- Hohe Infektionszahlen, weniger schwere Verläufe. Afrika hat offiziell geringere Todeszahlen während der Corona-Pandemie zu verzeichnen als die meisten europäischen Länder.
- Die Impfquote liegt allerdings weit zurück.
- Wie passt das alles zusammen? Und wie will der Kontinent bei den Impfungen aufholen?
70 Prozent der Weltbevölkerung soll nach den Forderungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis Mitte dieses Jahres vollständig geimpft sein. Klingt machbar - aus europäischer Perspektive.
Doch blickt man weiter südlich nach Afrika, ist das ein fernes Ziel. Aktuellen Schätzungen zufolge sind gerade einmal 13 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner vollständig geimpft, 19 Prozent haben einen unvollständigen Impfschutz.
Selbst im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung ist das sehr wenig. Die Internetseite "Our World in Data" gibt die weltweite Impfquote mit derzeit 56 Prozent an.
Für die Nichtregierungsorganisation Amnesty International gibt es zwei Hauptschuldige für den Rückstand Afrikas bei den Impfungen: Auf der einen Seite sind das die Pharmafirmen um Biontech/Pfizer und Moderna, die wirksame Impfstoffe entwickelt haben. Auf der anderen Seite werden die reichen Länder des Nordens genannt.
"Während Länder mit hohem Einkommen Impfstoffe horteten und die Versorgung ärmerer Teile der Welt rücksichtslos erstickten, spielten Pharmaunternehmen eine entscheidende Rolle in dieser sich ausbreitenden Menschenrechtskatastrophe – und ließen die Bedürftigsten allein", sagt Rajat Khosla, Senior-Direktor für Forschung, Recht und Politik bei Amnesty International.
Wie sich die Corona-Lage in Afrika darstellt
Trotz der niedrigen Impfstoff-Quote verlief die Corona-Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent bisher weniger tödlich als in Europa. Ein Hauptgrund dafür: Die demographische Situation ist in Afrika eine völlig andere.
In Deutschland sind 20,3 Prozent der Menschen über 65 Jahre alt, in Österreich 19,5 Prozent und in der Schweiz 18,8 Prozent. In den Ländern südlich der Sahara wie beispielsweise Ruanda sind es 2,2 Prozent, in Ghana 4,3 Prozent. "Das Risiko, an einer schweren COVID-19-Infektion zu erkranken, steigt exponentiell mit dem Alter", sagt Professor Kristan Schneider, Mathematiker an der Hochschule Mittweida, der weltweit zur Ausbreitung der Corona-Pandemie forscht.
Douglas Perkins, Professor für Gesundheitsforschung an der Universität in New Mexiko und Leiter eines Forschungsprogramms über Kenia, verdeutlicht den Unterschied mit einem weiteren Vergleich: Die durchschnittliche Lebenserwartung betrage in den USA 78,8 Jahre und in Deutschland 80,9 Jahre. In Kenia dagegen seien es nur 66,7 Jahre.
"Da Begleiterkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und Bluthochdruck mit zunehmendem Alter auftreten, weisen Populationen mit einem höheren Altersdurchschnitt eine erhöhte Anfälligkeit für schwere COVID-19-Verläufe und Mortalität auf."
Neben dem Altersdurchschnitt gibt es laut Perkins aber noch einen weiteren möglichen Grund für die geringen Todeszahlen in Afrika: So gehe man davon aus, dass frühere Einflüsse entzündungsfördernder Krankheitserreger wie Malaria oder anderer Parasiten das Immunsystem darauf konditioniert hätten, besser mit Coronaviren klarzukommen und starke Entzündungsreaktionen zu vermeiden.
Kaum Corona-Testkapazitäten in Afrika
Die Angaben über gemäßigtere Pandemie-Verläufe sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Das Problem: "Es gibt in vielen Ländern Afrikas keine ausreichenden Testkapazitäten, um eine genaue Corona-Lage widerspiegeln zu können", sagt Mathematiker Schneider, der in den vergangenen zwei Jahren häufig in den Ländern des Südens unterwegs war.
"Einige Todesfälle im Zusammenhang mit Covid wurden möglicherweise nicht ordnungsgemäß gemeldet, insbesondere bei älteren Menschen, die in den Dörfern leben, was in Kenia immer noch üblich ist", sagt auch Douglas Perkins.
Patienten in den ländlichen Regionen könnten aufgrund von Transportproblemen und Entfernung keine Krankenhausversorgung in Anspruch nehmen. "In solchen Regionen können auch nur begrenzte Tests durchgeführt werden, um zu definieren, ob die Patienten positiv sind."
Untersuchungen zeigen aber, dass zumindest die Infektionszahlen in einigen Ländern Afrikas höher als in Europa gewesen sein dürften. So hat der Wissenschaftler Gordon Awandare von der Universität Ghana sogenannte Seroprävalenz-Studien an öffentlichen Orten in Ghana, Burkina Faso und Nigeria durchgeführt.
Bei diesen Tests wird im Blut anhand von Antikörpern festgestellt, ob eine Person in der jüngsten Vergangenheit mit Corona infiziert war. "Der Anteil seropositiver Menschen in den getesteten Gruppen lag nach der Omikron-Welle an manchen Orten bei bis zu 80 Prozent", sagt Awandare, der auch Direktor des Westafrikanischen Zentrums für Zellbiologie infektiöser Krankheitserreger (WACCBIP) ist.
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Verspätete Lieferung hat Impfskepsis verstärkt
Mit ein Grund: Die verspätete Impfstoffversorung. Für die Verteilung von Vakzinen in Afrika verantwortlich ist die COVAX-Initiative, ein Zusammenschluss von 190 Ländern, Impfstoffherstellern und internationalen Organisationen.
Sie wird vor allem durch institutionelle und private Spenden finanziert. Doch trotz dieser globalen Initiative fehlte es gerade in Afrika anfangs flächendeckend an ausreichenden Impfdosen.
"Die Covid-Impfstoffsituation in Afrika ist ein Fall verpasster Gelegenheiten. Als der Kontinent die Impfstoffe benötigte, wurden die Lieferungen nicht bereitgestellt. Jetzt haben wir in Afrika einige Impfstoffe zur Verfügung, aber leider hat die Impfskepsis stark zugenommen", sagt Gordon Awandare.
Die zögerliche Impfstoffversorgung habe dazu geführt, dass die Menschen mit der Zeit gelernt hätten, mit dem Virus zu leben. "Das wurde durch die Omikron-Welle begünstigt, die dazu beigetragen hat, die irrigen Argumente einiger Impfgegner zu untermauern, dass das Virus nicht lebensbedrohlich sei und Impfungen deshalb nicht nötig."
Kein Zusammenhang zwischen politischer Stabilität und Impfquote
Das Zögern des Nordens entschuldigen will Kristan Schneider nicht, nennt aber mögliche Bewegründe. Neben dem Altersdurchschnitt sei ein weiterer Grund der Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen.
"In Deutschland kommen ältere Menschen oft in Pflegeheime. Ist das Virus einmal in so einem Heim, ist es gefährlich, weil dort viele alte Menschen auf engem Raum leben. In vielen afrikanischen Ländern gehen die Alten zurück in die Dörfer, wo sie mit ihren Familien in besser belüfteten Häusern wohnen."
Auch für die Impfskepsis in vielen afrikanischen Ländern gibt es mehrere Gründe, die allerdings schwer zu ergründen sind. So haben aufstrebende, stabile Länder wie Ghana und Ruanda völlig unterschiedliche Impfquoten.
"Für mich scheint es deshalb keinen Zusammenhang mit politischer Stabilität zu geben", sagt Schneider.
Der Sudan sei derzeit instabil und die Impfquote niedrig. Allerdings steige sie seit Anfang des Jahres stark, die Impfskepsis sei geringer. In Kamerun sei die politische Lage viel weniger angespannt als im Sudan, die Impfquote ähnlich niedrig, aber die Impfskepsis viel größer.
"Aus meiner Erfahrung weiß ich nur, wie vielfältig Afrika ist und wie unterschiedlich alle Länder sind - und im Fall von Kamerun, wie unterschiedlich die Mentalitäten innerhalb eines Landes sein können", sagt der Wissenschaftler.
Entwicklungsländer holen auf
Mittlerweile ist in Afrika mehr Impfstoff vorhanden, als verbraucht werden kann. Das Hauptproblem in vielen Ländern ist im Moment die mangelnde Infrastruktur zur Verteilung.
Impfstoffhersteller wie Biontech/Pfizer und Moderna wollen eigene Produktionsstätten in Afrika aufbauen - darunter in Ruanda und Senegal. Zudem gibt es Lizenzvereinbarungen mit Produktionsbetrieben auf dem Kontinent.
Eine komplette Freigabe der Lizenzen wird es allerdings nicht geben. Das hatten Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation WTO gefordert. In ihrem Antrag bitten sie das Aussetzen bestimmter Aspekte des Patentschutzes bis zum Ende der Pandemie, damit schneller günstigere Impfstoffe für alle Länder hergestellt werden können.
Mehr als 100 Nationen befürworten den Vorstoß, die reichen Industrienationen blockieren ihn. Sie hatten mit enormen Steuermitteln in die Impfstoff-Forschung investiert und sicherten sich gleichzeitig über Verträge Milliarden Impfdosen für die eigene Bevölkerung.
Auch unter Scholz-Regierung keine Lizenzfreigabe der Impfpatente
Auch die deutsche Bundesregierung hat sich gegen eine Freigabe der Lizenzen entschieden. Kanzler Olaf Scholz sagte dazu kürzlich auf einem Gipfel zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union in Brüssel. "Es geht ja darum, dass wir den großen Fortschritt, der zum Beispiel mit der Entwicklung der mRNA-Technologie verbunden ist, jetzt nicht verspielen", so Scholz.
Dieser Fortschritt habe auch etwas damit zu tun, dass Eigentumsrechte gewahrt blieben.
Die beiden Unternehmen Biontech und Moderna haben sich bislang nicht auf die Anfrage der Redaktion geäußert, wie sie zu einer Freigabe ihrer Patente stehen.
Eigene Impfstoff-Forschung wird aufgebaut
Die afrikanischen Länder entwickeln nun ihre eigenen mRNA-Impfstoffe - größtenteils ohne fremde Hilfe. In einem Radiobeitrag des Deutschlandfunks wird in diesem Zusammenhang die Firma "Afrigen Biologics and Vaccines" aus Kapstadt in Südafrika vorgestellt, in der 40 Mitarbeiter an dieser Technologie forschen.
Die Firma ist Teil eines internationalen Konsortiums aus Impfstoff-Herstellern, Universitäten, Experten für Lizenz- und Zulassungsfragen sowie der Afrikanischen Union. Die WHO unterstützt die Initiative. Tests eines eigenen afrikanischen Impfstoffes könnten demnach im Herbst starten.
Die in Afrika entwickelten Vakzine sollen später mit vielen Ländern geteilt werden. Martin Friede, der bei der WHO zuständig für Impfforschung ist, erklärt dazu: "Die Impfstoffe sollen zuerst mit Ländern in Afrika geteilt werden, danach auch mit solchen in Lateinamerika, Südostasien und dem Mittleren Osten. Bereits vierzig Länder haben Interesse an der Technologie bekundet."
Norden findet Initiative aus dem Süden befremdlich
Offenbar trifft die Impfstoff-Initiative des Südens im Norden auf wenige Gegenliebe. Laut eines Artikels im British Medical Journal soll eine von Biontech beauftragte Lobbyorganisation namens "Kenup Foundation" auf afrikanische Pharmaunternehmen Druck ausüben, falls sie sich an der Entwicklung eines patentlosen WHO-Impfstoffs beteiligen.
Anna Marriott von der Hilfsorganisation Oxfam zeigt sich schockiert über das Vorgehen. "Sollten sich die Berichte bewahrheiten, wäre es skrupellos, dass sich Unternehmen wie Biontech, die Milliarden gemacht haben mit diesen öffentlich subventionierten Impfstoffen, nicht nur weigern, ihre Impfstofftechnologien mit der WHO zu teilen. Wie jetzt berichtet wird, untergraben sie sogar noch die Bemühungen der WHO, in Partnerschaft mit Herstellern aus einkommensschwächeren Ländern mRNA-Vakzine zu entwickeln."
Verwendete Quellen:
- Forderung der Weltgesundheitsorganisation: 70 Prozent der Weltbevölkerung soll Mitte 2022 geimpft sein
- Impfquoten weltweit auf der Seite "Our World in Data"
- Amnesty International: "Verteilung der Impfstoffe der Welt ist eine humanitäre Katastrophe"
- Afrikanische Länder arbeiten an eigenen Corona-Impfstoffen, Sendung im Deutschlandfunk
- Kristan Schneider, Professor für Modellbildung und Simulation von der Hochschule Mittweida
- Professor Douglas Jay Perkings, Direktor des Centers of Global Health an der Universität von New Mexico und der Universität Siaya in Kenia:
- Professor Gordon Akanzuwine Awandare forscht an der Universität von Ghana und ist Direktor des Westafrikanischen Zentrums für Zellbiologie infektiöser Krankheitserreger (WACCBIP)
- Artikel des British Medical Journal (BMJ) über die Einflussnahme der Pharmalobby auf die selbstständige Impfstoffentwicklung in Afrika
- Oxfam-Pressemitteilung: Pharmalobby untergräbt Impfstoff-Initiative der WHO
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