Derzeit gelten rund 1.800 Kinder in Deutschland als vermisst. Könnten es weniger sein, wenn sich Deutschland an den technischen Möglichkeiten anderer Länder orientieren würde? Ein Experte gibt Antworten.
22. April 2024: Der sechs Jahre alte Arian verlässt sein Elternhaus in Bremervörde und verschwindet. Die Suche nach dem autistischen Jungen zieht sich über Wochen – erfolglos. Im Juni wird seine Leiche auf einem Feld gefunden.
Zeitsprung ins Jahr 2015: Ein Mann läuft durch Berlin. In der einen Hand hält er einen Teddybären, an der anderen läuft ein kleiner Junge. Bei dem Kind handelt es sich um den vierjährigen Mohamed, bei dem Mann um seinen Entführer und späteren Mörder.
Obwohl Silvio S. den Jungen am hellichten Tag in Berlin entführt, wird niemand auf die beiden aufmerksam. Wie auch? Die Situation scheint auf den ersten Blick nicht bedrohlich. Die Passanten wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ein Kind vermisst wird.
Cell Broadcast: Mobilfunktechnologie, die Leben retten kann
In solchen Fällen zählt jede Minute. Das weiß auch die Polizei – dennoch schöpft sie derzeit noch nicht alle Möglichkeiten aus, um bei vermissten Kindern noch schneller und vor allem gezielter zu reagieren.
Lars Bruhns, Vorstand der Initiative Vermisste Kinder aus Hamburg, fordert bereits seit Jahren die Einführung und Nutzung von Cell Boadcast.
Cell Broadcast ist eine Technologie zur Übertragung von Nachrichten an Mobilgeräte in einem bestimmten Gebiet. Droht Gefahr, werden alle in umliegenden Funkzellen eingeloggten Mobilfunkgeräte alarmiert. Es ist nur Behörden möglich, diese Warnungen zu verschicken.
Die Technologie ist im weitesten Sinne vergleichbar mit einem Radiosender: Informationen werden "nach draußen" gesendet, jedoch hat der Absender keine Informationen zu den Empfängern – daher ist die Technologie datenschutzkonform. Lediglich der Radius des eigenen Sendegebiets ist bekannt.
Cell Broadcast ergänzt erst seit Februar 2023 die in Deutschland gängigen Warnmittel. Anlass für die Einführung war die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021. Das Warnsystem wird seither bei Naturkatastrophen oder Gefahrenlagen verwendet – allerdings nicht, um die Bevölkerung auf Vermisstenfälle von Kindern in der unmittelbaren Umgebung aufmerksam zu machen. Doch warum eigentlich nicht?
Nachbarländer machen es vor, Deutschland zieht (noch) nicht nach
Das fragt sich auch Lars Bruhns. Seine Idee, Cell Broadcast auch bei der Suche nach vermissten Kindern zu nutzen, ist schließlich nicht neu.
In den USA gibt es beispielsweise den sogenannten "Amber Alert", der die Bevölkerung umgehend darüber in Kenntnis setzt, wenn in der Nähe ein Kind verschwunden ist. Seit der Einführung im Jahr 1996 konnten mit seiner Hilfe bereits mehr als 1.200 vermisste Kinder (Stand: 31. Dezember 2023) gefunden oder aus Gefahrensituationen gerettet werden.
Auch in Frankreich, Polen, Luxemburg und den Niederlanden werden Menschen im entsprechenden Umkreis bereits über aktuelle Vermisstenmeldungen informiert, teilweise über Cell Broadcast oder entsprechende Warn-Apps.
Deutschland hinkt im Vergleich hinterher. Für Bruhns ist das schwer nachzuvollziehen. "Es geht hier weder um große finanzielle Mittel noch um technische Dinge, die man jetzt erfinden müsste, es ist ja alles schon da", erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion. "In manchen Vermisstenfällen könnte man wahrscheinlich ganz Deutschland plakatieren und dennoch keinen entscheidenden Hinweis bekommen, weil am Ende vielleicht nur eine einzige Person etwas gesehen hat. Und die weiß vielleicht noch nicht mal, dass diese Szene von Bedeutung war."
Wäre diese Person jedoch mittels Nachricht auf dem Smartphone zeitnah auf den Vermisstenfall aufmerksam gemacht worden, hätte die Polizei womöglich direkt zu Beginn der Suche zielführende Informationen erhalten.
Vor- und Nachteile von Social Media und "Aktenzeichen XY"
Um bei der Suche nach vermissten Kindern und Jugendlichen zu unterstützen, gibt es in Deutschland laut Bruhns noch weitere bisher nicht genutzte Möglichkeiten: "Es wäre zum Beispiel sehr hilfreich, wenn ein akuter Vermisstenfall nicht bis zum nächsten fixen Sendetermin von 'Aktenzeichen XY' warten müsste. Da würde ich mir wünschen, dass Rudi Cerne noch am selben Abend auf Sendung geht – vielleicht auch erstmal nur in einem Online-Format."
Auch Suchaufrufe auf Facebook, Instagram und TikTok hält Bruhns für sinnvoll, sieht jedoch in der enormen Reichweite der Postings mitunter eine Herausforderung. "Man braucht meist nicht die Aufmerksamkeit von ganz Deutschland, sondern eventuell erstmal nur von München oder vielleicht nur von einem Stadtteil von München", erklärt er. Jeder Hinweis, der bei der Polizei eingeht, müsse schließlich abgearbeitet werden und binde Ressourcen. Aus diesem Grund sei die regionale Eingrenzung gerade am Anfang eines Vermisstenfalls wichtig, um zielführend zu ermitteln.
Kind vermisst: Expertentipps für den Ernstfall
Was aber können Eltern konkret tun, wenn das eigene Kind plötzlich verschwunden ist? Eine Horrorvorstellung – doch gerade deswegen ist es wichtig zu wissen, wie man in einer solchen Ausnahmesituation reagieren sollte und was es zu unterlassen gilt.
Bruhns rät dazu, möglichst wenig Zeit zu verlieren und bereits nach einer kurzen Suche in der unmittelbaren Umgebung die Polizei zu kontaktieren. Sein Appell an betroffene Eltern: "Bitte bloß nicht denken, dass man bei einem vermissten Kind erst irgendeine Wartezeit verstreichen lassen oder unendlich lange zu Hause selber suchen muss."
Folgende Informationen sollten Eltern in einem Vermisstenfall für die Polizei bereithalten:
- Eine aktuelle Beschreibung des Kindes (Name, Alter, Größe, Haarfarbe, Kleidung zum Zeitpunkt des Verschwindens etc.)
- Ein aktuelles Foto
- Informationen zu den letzten bekannten Aufenthaltsorten
Nachdem die Polizei über den Vermisstenfall informiert worden ist, können Betroffene anschließend die Hotline für vermisste Kinder (116 000) anrufen. Hier erhalten Eltern Unterstützung in Form von emotionalem Beistand, Hilfe bei der Bewältigung der Wartezeit sowie rechtlicher und behördlicher Beratung.
Besonders wichtig während dieser Zeit ist die durchgehende Erreichbarkeit der Eltern, insbesondere für den Fall, dass das Kind gefunden wird oder neue Informationen eintreffen. Weiterhin sollte sichergestellt sein, dass zu jedem Zeitpunkt jemand im Elternhaus anzutreffen ist, falls das Kind selbstständig nach Hause kommt.
So können Sie Ihr Kind für den Ernstfall sensibilisieren
Um etwaigen Gefahrenlagen vorzubeugen, empfiehlt es sich laut Bruhns, mit dem Nachwuchs über ungewöhnliche Situationen zu sprechen: Wie sollte das Kind reagieren, wenn es von einem Fremden angesprochen wird – oder er es in sein Auto locken will?
Derartige Begegnungen könne man, dem Alter entsprechend, zuhause als Rollenspiel durchgehen und das Kind dabei ermutigen, in solchen Situationen laut um Hilfe zu rufen: "Entführer erhoffen sich in vielen Fällen, das Kind mit einer Fantasiegeschichte unbemerkt weglocken zu können", sagt Bruhns. "Sie rechnen oft nicht damit, dass das Kind plötzlich laut reagiert und eine deutliche Abwehrhaltung zeigt. Das kann in solchen Momenten enorm viel bewirken."
Kind vermisst: Wie man reagieren sollte – und wie nicht
Ein weiterer Tipp: Statt der 110 sollten Kinder im Notfall besser die 112 wählen. Bei der 112 handelt es sich um eine europaweit funktionierende und kostenlose Notrufnummer, bei der man automatisch mit der nächstgelegenen Leitstelle verbunden wird. Außerdem ist es möglich, 112-Notrufe für eine schnellere Hilfeleistung zu orten – eine Funktion, die bei Anrufen unter der 110 aufgrund rechtlicher Probleme nicht erlaubt ist. Eine schnelle Ortung kann jedoch gerade bei vermissten Kindern entscheidend sein, ist doch nicht jedes Kind in der Lage, am Telefon genaue Angaben zu machen, wo es sich befindet und was genau passiert ist.
Was es laut Bruhns indes dringend zu vermeiden gilt: "Gerade auf dem Land gibt es bei einem Vermisstenfall oft sehr viel Engagement von allen Seiten. Einen eigenen Suchtrupp zu organisieren oder eine Art eigene Leitstelle für neue Informationen zu gründen, kann zum einen die Arbeit der Polizei torpedieren und zum anderen natürlich auch wichtige Hinweise zerstören". Wichtig sei vielmehr, regelmäßig Rücksprache mit den Ermittlern zu halten und "ein gewisses Grundvertrauen in die Arbeit der Polizei zu haben".
BKA vermeldet hohe Aufklärungsquote bei vermissten Kindern
Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2023 insgesamt 16.500 Kinder als vermisst gemeldet, knapp 15.800 dieser Fälle konnten im Laufe des Jahres gelöst werden. Die nicht geklärten Vermisstenfälle beinhalten demnach auch Dauerausreißer, Fälle von Kindesentziehung oder unbegleiteter Flüchtlingskinder, die aus ihren Unterbringungseinrichtungen abgängig sind. Betrachtet man die Aufklärungsquote, lag diese laut BKA in den vergangenen sechs Jahren bei 99,8 Prozent.
Eine Quote, die nahelegt, Deutschland bräuchte keine weitere technologische Unterstützung wie Cell Broadcast bei der Suche nach vermissten Kindern. Gäbe es nicht bis heute ungeklärte Fälle wie die von Inga Gehricke, Peggy Knobloch, Hilal Ercan, Deborah Sassen oder Rebecca Reusch.
Oder Fälle, bei denen für vermisste Kinder jede Hilfe zu spät kam. So wie bei Arian und Mohamed.
Über die Person
- Lars Bruhns ist Vorstand der Initiative Vermisste Kinder, einem im Jahr 2008 gegründeten Verein mit Sitz in Hamburg. Der Verein entstand aus einer Initiative betroffener Eltern, die seit 1997 unter dem Namen "Elterninitiative Vermisste Kinder" existierte. Gründerin der Organisation war damals Monika Bruhns. Nach ihrem Tod im Jahr 2005 übernahm ihr Sohn Lars Bruhns die Leitung.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Lars Bruhns von der Initiative Vermisste Kinder
- Bundeskriminalamt: Die polizeiliche Bearbeitung von Vermisstenfällen in Deutschland
- Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Mit Cell Broadcast: Warnung direkt aufs Handy
- 116000.missingchildren.ch: Was ist die 116 000 Hotline?
- bundeskanzleramt.gv.at: Europäischer Notruf 112 – eine einheitliche Telefonnummer für Europa
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