Am frühen Morgen des 28. September 1994 sank die Ostseefähre "Estonia" bei stürmischem Wind vor der finnischen Insel Üto. 852 Menschen verloren dabei ihr Leben. Offiziell geht man davon aus, dass technische Mängel zu dem Unfall geführt haben. Offiziell.
Die "Estonia" war zu ihrer Zeit das größte und modernste Reiseschiff Estlands und wurde auf der Route zwischen Stockholm in Schweden und Tallinn in Estland eingesetzt. In der Nacht auf den 28. September 1994 war die "Estonia" auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm, als sie, etwa auf halber Strecke, während eines schweren Sturms vor der finnischen Südküste unterging.
An Bord waren 989 Menschen, 852 kamen bei dem Unglück ums Leben. Die meisten von ihnen waren unter Deck gefangen, als das Schiff sank.
Nur 94 Leichen konnten geborgen werden, mehr als 750 Verunglückte liegen zusammen mit dem Schiffswrack noch immer auf dem Grund der Ostsee.
Wie konnte es zum Untergang kommen?
Zum Unglückshergang und seiner Ursache gibt es seitdem viele Theorien. Offiziell geht man von einem Konstruktionsfehler am Schiff aus, der dazu geführt hat, dass Wasser in den Bug eindringen konnte.
Doch nicht alle glauben an einen Unfall. Einige Stimmen behaupten bis heute, dass die Behörden die Ursache des Untergangs bewusst verschleiert haben könnten. Sie vermuten, dass der Untergang der "Estonia" auf eine Straftat, etwa einen Anschlag oder eine Kollision, zurückzuführen ist. Ob es tatsächlich Schuldige für die Katastrophe gibt, wurde bisher aber nicht bewiesen.
Was beim Untergang der "Estonia" geschah
Die Geschehnisse der Nacht konnten durch Aussagen von Überlebenden und Aufzeichnungen des Funkverkehrs zum Teil rekonstruiert werden. Folgendes ist bekannt:
- 27. September 1994, 19:17 Uhr: Die "Estonia" legt in Tallinn ab.
- 28. September 1994, 00:55 Uhr: Ein lauter, metallischer Schlag ist auf der Fähre zu hören.
- Kurz nach 01:00 Uhr: Wasser dringt in den Bug des Schiffes ein.
- Gegen 1:15 Uhr: Das Bugvisier bricht weg und das Schiff beginnt zu sinken.
- 01:22 Uhr: Der erste Notruf "Mayday" wird gesendet.
- 01:29 Uhr: Der Funkkontakt zu umliegenden Schiffen bricht ab. Die Fähre sinkt innerhalb kürzester Zeit.
Verkettung unglücklicher Umstände erschwert Aufarbeitung
Auch 30 Jahre nach dem Untergang der "Estonia" gibt das Schiffsunglück Rätsel auf. Grund dafür ist eine Verkettung diverser Umstände: Sie macht Sachlage derart komplex, dass es kaum möglich ist, die Dinge klar einzuordnen oder gar Schuldige zu benennen.
Im offiziellen Untersuchungsbericht von 1997 heißt es, das abgerissene Bugvisier habe den Untergang der "Estonia" verursacht. Ein Konstruktionsfehler am Schiff soll dazu geführt haben. Das Gutachten wurde allerdings von vielen Menschen kritisiert. Vor allem Hinterbliebene empfanden die staatlichen Untersuchungen Ende der 1990er Jahre als nicht ausreichend.
Andere Untersuchungen, etwa jene der Hamburgischen Schiffsbauversuchsanstalt (HSVA) und der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH), kamen zu dem Ergebnis, dass das Bugvisier aufgrund von Überlastung und schlechter Wartung abfiel.
Zudem sollen neben technischer Defekte unvorsichtige Manöver der Besatzung dazu beigetragen haben, dass die Fähre schneller sank. Hinzu kamen unter anderem Kommunikationsprobleme beim Melden des Notrufes in der Unglücksnacht. Diese trugen dazu bei, dass die Lage nicht ernst genommen wurde und die Position der "Estonia" nicht sicher ausgemacht werden konnte.
"Estonia" hätte nicht auf dem Meer eingesetzt werden dürfen
Ein weiterer Punkt, der Fragen aufwirft: Das als Ostseefähre eingesetzte Schiff war 1980 von der deutschen Meyer-Werft als Schiff für den küstennahen Einsatz erbaut worden und gar nicht für Fahrten auf dem offenen Meer vorgesehen.
Nach einem Reedereiwechsel prüfte die finnische Aufsichtsbehörde die Schiffszulassung wohl nicht genau genug und erteilte doch eine Zulassung für das offene Meer. Ab 1993 wurde das zu "Estonia" (Englisch für "Estland") umgetaufte Schiff dann für die Zusammenarbeit schwedischer und estnischer Reedereien in der Ostsee eingesetzt.
Verschwörungstheorien verbreiteten sich
Diese Umstände liefern seit Jahren einen Nährboden für Spekulationen. Kaum eine andere Katastrophe hat so viele Ermittlungen, Spekulationen und Kommissionen nach sich gezogen wie der Untergang der "Estonia".
Was die Debatten zudem schürte: 1995, im Jahr nach dem Unglück, wurde per internationalem Abkommen entschieden, dass das Wrack und die zahlreichen Leichen nicht geborgen werden sollten. Stattdessen wurde das Unglücksgebiet zu einer Schutzzone erklärt.
Das Gebiet darf seitdem nicht mehr aufgesucht werden. Es konnten also keine weiteren Untersuchungen vor Ort vorgenommen werden und die Verstorbenen blieben auf dem Meeresgrund zurück.
Daraufhin verbreiteten sich Verschwörungstheorien. Einige behaupteten, ein Bombenanschlag oder ein Zusammenstoß mit einem U-Boot hätten den Untergang verursacht. Auch über den Schmuggel von Waffen auf der Fähre wurde spekuliert.
Bis heute beschäftigen sich Gerichte immer wieder mit dem Schiffsunglück. Im Juli 2019 wies zuletzt ein französisches Gericht eine Entschädigungsklage ab, da bis heute keine vorsätzliche Straftat, die mit dem Untergang in Zusammenhang steht, nachgewiesen werden konnte.
2020 wurde eine neue Untersuchungskommission eingesetzt
Vor vier Jahren ließen neue Erkenntnisse den Fall noch einmal aufleben. Im Herbst 2020 wurde eine TV-Dokumentation mit neuen Filmaufnahmen veröffentlicht. Die Unterwasserbilder eines Tauchroboters zeigten ein bisher nicht bekanntes Loch am Bug des Schiffes. Daraufhin wurde die offizielle Unglücksursache abermals infrage gestellt und neue Untersuchungen gefordert. Die Verantwortlichen der Dokumentation wurden für das unerlaubte Filmen im Schutzgebiet verurteilt.
Die schwedische Staatsanwaltschaft prüfte aufgrund dieser neuen Informationen, ob das 1997 eingestellte Verfahren wieder aufgenommen werden sollte. Sie kam aber zu dem Ergebnis, dass es keine Hinweise für eine mögliche Straftat gebe, weder für eine mögliche Kollision mit einem anderen Schiff noch für eine Bombenexplosion an Bord.
Anfang 2024 teilte die schwedische Staatsanwaltschaft mit, dass die bisherigen Resultate durch die neuen Erkenntnisse nicht infrage gestellt würden und die Ermittlungen entsprechend eingestellt würden. Die Akte "Estonia" ist somit fürs erste wieder geschlossen.
Verwendete Quellen
- ndr.de: "Estonia": Schwedens Staatsanwaltschaft ermitteln nicht weiter
- ndr.de: "Estonia"-Unglück gibt viele Rätsel auf
- tagesschau.de: Ermittler finden keine Hinweise auf Explosion
- sz.de: Unsichere Gewässer
- Neue Zürcher Zeitung: 30 Jahre nach dem Untergang der «Estonia» wird noch immer über dunkle Geheimnisse in der Tiefe der Ostsee spekuliert – auch wenn es dafür keinen Grund gibt
- deutschlandfunk.de: Größtes Unglück der zivilen Seefahrt nach 1945
- faz.net: Neue Erkenntnisse zu "Estonia"-Untergang
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