Die Covid-19-Krise hat die Philippinen schwer getroffen. Das Gesundheitssystem ist schwach, der Lockdown schadet vor allem den Armen. Und der Präsident nutzt die Unsicherheit, um gegen Journalisten und Aktivisten vorzugehen.
Ausgangssperren, geschlossene Schulen, kein Nahverkehr – und ein Präsident, der mit der Erschießung von Menschen droht, die aus Hunger und Verzweiflung ihre Hütten verlassen: Auf den Philippinen herrschte wegen des Coronavirus zeitweise ein besonders strenger und langer Lockdown.
Trotzdem ist die Lage auf dem südostasiatischen Archipel verheerend. Die Johns Hopkins University meldet inzwischen knapp 270.000 Infizierte und 4.663 Tote (Stand: 16. September).
Hohe Armut, marodes Gesundheitssystem
"Viele Filipinos leben unterhalb der Armutsgrenze und auf sehr engem Raum zusammen, teilweise wohnen ganze Familien auf zwölf Quadratmetern", berichtet Mirjam Overhoff. Sie ist Geschäftsführerin des "philippinenbüros" in Köln, eines unabhängigen, soziopolitischen Informationszentrums. In einer solchen Situation berge ein absolutes Ausgangsverbot ein gefährliches Potenzial. Die Politik habe zwar schnell und streng gehandelt – aber nicht effektiv, kritisiert die Expertin: "Sie hat die Wohnverhältnisse dabei nicht beachtet."
Dass die Philippinen so stark unter Corona leiden, liegt auch am maroden Gesundheitssystem. Es gibt keine gesetzliche Krankenversicherung, erklärt die Sozialwissenschaftlerin. "Viele Menschen sind erst gar nicht versichert, weil die privaten Anbieter zu teuer für sie sind." Die horrenden Krankenhauskosten für eine Covid-19-Behandlung können sich viele Menschen schlichtweg nicht leisten.
Für die arme Bevölkerung war der strenge Lockdown eine extreme Belastungsprobe, sagt Overhoff. Viele Menschen konnten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen – und auch die Rücküberweisungen aus dem Ausland seien durch Corona zurückgegangen. Etwa ein Zehntel der philippinischen Bevölkerung lebt in anderen Ländern, viele unterstützen die Familie zu Hause finanziell.
Augenzeugenbericht aus Manila
ARD-Korrespondent Holger Senzel berichtet Mitte August für die Tagesschau aus Manila: von Polizisten in Tarnanzügen und mit Sturmgewehren, die Menschen in ihre Hütten scheuchen, sie teilweise festnehmen. Zwei sollen erschossen worden sein.
Viele Menschen leben hier etwa eigentlich davon, Müll zu sammeln, Waren auf der Straße zu verkaufen oder Transporte anzubieten. Manche von ihnen müssen nun ihre Geschäftsgrundlage –kleine Busse, Autos oder Fahrräder – verkaufen, um sich überhaupt Lebensmittel leisten zu können.
Auch die Arbeitsmarkt-Zahlen sind erschreckend: 7,3 Millionen Filipinos haben Senzel zufolge ihren Job verloren, bis Ende des Jahres könnte die Zahl auf mehr als zehn Millionen ansteigen.
Stärkster BIP-Rückgang seit fast 40 Jahren
Die wirtschaftliche Lage sieht düster aus: Im Mai gingen die geschäftlichen Aktivitäten in den Philippinen nach Angaben von Germany Trade & Invest insgesamt um 75 Prozent zurück. Im zweiten Quartal brach das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 16,5 Prozent ein – das ist der stärkste Rückgang seit fast 40 Jahren, vermeldet die Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing der Bundesrepublik Deutschland.
Die Experten bleiben vage optimistisch: "Die Prognosen für die BIP-Entwicklung 2021 sehen mit einem Wachstum von sechs bis neun Prozent schon wieder deutlich positiver aus." Die meisten von ihnen erwarten eine V-förmige Erholung der philippinischen Wirtschaft.
Sorge um Pressefreiheit und Regierungskritiker
Große Sorgen machen sich Beobachter indes um die politische Lage im Land: Präsident Rodrigo Duterte hat den Lockdown auch genutzt, um Gesetze durchs Parlament zu bringen, berichtet Overhoff: Damit sei etwa die Pressefreiheit eingeschränkt worden.
Das größte TV- und Radio-Netzwerk ABS-CBN, das auch regierungskritisch berichtete, verlor seine Sendelizenz. Andere Journalisten werden verklagt und bedroht, wie etwa Maria Ressa, die nahezu zwei Jahrzehnte lang leitende Investigativreporterin für den US-Sender CNN in Südostasien war und Chefredakteurin des regierungskritischen Nachrichtenportals Rappler ist.
Zudem wurde Anfang Juli ein Anti-Terrorgesetz verabschiedet. "Damit kann jeder Regierungskritiker jetzt problemlos als Terrorist gebrandmarkt werden, schnelle Verhaftungen sind möglich", erklärt Overhoff. Mitte August wurde die Menschenrechtsaktivistin Zara Alvarez in der Stadt Bacolod City erschossen.
"Das wäre ohne Corona so nicht möglich gewesen", glaubt die Leiterin des Informationszentrums. "Weil unter normalen Umständen viel mehr Menschen, also potenzielle Zeugen, auf der Straße unterwegs gewesen wären."
Hoffnung auf russischen Impfstoff?
In Sachen Corona setzt Duterte derweil auf den umstrittenen russischen Corona-Impfstoff. "Ich werde der erste sein, der sich impfen lässt, wenn das Serum eintrifft. Und wenn es bei mir wirkt, dann ist es für alle gut", sagte der Präsident.
Bei der problematischen medizinischen Versorgung im Land bliebe jedoch auch bei einem wirksamen Impfstoff die Frage, wer in der Bevölkerung Zugang dazu bekommt.
Mirjam Overhoff bewertet Dutertes Interesse am Impfstoff sehr zurückhaltend. Der Präsident äußere sich oftmals sehr polemisch, es sei schwer einzuordnen, welche Aussagen wirklich ernstzunehmen sind. Nachdem sich medizinische Organisationen in einem offenen Brief kritisch an den Präsidenten gewandt hatten, drohte er einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung zufolge Anfang August in einer TV-Ansprache sogar, Corona-Infizierte zu töten: "Ihr wollt eine Revolution? Dann sagt es. Versucht es nur. Wir machen alles zunichte. Wir töten alle, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Mirjam Overhoff
- Germany Trade & Invest: Auswirkungen des Coronavirus auf die Wirtschaft spürbar
- Tagesschau.de: Lockdown auf den Philippinen - "Wenn wir zu Hause bleiben, verhungern wir"
- Philippinen - Zahlen der Johns Hopkins University
- Pressemitteilung des philippinenbüros zum Tod von Zara Alvarez
- Nzz.ch: "Wir können nicht mehr!"
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