalt geht. 60.000 Menschen sterben pro Jahr in Brasilien einen gewaltsamen Tod, weist der Atlas der Gewalt aus 75,5 Prozent der Angriffsopfer sind nicht weißer Hautfarbe. Deutlich überrepräsentiert ist dabei die Alterskohorte von 20 bis 29 Jahren unter männlichen Vertretern dieser Gruppe. Die Chancen eines jungen schwarzen, Opfer eines gewaltsamen Todes zu werden, ist 2,5 Mal so hoch wie die eines weißen jungen Mannes.
Oft geht diese Gewalt vonseiten der Polizei aus. Der Gewalt-Atlas spricht von 4.154 Morden alleine im Bundesstaat Rio de Janeiro. Das ist im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang, stark gestiegen ist jedoch die Zahl der Getöteten, die durch Polizeikugeln sterben. 40 Prozent, rund 1.800 Fälle, gab es zu verzeichnen. 75 Prozent der Getöteten waren schwarz - Rassismus ist auch ein Problem innerhalb der Polizei.
Eskalation der Gewalt in den Favelas
Das bekam auch die Stadträtin Marielle Franco zu spüren. Die schwarze Politikerin aus der Favela Maré hatte öffentlich die Polizei bezichtigt, verantwortlich für den Tod einer Gruppe afro-brasilianischer Jugendlicher gewesen zu sein. Wenige Tage später war sie tot.
Ein Killerkommando der Milizen hatte sie auf offener Straße mit 13 Schüssen hingerichtet. Milizen sind paramilitärische Gruppierungen, die – ähnlich wie die Drogenbanden – Stadtviertel beherrschen und als Schutzmacht auftreten.
Oft sind sie sie eng mit Polizei und Lokalpolitik verbandelt. Wer den Mord letztlich in Auftrag gegeben hatte, ist nach wie vor ungeklärt.
Die Lage für Schwarze, insbesondere in der Politik, ist gefährlich. Befeuert wird dies auch durch die aggressive Rhetorik der rechten Regierung von Jair Bolsonaro. Im Wahlkampf hatte er angekündigt, die Gewalt in den Favelas zu bekämpfen. Zugleich hatte er Schwarze bei einer Wahlkampfveranstaltung – in einem jüdischen Sportclub – mit Tieren verglichen.
Wilson Witzel, der über die selbe Liste wie Bolsonaro zum Gouverneur von Rio gewählt worden war (und inzwischen wegen Korruptionsvorwürfen des Amtes enthoben wurde), fuhr einen aggressiven Kurs. So ließ er Hubschrauber über Favelas kreisen, die wahllos herunterschossen – alles unter dem Vorwand der Verbrechensbekämpfung. Die Einsätze wurden medial mit großer Berichterstattung und spektakulären Bildern ausgeschlachtet.
Auch bei Gewalt gegen Frauen führen nicht-weiße Opfer die Statistiken deutlich an. Bei Femiziden, also gezielten Morden an Frauen, zählen zwei von drei Opfer (61.62 Prozent) zur Bevölkerungsgruppe der Negros.
Und die Gewalt steigt überproportional an: Von 2007 bis 2017 stieg die Zahl der Morden an schwarzen Frauen um 29,9 Prozent, während die Zahl im selben Zeitraum bei weißen Frauen nur um 4,5 Prozent anstieg.
Der Mythos von der bevorstehenden "Rassendemokratie"
Das eingangs von Stefan Zweig geschilderte Bild war mutmaßlich auch nicht richtig. Aber diese Darstellung entsprach der damaligen offiziellen Sichtweise. Mit der nationalen Einigung in den 1930er Jahren wurde der Mythos der "Rassendemokratie" geschaffen – also die Vorstellung, dass Weiße, Schwarze und Indigene angeblich harmonisch zusammenleben, erklärt der brasilianische Philosoph Silvio Almeida der Berliner Tageszeitung "taz" in einem Interview. "Dieser Diskurs verschleiert jedoch die strukturelle Gewalt."
Diese Gewalt werde von der Gesellschaft naturalisiert, sagt er. "Gewalt gegen schwarze Frauen schockiert niemanden." Almeida vergleicht das mit dem Machismo, ein weiteres Kennzeichen der brasilianischen und vieler lateinamerikanischer Gesellschaften. "Das Land hat sich an den Tod von schwarzen Menschen gewöhnt", so Almeida in der "taz".
Vor allem in Wirtschaft und Politik sieht Almeida strukturellen Rassismus als einen unbewussten Prozess. "Alle beklagen, die großen finanziellen Lasten tragen zu müssen", sagt er. "Allen voran die Arbeitgeber." In Wirklichkeit werde diese Last zum größten Teil von schwarzen Frauen getragen. Da diese oft mit schwierigen Lebenssituationen zu kämpfen haben, werde die Ungleichheit wieder und immer wieder reproduziert – ohne eine Aussicht eine Besserung zu erreichen. Schlechte Bildung, schwierige räumliche Lebensumstände, schlechtere Versorgung und ein wesentlich höherer Aufwand, den Alltag zu bestreiten, sind entscheidende Faktoren dafür, dass diese Ungleichheit kaum durchbrochen werden kann.
Brasiliens offene Wunden
Almeida beschreibt zwei offenen Wunden der brasilianischen Gesellschaft: Die nicht aufgearbeitete Militärdiktatur und die Geschichte der Sklaverei.
Knapp fünf Millionen Menschen wurden im Laufe der Jahrhunderte als billige Arbeitskräfte aus Afrika nach Brasilien verschleppt. Zum Vergleich: In den USA waren es "nur" 500.000. Entweder, um auf den Fazendas der Großgrundbesitzer zu schuften, oder um gleich über die Karibik weiterverkauft zu werden.
Brasilien war das letzte Land des Kontinents, das 1889 - nach jahrzehntelanger Diskussion - die Sklaverei abschaffte. Das Lei Aurea, das goldene Gesetz, unterzeichnet von Prinzessin Isabel, besiegelte offiziell dieses dunkle Kapitel der brasilianischen Geschichte.
"Der strukturelle Rassismus ist allgegenwärtig – von intimen, persönlichen Beziehungen bis zu den Institutionen wie Bildungseinrichtungen oder Justiz", erklärt Leinimar Pires. Die schwarze Sprachlehrerin ist Menschenrechtlerin und Feministin. Mit ein paar gleichgesinnten braut sie seit einiger Zeit das "Bier der Kämpferinnen".
Jede Sorte ist einer schwarzen Menschenrechtlerin gewidmet. Wolle man über Rassismus sprechen, dann sei das wie eine Zusammenfassung der Geschichte Brasiliens, fügt sie hinzu.
Ein Beispiel, das die Standpunkte von Almeida und Pires illustriert: Im Vorfeld der Olympischen Spiele stießen Bauarbeiter 2011 bei Aufhübschungen der heruntergekommenen Hafengegend Gamboa auf eine alte Anlegestelle. Hier, an den Cais do Valongo, betrat ein Großteil der Sklaven erstmals brasilianischen Boden. Die Stadtväter hätten die Stelle am liebsten gleich wieder zugeschüttet, doch die Unesco machte dem einen Strich durch die Rechnung, erklärte das Areal zum Weltkulturerbe.
Manche erreichten das Festland auch nicht leben. Die sogenannten "pretos novos", die neuen, frischen Schwarzen, wie man die damals nannten, die die harte Überfahrt nicht überlebten, wurden mit Karren auf eine wenige Meter entfernte Freifläche gekarrt, weggekippt, zugescharrt und vergessen.
Hunderte Jahre später stieß man bei Renovierungsarbeiten an einem Haus, das inzwischen auf der Fläche der heutigen Rua Pedro Ernesto 32/34 gebaut worden war, auf Knochen. Sehr viele Knochen. Heute ist der Ort ein Museum, das stets ums wirtschaftliche Überleben kämpfen muss.
Die genaue Opferzahl lässt sich nur anhand alter Registrierungsbücher hochrechnen. Ein Buch aus den Jahren 1824 bis 30 listet 6.000 Tote auf. "Wir wissen, dass der Friedhof rund 60 Jahre existierte", sagt Merced Guimarães, die das Museum leitet.
6.000 Tote in einem Buch, 1.000 pro Jahr – wäre der Friedhof immer so genutzt worden, hieße das, im Untergrund der rund 1.000 Quadratmeter großen Fläche lägen die sterblichen Überreste von 60.000 Sklaven.
"Gehen wir mal von gut der Hälfte aus", sagt Guimarães. Nicht nur deshalb spricht sie, was das Schicksal der Sklaven in Brasilien betrifft, ganz bewusst von einem Holocaust.
Arbeitsbedingungen wie zu Zeiten der Sklaverei
Bis zum heutigen Tag müssen Menschen etwa in der Landwirtschaft wie Sklaven schuften. Recherchen von Journalisten enthüllten Verstrickungen des Autokonzerns VW und dessen großen Rinderfarmen in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Die österreichische Organisation Global 2000 und die christliche Initiative Romero beschrieben 2015 in der Studie mit dem Titel "Ausgepresst" die Arbeitsbedingungen rund um die Orangensaft-Produktion im Bundesstaat São Paulo: Niedrigste Löhne, keinerlei Rechte, Produktivitätsdruck, extreme Arbeitszeiten, kaum oder gar kein Arbeitsschutz. Kurz: Wer sich den Regeln nicht unterwirft, verliert seinen Job und damit seine Existenz.
Grundlage der Studie waren Gespräche mit Arbeitern, Gewerkschaftern und Anwälten, die Arbeiter vertreten. Die Orangenindustrie ist beileibe nicht der einzige Wirtschaftszweig, in dem derlei Praktiken Anwendung finden.
Geändert hat sich auch seither nicht viel. Und: Hinweisschilder auf das Museum Dos Pretos Novos oder Hinweise in offiziellen Tourismusbroschüren in Rio finden sich auch nicht, auch wenn das noch recht neue Aquarium Aqua Rio nur einen Steinwurf entfernt liegt.
Verwendete Quellen:
- Kommunalwahlen 2020
- Atlas der Gewalt Brasilien
- Jus.com: Struktureller Rassismus nach Silvio Almeida
- YouTube Silvio Almeida über Strukturellen Rassismus
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.